In den Medien kann man oft lesen, es gebe eine gänzlich neue, „postfaktische“ Diskussionskultur. Doch tatsächlich leben wir bereits seit Jahrzehnten im „postfaktischen Zeitalter“.

Vor einigen Wochen wurde „postfaktisch“ von der Gesellschaft für Deutsche Sprache zum Wort des Jahres 2016 erklärt. Ich finde diese Wahl überzeugend, denn es handelt sich in der Tat um ein neues Schlagwort, das fast über Nacht in die gesellschaftliche Diskussion eingeführt wurde und das etwas beschreibt, wofür man bisher keinen prägnanten Begriff hatte.

Seltsam ist dagegen die Begründung für die Wahl. Sie lautet: „Immer größere Bevölkerungsschichten sind in ihrem Widerwillen gegen ‚die da oben’ bereit, Tatsachen zu ignorieren und sogar offensichtliche Lügen bereitwillig zu akzeptieren. Nicht der Anspruch auf Wahrheit, sondern das Aussprechen der ‚gefühlten Wahrheit’ führt im ‚postfaktischen Zeitalter’ zum Erfolg.“

Damit stützt sich die Begründung auf dieselbe Argumentation wie die meisten Verwender dieses Begriffes, doch die ist offensichtlich falsch. Man kann sie günstigstenfalls als Gedächtnisverlust deuten, andernfalls müsste man einen Irreführungsversuch vermuten.

Angst gewinnt immer

An der Beobachtung, die neuerdings mit dem Begriff „postfaktisch“ belegt wird, ist nichts neu, und es spricht nichts dafür, dass das betreffende Phänomen zugenommen hat. Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist gepflastert mit öffentlichen Hysterien, in denen die „gefühlten Wahrheiten“ die tatsächlichen dominierten. Man denke nur an das Waldsterben, die NATO-Nachrüstung, Atomenergie, Gentechnik, den Rinderwahnsinn und weite Teile der Diskussion um soziale Gerechtigkeit. Zu allen diesen Themen konnten schon vor Jahrzehnten Experten stundenlang auf einem Podium sachlich diskutieren. Wenn dann jemand im Publikum aufstand und sagte: „Aber ich habe Angst“, konnten die Experten einpacken.

Der Kernphysiker Heinz Maier-Leibnitz schrieb schon 1987 in dem von ihm mit herausgegebenen Buch „Zweifel am Verstand. Das Irrationale als die neue Moral“, das Ziel einer Argumentation in der öffentlichen Diskussion sei nicht, etwas zu beweisen, sondern das Publikum zu überzeugen (unabhängig von einem tatsächlichen Beweis). „Für den Naturwissenschaftler“, schrieb er, „mag es ein Schock sein, zu erkennen, wie unsicher in Wirklichkeit fast alle Entscheidungen sind, weil die rein rationale Begründung nicht ausreicht. Aber er muss sich darauf einstellen, wenn er nicht auf die Teilnahme an der öffentlichen Diskussion verzichten will.“

Wen interessieren Zahlen und Statistiken?

Das Institut für Demoskopie Allensbach hat schon in den frühen 80er Jahren ein Fragemodell entwickelt, das dieses Phänomen erfasste, und das wie folgt funktioniert: Der Interviewer sagt: „Ich möchte Ihnen jetzt einen Vorfall erzählen, der sich neulich bei einer Podiumsdiskussion über die Sicherheit von Kernkraftwerken ereignet hat. Einige Experten sprachen über die Risiken, den Stand der Forschung und die Sicherheitsvorkehrungen in Kernkraftwerken. Plötzlich springt ein Zuhörer auf und ruft etwas in den Saal.“ Nun übergibt der Interviewer ein Bild, das eine Person im Schattenriss zeigt, die sagt: „Was interessieren mich Zahlen und Statistiken in diesem Zusammenhang. Wie kann man überhaupt so kalt über ein Thema reden, bei dem es um unsere Gesundheit und unser Leben geht?“ Nachdem die Befragten dies gelesen haben, werden sie gefragt: „Würden Sie sagen, er hat ganz recht oder nicht recht?“

Man kann das Modell dieser Frage fast beliebig variieren, das Ergebnis bleibt fast immer das Gleiche: Ob es um Atomenergie, Gentechnik, soziale Sicherheit oder den Klimawandel geht, stets sagt mindestens eine relative, oft auch eine absolute Mehrheit der Befragten, der Zwischenrufer habe recht, wobei die Werte heute sogar eher etwas niedriger liegen als vor dreißig Jahren.

Die Linken haben es erfunden

Ein paar weitere Beispiele für die Existenz des „postfaktischen Zeitalters“ vor der Erfindung des Begriffes „postfaktisch“ gefällig? 1955 stellte das Allensbacher Institut die Frage: „Was glauben Sie, warum das Wetter in diesem Jahr so unbeständig ist? Glauben Sie, das kommt von den Atombomben, oder glauben Sie das nicht?“ 49 Prozent antworteten daraufhin, sie glaubten, dass die Atombomben für das Wetter verantwortlich seien. Nur 34 Prozent widersprachen. 1987 hielten 61 Prozent der Westdeutschen die Natur in Deutschland allgemein für ziemlich zerstört. Aber nur 34 Prozent waren der Ansicht, dass dies auch in ihrer eigenen Umgebung der Fall sei, ein bemerkenswert geringer Wert in einem Land, in dem die meisten Menschen in städtischen Ballungsräumen leben. Im September 2011 hatten mehr Menschen Angst vor Konservierungsmitteln im Essen als davor, von verdorbenen Lebensmitteln krank zu werden. Und in der gleichen Umfrage zeigte sich, dass die Zahl derjenigen, die sich vor Krankenhausinfektionen fürchten, die jährlich mindestens 10.000 Menschen das Leben kosten (es gibt auch wesentlich höhere Schätzungen), nicht größer war als die Zahl derer, die Angst davor hatten, dass es in der Nähe ihres Wohnortes einen Unfall in einem Atomkraftwerk kommen könnte, eingeschlossen die Gebiete, in denen es weit und breit kein Atomkraftwerk gibt.

Wir leben seit mindestens 40 Jahren im „postfaktischen Zeitalter“. Das einzige, was sich in jüngster Zeit geändert hat, ist, dass die Linken das Monopol auf Irreführung der Öffentlichkeit durch das Anheizen irrationaler Emotionen verloren haben. Deswegen sind sie nun verständlicherweise ganz empört, aber letztlich ernten sie nur, was sie über Jahrzehnte hinweg gesät haben: Ihre rechten Gegner haben ihre Methoden übernommen. Vielleicht bietet diese Situation aber auch eine Chance: Zum ersten Mal erkennen diejenigen, die bisher exklusiv von der Macht „postfaktischer“ Argumentationen profitiert haben, wie unanständig diese Methode der politischen Auseinandersetzung ist und welchen Schaden sie anreichten kann. Das kann man nur als Fortschritt deuten, denn das Erkennen eines Problems ist die Voraussetzung dafür, dass man es bekämpfen kann.

 

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Thomas Petersen, Projektleiter am Institut für Demoskopie Allensbach, berichtet in der Reihe „Aufzeichnungen eines Erbsenzählers“ in unregelmäßigen Abständen über das Leben als Umfrageforscher. Die gesamte Erbsenzähler-Reihe kann hier nachgelesen werden.