Tatsächlich ist der Osten Deutschlands kein Hort der Toleranz. Aber der Westen muss sich der Frage nach seiner Mitschuld stellen.

Ironie der Geschichte: Gerade in Ostdeutschland, wo man bis dato nichts von Osteuropa wissen wollte, probt man nun den Schulterschluss mit jenen Staaten, die – von Polen über Tschechien bis Ungarn – die Flüchtlingspolitik der (ostdeutsch sozialisierten) Bundeskanzlerin Merkel ablehnen und nach Kräften zu torpedieren suchen.

Pathetische Rechtfertigungen für dieses Verhalten hat es längst ebenso gegeben wie moralinsaure Anklagen und ein westliches Zeigefinger-Heben. Dabei haben Affirmation und Verdammung zumindest eines gemeinsam: Sie argumentieren ahistorisch, verbleiben im Reich der steilen rhetorischen These und scheinen denkbar entfernt vom ambivalent Lebensweltlichen.

Es blieb deshalb dem 1973 in Dresden geborenen und heute als «SZ»-Kulturkorrespondent in New York lebenden Autor Peter Richter vorbehalten, in seinem jüngsten Buch auf das Absurde der gegenwärtigen Situation hinzuweisen: Wurde damals in der DDR die stets nur «BRD» genannte Bundesrepublik als «Hort von Revanchismus und Faschismus» verunglimpft, scheint nun diese Art Gratis-Antifaschismus zur Kippfigur geworden zu sein, die alles Reaktionäre und Xenophobe auf den Osten projiziert.

Dabei müsste sich das linksliberale Juste Milieu Westdeutschlands doch auch daran erinnern, mit welcher Häme man einst russland-, polen- und rumäniendeutsche Aussiedler empfangen hatte («deren Grossväter besassen wohl mal einen Deutschen Schäferhund»), währenddessen der seinerzeitige SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine populistisch unkte, DDR-Flüchtlinge kämen nur aus materiellen Gründen in den Westen und würden das bundesdeutsche Sozialsystem millionenfach unterhöhlen. Gleichzeitig liess auf der anderen Seite der Mauer das SED-Regime ganz Ähnliches verlautbaren und beschimpfte die aus der DDR Ausreisenden bzw. die über die bundesdeutschen Botschaften in Prag, Warschau und Budapest Flüchtenden als schnöde egoistische Verräter der hehren Kollektiv-Sache des Sozialismus.

Es zählt bis heute zu den deutsch-deutschen Tabus, daran zu erinnern, dass diese aus Hass und Eifersucht motivierte Denunziation auch in jenen Teilen der ostdeutschen Bevölkerung Zuspruch fand, die sich defensiv-trotzig «Dableiber» nannten – eben just im Gegensatz zu jenen «Ausreissern», denen damals sogar Teile der zaghaft entstehenden DDR-Opposition «Verrat» vorwarfen. Die Frage drängt sich auf: Wie hätte aus jenem einstigen, aus noch tieferen Mentalitätsschichten stammenden Kult um Blut und Boden eine Empathie für die Flüchtlinge der Gegenwart entstehen sollen?

Auch dies müsste endlich ein Teil der Debatte sein – was die besonders in Ostdeutschland zu beobachtende Xenophobie in ein Muster einbetten würde, das durchaus gesamtdeutsch ist.

Stichwort Heuchelei und Sozialneid: Hatte die seit Mitte der achtziger Jahre partiell längst zur Klientel-Partei gewordene SPD nicht selbst dafür gesorgt, dass ihre potenziellen und tatsächlichen Wähler mit immer mehr Sozialstaatsansprüchen gefüttert wurden? Und hatte die gleiche SPD dann nach der (von ihr ungeliebten) Wiedervereinigung nicht in Ostdeutschland versucht, die paternalistisch auftretenden SED-Erben der PDS noch zu übertrumpfen und den dortigen Bürgern einzureden, sie würden «von denen da oben in Bonn» über den Tisch gezogen und Kanzler Kohl würde sich nicht um sie «kümmern»?

Auch wenn es nicht so recht ins gängige mediale Bild – individualistisch-liberaler Westen contra völkisch-verstockter Osten – zu passen scheint: Die hartleibige, in sächsischen Orten wie Clausnitz und Görlitz durchaus auch Gewalt annehmende Ablehnung der Flüchtlinge mit Verweis auf den eigenen, vermeintlich authentischeren Opferstatus ist auch ein Resultat eines westlinken Etatismus, der in der entindividualisierten Kultur der Ex-DDR auf fruchtbarsten Boden fiel. So hätte sich das der zeitlebens freiheitlich gestimmte Willy Brandt gewiss nicht vorgestellt, als er nach der Maueröffnung seinen berühmten Satz des «Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört» in die Mikrofone sprach.

Was seither aus politischem Opportunismus getan oder versäumt wurde, rächt sich nun. Denn um ihr ostdeutsches Wahlvolk nicht zu verärgern, hatte seit 1990 ja auch die CDU vermieden, Klartext zu sprechen über die ökonomischen Usancen der Wiedervereinigung, die binnen kurzem eine Wohlstandshebung sondergleichen gerierte, von der nicht nur Rentner (die in der DDR zuvor am härtesten Marginalisierten) profitierten, sondern sogar Arbeitslose nach den unumgänglichen Schliessungen ihrer unproduktiven Betriebe.

Denn in der Tat: Es hatte dann ja durchaus jene siebzehnmillionenfache Einwanderung in die westdeutschen Renten- und Sozialsysteme gegeben, ohne dass die solcherart «Einwandernden» zuvor Beitragszahler gewesen wären. Die Zeche zahlte – in einem niemals auch nur ansatzweise gewürdigten nationalen Solidaritätsakt – der westdeutsche Steuerzahler, der im Übrigen bis heute zur Kasse gebeten wird, wenn «der Bund» das Füllhorn seiner Infrastruktur- und sonstigen Förderungsprojekte ausschüttet, von denen gerade Sachsen am meisten profitiert.

Weshalb dann also all jene «Wutbürger» in sehr wohl blühenden Landschaften, die bereits ein Minimum von temporär aufzunehmenden Flüchtlingen für eine Zumutung und Wohlstandsbedrohung halten? Könnte es nicht sein, dass die derart Herumgrölenden im tiefsten Inneren wissen, dass sie ihr seit 1990 besser gewordenes Leben selber jener austarierenden Regierungsbürokratie verdanken, deren gewählte Repräsentanten sie nun in der Sprache des Dritten Reichs als «Volksverräter» beschimpfen?

Freilich: Das vermeintlich «progressive» intellektuelle Juste Milieu der alten Bundesrepublik hatte nicht zu knapp jahrzehntelange Vorarbeit geleistet, um die freiheitlich-demokratische Grundordnung als scheintoleranten «FDGO-Staat» zu denunzieren und mit ranzigen Kabarett-Schenkelklopfern à la «Was verkauft ein Staubsauger-Vertreter? Staubsauger! Was verkauft ein Volksvertreter?» das Publikum zum höhnischen Applaudieren zu bringen. Vom eindimensionalen Satiriker Dieter Hildebrandt bis zu den hauptberuflichen «Mahnern» um Walter Jens, Horst-Eberhard Richter und Günter Grass zog sich eine Traditionslinie des permanenten Unter-Verdacht-Setzens des liberalen Gemeinwesens.

Nun, wo das Ressentiment von links nach rechts aussen geschwappt ist, kommt plötzlich «Sorge» auf – ein weiterer schlechter Scherz. Ganz zu schweigen vom Kuschelkurs gegenüber dem Kreml: Wenn jetzt ostdeutsche Pegida-Demonstranten vom drohenden Selbstmord des Abendlandes fabulieren und als Antidot ihre «Putin hilf!»-Plakate in die Höhe recken, ist selbst diese Absurdität eine Art verqueres Echo auf jenes irrationale «Lieber rot als tot», mit dem die westdeutsche Friedensbewegung (mit diskreter Finanz- und Logistik-Hilfe des KGB) seinerzeit in Massen aufmarschiert war. Nicht zufällig hört sich die gegenwärtige Pro-Putin-Rhetorik führender AfD-Politiker an, als wäre Egon Bahr mitsamt seiner zeitlebens antiamerikanischen Russland-Zuneigung soeben wieder dem Grabe entstiegen.

All das über die Jahre und Jahrzehnte hinweg als vermeintlich gesellschaftskritische Benimmregel Gepflegte bricht sich auf den mit EU- und Bundesmitteln restaurierten sächsischen Marktplätzen jetzt auf verdrehte Weise Bahn – ein unguter, jedoch aus der Genese heraus beinahe logischer Mix aus Inferioritätsgefühlen, DDR-Nostalgie und einer rechts-links vermischten antiwestlich-antikapitalistischen Globalisierungsangst, völkisch grundiert. Höchste Zeit für die linksliberalen Meinungseliten im Westen, auch ihren Anteil an diesem Delirium einzugestehen.

Dieser Kommentar ist eine Zweitveröffentlichung, zuerst erschienen bei der NZZ.