Während Konsumenten sich um Pestizidrückstände in Lebensmitteln sorgen, warnen Experten vor allem vor gefährlichen Krankheitserregern.

Essen kann tödlich sein. Die Weltgesundheitsorganisation WHO geht davon aus, dass jedes Jahr etwa 420.000 Menschen weltweit durch belastete Lebensmittel sterben. Doch entscheidend ist, woraus diese Belastung besteht.

Glyphosat im Bier, Dioxine in Eiern, Hormone im Joghurt, Gammelfleisch im Döner, Reste von Mineralöl in der Schokolade – die Liste angeblicher und tatsächlicher Lebensmittelskandale ist lang. Gefährdet die Lebensmittelindustrie unsere Gesundheit? Viele Menschen scheinen das zu glauben. Laut einer relativ aktuellen Erhebung der Österreichischen Agentur für Ernährungssicherheit (AGES) sehen Verbraucher die größten Risiken beim Essen in Pestiziden, gentechnisch veränderten Organismen (GVO), Rückständen von Arzneimitteln und Zusatzstoffen.

Experten für Lebensmittelsicherheit hingegen sehen ganz andere Gefahren: An erste Stelle setzen sie pathogene Mikro-Organismen, also krankheitserregende Viren wie Norovirus und Bakterien wie Salmonellen oder Campylobacter. An zweiter Stelle steht Fehl- und vor allem Überernährung, gefolgt von Pilzgiften und Allergenen.

Auf das aus Expertensicht größte Risiko hat der Verbraucher somit selbst Einfluss. Küchenhygiene spielt eine große Rolle, ebenso wie Wissen über die konsumierten Nahrungsmittel. Denn die Natur ist keinesfalls sanft. Da Pflanzen nicht weglaufen können, wehren sie sich gegen das Gefressenwerden auf andere Weise: Mutter Natur ist eine Giftmischerin. Mehr als 99 Prozent aller Pestizide in unserem Essen werden nicht von außen hinzugeben, sondern stammen aus den Pflanzen selbst. Und diese „Naturstoffe“ sind häufig gefährlicher als die böse „Chemie“. „Ein halbes Blatt Basilikum ist genauso gefährlich wie zwei Zigaretten“, sagt etwa der Präsident des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR). Denn das in der Pflanze enthaltene Estragol ist nicht nur gesundheitsschädlich, sondern vermutlich auch krebserregend.

Dass Bittermandeln Blausäure in durchaus gefährlicher Konzentration enthalten, dürfte noch allgemein bekannt sein. Anders sieht es wahrscheinlich beim halluzinogenen Myristicin aus, das nicht nur in exotischen Muskatnüssen, sondern auch in Petersilie und Dill vorkommt. Selbst die angeblich so gesunden Leinsamen sind aufgrund ihres hohen Blausäure-Gehalts nicht unbedenklich. Und während von den verteufelten Spritzmitteln, die im Kartoffelanbau verwendet werden, keine Vergiftungen von Verbrauchern bekannt sind, kam es 1979 in England zu einer Massenvergiftung von 78 Schülern durch ganz natürliches Solanin in Kartoffeln.

Viele unserer Nutzpflanzen sind nur genießbar, weil der Mensch einen Großteil ihrer Gifte mühsam weggezüchtet hat. In Unkräutern ist das nicht geschehen. Bilsenkraut enthält giftige Tropan-Alkaloide, die vor allem immer mal wieder in Bio-Babybrei gefunden werden – weil Unkraut ohne Chemie schwer kontrollierbar ist. Hier schützt die Chemie vor den Gefahren der Natur (wobei diese Trennung an sich schon unsinnig ist).

„Lebensmittel waren noch nie so sicher wie heute“

Das zeigt: Zwischen wahrgenommenen und tatsächlichen Gefahren beim Essen tut sich ein Abgrund auf. Es gibt beispielsweise keinen einzigen bestätigten Fall, dass ein Mensch durch ein genetisch verändertes Lebensmittel geschädigt wurde. Auf der anderen Seite ging der einzige Lebensmittelskandal der vergangenen fünf Jahre in Deutschland, bei dem eine gravierende Gesundheitsgefahr vorlag, höchstwahrscheinlich von Bio-Lebensmitteln aus. 53 Menschen starben 2011 an EHEC-Keimen auf Bio-Sprossen.

Doch grundsätzlich ist Essen in Deutschland kein Flirt mit dem Tod. „Lebensmittel in Deutschland waren noch nie so sicher wie heute“, sagt der Präsident des Bundesamts für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit in Braunschweig, Helmut Tschiersky.

Wie ist es dann zu erklären, dass Angstkampagnen von Umweltverbänden mit totgespritzten Babys oder mutiertem Frankenstein-Mais hier auf so fruchtbaren Boden fallen? Zur Diskrepanz zwischen Experten- und Verbraucherwissen haben die Medien mit ihrer Berichterstattung über vermeintliche Lebensmittelskandale ordentlich beigetragen. Bestes Beispiel ist der „Pferdefleisch-Skandal“ von 2013, bei dem nie eine Gefährdung des Verbrauchers vorlag. Der Skandal bestand lediglich aus der Täuschung des Verbrauchers durch eine falsche Etikettierung von Lasagne, die Pferde- statt Rindfleisch enthielt. Statt die Sache mit einem Bußgeld zu regeln und die Lasagne anschließend korrekt etikettiert zu verkaufen, mussten die Lebensmittel aufgrund der hysterischen Reaktionen vernichtet werden.

Die bereits zitierte Erhebung der AGES bestätigt, dass Journalisten die Risiken bei Lebensmitteln ähnlich bewerten wie Verbraucher allgemein. Auch sie überschätzen nach Ansicht der Experten die Gefahren von Pestiziden und anderer zugesetzter Substanzen sowie die der Gentechnik.

So bestätigen die entsprechenden Berichte häufig ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie und befeuern die durch nichts zu belegende Vorstellung, dass es bei der Lebensmittelsicherheit eine Entwicklung zum Schlechteren gäbe. Dabei reicht schon ein kurzer Blick in die Berichte zur Lebensmittelsicherheit des BVL, um dies zu widerlegen. Oder aber das schlichte Anerkennen der Tatsache, dass ein „Lebensmittelskandal“ in Deutschland heute aus dem Auffinden von Spuren irgendeiner Substanz besteht, die vor einigen Jahren noch gar nicht nachweisbar gewesen wären (ein Beleg für die immer empfindlicher werdenden Analyseverfahren), und nicht mehr aus tödlichen Mutterkorn-Vergiftungen.

Das liegt unter anderem daran, dass in Deutschland ein enormer Aufwand bei der Lebensmittelüberwachung betrieben wird. Das Verbraucherschutzrecht ist wohl das detaillierteste Rechtsgebiet dieses Landes, detaillierter noch als das Steuerrecht. Es sieht eine Lebensmittelüberwachung vom Stall bis auf den Tisch vor.

Lebensmittelunternehmen haben die Verantwortung, in der gesamten Produktionskette mit Hilfe eigener Qualitäts- und Hygienesysteme, Kontrollen und externer Dienstleister die Sicherheit ihrer Lebensmittel zu garantieren. Überprüft wird dies von einem System amtlicher Kontrollen. In Niedersachsen besteht dieses System beispielsweise aus dem Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (Laves) sowie 42 kommunalen Veterinär- und Lebensmittelüberwachungsbehörden. Diese führen abhängig von einer Risikoeinschätzung des einzelnen Betriebes Kontrollen durch, für deren Kosten das Unternehmen aufkommt.

Doch wer auf all diese Tatsachen hinweist, muss mit heftigen Reaktionen rechnen. Das Thema Essen ist in Deutschland emotional stark aufgeladen. Dabei haben heute selbst die Ärmsten in Deutschland Zugang zu besseren Nahrungsmitteln als Adlige noch vor einigen Jahrhunderten. Womöglich ist das der Grund: „Die Bedürfnisse haben sich geändert. Früher ging es beim Essen darum, satt zu werden“, sagt Folkhard Isermeyer, der Präsident des Thünen-Instituts für Ländliche Räume, Wald und Fischerei. Dann seien Gesundheit und ein langes Leben hinzugekommen. Und mittlerweile esse auch das Gewissen mit: „Essen für die Weltrettung, Saufen für den Regenwald.“

Somit ist Essen nicht mehr eine Frage der Befriedigung eines essenziellen Bedürfnisses, sondern der Weltanschauung – Ernährung als Religion. Damit geht eine Romantisierung erträumter alter Zeiten einher, als Essen noch „natürlich“ und „ohne Chemie“ war. Und aus dem Mythos der gesunden Natur erwächst die Angst vor der Chemie und vor allen menschlichen Eingriffen. Die Folge ist, dass die Mehrheit der Verbraucher in Deutschland sich vor imaginären Gefahren durch Pestizide im Essen fürchtet, während jährlich noch immer Tausende an Salmonellose und schweren Durchfällen durch Campylobacter erkranken. Anders als eine Ernährungsreligion kann das Berücksichtigen dieser Fakten unangenehme Erfahrungen ersparen: Das rohe Hähnchenfilet sorgsam vom Salat getrennt zu behandeln und es mit einem separaten Messer zu schneiden, schützt die Gesundheit weit besser als der Kauf teurer und angeblich ungespritzter Bio-Produkte.