In diesen Tagen gehört es in den Medien fast schon zum guten Ton, zu beklagen, dass die Welt „aus den Fugen“ geraten sei. Doch das ist sie aus Sicht der Bevölkerung keineswegs.

Zu den Seltsamkeiten unserer Medienwelt gehört eine – wie mir scheinen will: zunehmende – Vergesslichkeit, die dazu führt, dass auch Ereignisse von mittlerer Bedeutung mit dem Etikett „noch nie dagewesen“ versehen werden. Dabei müsste man in den meisten Fällen lediglich ein, zwei Jahre zurückschauen, um festzustellen, dass das nicht stimmt. So wird jede zweite größere Überschwemmung zur „Jahrhundertflut“, jede politische Krise zur vermeintlichen Epochenwende.

In diesen Tagen, zum Jahreswechsel, wird dies besonders deutlich. Verfolgt man die Jahresrückblicke und Kommentare, kann man den Eindruck gewinnen, das Jahr 2016 werde als Annus Horribilis in die Geschichte eingehen. Die Welt, so die Standardformulierung, sei aus den Fugen geraten. Natürlich ist die Entscheidung der britischen Bevölkerung, die Europäische Union zu verlassen, ein schwerer Einschnitt. Doch ist er wirklich schwerer als das Scheitern der EVG in der Französischen Nationalversammlung 1954 oder der Rückzug Frankreichs aus der NATO 1966? Beides hat die westliche Welt nicht zum Einsturz gebracht. Die Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten ist in der Tat ein bemerkenswerter und Besorgnis erregender Vorgang. Doch es ist nicht die erste seltsame Wahlentscheidung der Amerikaner (man denke nur an Richard Nixon) und es wird auch nicht die letzte sein. Hört man den Kommentatoren deutscher Rundfunksender zu, könnte man aber glauben, sie sei der Anfang vom Ende der Welt.

Und der Terroranschlag in Berlin? Das war in der Tat der erste islamistische Anschlag in Deutschland dieser Größenordnung, aber keineswegs der erste überhaupt. Und die Zahl der Opfer war glücklicherweise wesentlich kleiner als in Paris ein Jahr zuvor. In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sind Attentate mit Dutzenden Opfern auch keine Neuigkeit: Bei dem Oktoberfest-Attentat 1980 kamen 13 Menschen ums Leben, 211 wurden verletzt, 68 davon schwer.

Aber sind nicht in diesem Jahr so viele berühmte Menschen aus Politik und Unterhaltungsindustrie gestorben? Hans Dietrich Genscher, Walter Scheel, David Bowie, George Michael? Nun, 2015 sind auch viele berühmte Menschen gestorben, zum Beispiel Richard von Weizsäcker, Helmut Schmidt, B. B. King oder Natalie Cole. Und es gehört nicht viel hellseherische Kraft dazu, vorauszusagen, dass es auch im kommenden Jahr ähnlich viele und ähnlich berühmte Menschen sein werden.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Das sind alles sehr traurige und zum Teil Besorgnis erregende Nachrichten, doch man wird der Sache nicht gerecht, wenn man glaubt, man müsse jede dieser Meldungen mit einem Superlativ belegen.

Vermutlich ist – neben der Sensationslust – ein verständlicher Fehler bei der Einordnung der Ereignisse der Vergangenheit an der Verzerrung der Wahrnehmung der Gegenwart schuld: Zum festen Bestandteil der Klagen über die aktuelle Lage gehört die Behauptung, früher sei die Welt viel übersichtlicher gewesen. Ein Beispiel unter vielen ist ein Kommentar von Kai Küstner heute früh im Deutschlandfunk. Die Welt, sagte er dort, sei bis zum Mauerfall zwar nicht friedlich, aber einfach gewesen. Heute dagegen sei „alles ja so viel komplizierter: Bedrohungen kommen aus mehreren Himmelsrichtungen, siehe Russland, siehe Syrien. Sie kommen von außen genau wie – siehe Terror – von innen.“

Ich halte diese Sichtweise für einen Irrtum. Die Welt der Vergangenheit erscheint uns heute nur deswegen so übersichtlich, weil wir sie im Nachhinein überblicken können. Für die Menschen damals war die Zukunft genau so unsicher wie für uns heute. Auch damals kamen die Bedrohungen aus mehreren Himmelsrichtungen, siehe Russland, siehe Libyen, siehe Iran. Sie kamen von außen genau wie – siehe Terror – von innen. Wer alt genug dafür ist, möge sich nur einmal die Weltuntergangsstimmung der frühen 80er Jahre in Erinnerung rufen („Kampf dem Atomtod“). Im Vergleich dazu leben wir heute geradezu in entspannten Zeiten. Auch das ist ein Beispiel für die Vergesslichkeit der Medien. Hinzu mag die verständliche Neigung vieler Journalisten kommen, die eigene Frustration über das Wahlergebnis in Amerika auf das ganze Land zu projizieren. Vielleicht färbt auch allmählich der Tonfall des Weltuntergangsgeschreis der linken und rechten Radikalen auf die Debatte in der politischen Mitte ab.

In einer solchen Lage kann die Umfrageforschung der öffentlichen Diskussion einen Anker geben. Seit dem Jahr 1949 stellt das Institut für Demoskopie Allensbach jedes Jahr zum Jahresende in einer Bevölkerungsumfrage die Frage „Sehen Sie dem kommenden Jahr mit Hoffnungen oder Befürchtungen entgegen?“ Ursprünglich handelte es sich bei dieser Frage um eine Spielerei. Das Ergebnis wird auf die Neujahrskarten gedruckt, die das Institut an Geschäftspartner und Freunde versendet. Nach und nach stellte sich aber heraus, dass die Antworten auf diese Frage, obwohl sie so vage formuliert ist, sehr aufschlussreich sind. So läst sich beispielsweise aus dem Anteil derjenigen, die sagen, sie sähen dem neuen Jahr mit Hoffnungen entgegen, eine erstaunlich präzise Konjunkturprognose errechnen. Und allgemein zeigt die Frage natürlich den tatsächlichen Grad der Verunsicherung der Bevölkerung, unabhängig von allen alarmistischen Schlagzeilen.

Schaut man sich nun das aktuelle Ergebnis der Frage an, zeigt sich ein ganz anderes Bild als in den Zeitungskommentaren: 46 Prozent der Deutschen sagen im Dezember 2016, dass sie dem kommenden Jahr mit Hoffnungen entgegen sehen. Das ist kein überragend guter Wert, aber auch kein schlechter. Er liegt etwa im Mittelfeld der Ergebnisse der letzten 20 Jahre und spürbar über dem Niveau vom vergangenen Jahr, als unter dem Eindruck der Flüchtlingskrise mit 41 Prozent ein vergleichsweise niedriger Wert erreicht worden war, der allerdings auch immer noch weit von den Tiefpunkten der Jahre 1950 (Korea-Krieg, 27 Prozent Hoffnungen), 1973 (Ölkrise, 30 Prozent) und 2002 (bevorstehender Irak-Krieg, 31 Prozent) entfernt war. Nach den schwierigen Jahren 2015 und 2016 keimt bei der Bevölkerung ein wenig Optimismus. Ja, die Welt ist voller Ungewissheiten und Risiken, aber das war sie eigentlich schon immer. Aus den Fugen ist sie deswegen aus Sicht der meisten Deutschen offensichtlich nicht. Das ist doch eigentlich ein ganz tröstlicher Ausblick auf das neue Jahr.

 

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Thomas Petersen, Projektleiter am Institut für Demoskopie Allensbach, berichtet in der Reihe „Aufzeichnungen eines Erbsenzählers“ in unregelmäßigen Abständen über das Leben als Umfrageforscher. Die gesamte Erbsenzähler-Reihe kann hier nachgelesen werden.