Ein Loblied auf den Konjunktiv

In meiner Ausbildung habe ich gelernt, die Wahrheit sei immer konkret. Ich mag diese einprägsame Behauptung eines gewissen Herrn Lenin sehr und hielt sie lange für unumstößlich – nicht als allgemeine Aussage oder politisches Programm, wohlgemerkt, sondern in Bezug auf journalistische Texte. Die Lebenserfahrung abseits des Reportageseminars lehrt allerdings, dass man selbst an diesem Punkt mit dem Wort „immer“ genauso vorsichtig umgehen sollte wie mit den Wörtern „nie“, „jeder“ und „alle“. Ein einziges Gegenbeispiel macht sie unglaubwürdig. Und manchmal ist die Wahrheit eben doch unkonkret. Das Tückische an der Wahrheit ist überdies, dass sie sich selbst dann, wenn sie konkret ist, mitunter in einer anderen zeitlichen Dimension befindet als der Zeitpunkt, zu dem die Wahrheit niedergeschrieben oder versendet werden soll. Will sagen: Oft stellt sich die Wahrheit erst nach Redaktionsschluss heraus. Nicht zuletzt für dieses Dilemma gibt es den Konjunktiv.

Der Duden definiert ihn als „Modus, der ein Geschehen oder Sein nicht als wirklich, sondern als vorgestellt (Funktionsbereich Irrealität/Potenzialität) oder als von einem anderen nur behauptet darstellt (Funktionsbereich Redewiedergabe)“. Mit anderen Worten: Diesem Modus des Verbs liegt die Annahme zu Grunde, dass es mehrere Interpretationen der Wahrheit geben könnte, dass man hinterher am schlausten ist und dass nicht alles, was möglich scheint, am Ende auch möglich ist – ein Umstand, den man unwirsch mit „Hätte, hätte, Fahrradkette“ umschreiben könnte (aber nicht muss).

Der Konjunktiv macht es möglich, Bedingungen („Wenn-dann“) oder indirekte Rede in der jeweiligen Zeitform korrekt zu formulieren. Korrekt heißt hier vor allem: eindeutig. So verschafft uns der Konjunktiv die segensreiche Möglichkeit, sich vom Inhalt dessen, was man sagt oder schreibt, zu distanzieren. Sei es, um die Haltung eines Zitierten von der eigenen klar zu unterscheiden, sei es, um auszudrücken, dass etwas möglicherweise so, möglicherweise aber auch ganz anders ist. Genau deshalb redigieren Juristen gerne Konjunktive in Texte hinein. Gerade in Zeiten, in denen es zum Volkssport geworden scheint, anderen die Worte im Munde umzudrehen, um sie ihnen dann vorzuwerfen, kann der souveräne Umgang mit dem Konjunktiv die Wahrheit retten. Und nur um die geht es uns doch, nicht wahr?

Wenn man die Berichterstattung über den Berliner Terroranschlag vor Weihnachten und die Echtzeit-Reaktionen verschiedenster ideologischer Provenienz darauf verfolgt, wird dies ebenso deutlich wie bei den Gerüchten über die angeblichen Transfers von Fußballspielern – weitaus harmloser, aber derzeit wieder aktuell.

Wie glücklich Sie mit der Antwort auf die Frage sind, ob jemand Ihren tropfenden Hahn reparieren kann, könnte ebenfalls vom korrekten Konjunktiv abhängen. „Er sagt, er werde die Reparatur gerne übernehmen“ (Konjunktiv I) hat eine grundlegend andere Bedeutung als „er sagt, er würde die Reparatur gerne übernehmen“ (Konjunktiv II). Im ersten Fall stammt der Satz von einem Handwerker, der ankündigt, die Sache zu erledigen. Die zweite Antwort stammt unter Umständen von jemandem wie mir, der den Hahn zwar gerne reparieren würde – es aber nicht kann. Diese kleine, feine Unterscheidung bei der Hilfskonstruktion „würde“ gilt auch für potenzielle Präsidenten und Bundeskanzler und ist deshalb bei Wahlentscheidungen extrem hilfreich.

Wer den Konjunktiv souverän anwendet, gibt nicht damit an – moppelt also auch nicht doppelt. „Der Minister sagt, es könne nicht sein, dass morgen Mittwoch sei“ oder Ähnliches hört man zwar oft im Radio. Es ist aber eine Drehung zu viel. Zumindest für mein Sprachgefühl gehört im fiktiven Beispiel nach „Mittwoch“ der Indikativ hin, also „ist“. Wie Konjunktiv I und Konjunktiv II ansonsten korrekt gebildet werden und welche Schönheit insbesondere in der Kombination aus beiden Formen liegen kann, das möge der geneigte Leser bitte unter anderem im Duden nachlesen. Dies ist eine Schreibkolumne, also eine Kolumne übers Schreiben – keine Abschreibkolumne, in der ich aus Standardwerken abschreibe.

Zumal es beim Konjunktiv um mehr geht als um ein Sternchen in Grammatik. Die Forderung, Sprache richtig anzuwenden, mag manchmal kleinlich sein. Aber aus der Kleinigkeit vieler einzelner Formulierungen entsteht irgendwie, irgendwo, irgendwann das große Ganze. Und vieles, was wir sagen oder schreiben, hat nun einmal mehrere Dimensionen. Daran erinnert uns der Konjunktiv. Er mahnt uns, immer daran zu denken, dass wir alle fehlbar sind. Und das bleibt eine der konkretesten Wahrheiten, die ich kenne.