Henry David Thoreau war nicht der erste Lebenskünstler, aber der erste in der Moderne, der die Freiheit des Ichs so zum Maßstab nahm, dass er heute suspekt erscheint. Eine Richtigstellung.

Jetzt wird er 200 Jahre alt, und man ist überrascht, wenn man Henry David Thoreau wieder liest, denn er wirkt so frisch, frech und überheblich wie ein twitter-kompatibler Philosoph in einer öffentlich-rechtlichen Talkshow. Aber es sind ja auch Dauerbrenner, mit denen er in seinen Texten jongliert: Zivilisationskritik, Ungehorsam gegen den Staat, Naturliebe, Geistesgegenwart (vulgo „Achtsamkeit“) und immer wieder „Ich“, „Ich“, „Ich“. Dabei beruht sein Ruf wie auch seine Wirkung auf eklatanten Missverständnissen. Sein Hauptwerk Walden: oder Leben in den Wäldern gehört gewiss zu den interessantesten und unterhaltsamsten Büchern im Feld der Bekenntnisliteratur, ist aber auch eine veritable Hochstapelei, oder sagen wir: eine geschickte Leserverführung, denn Thoreau war ja nicht in der einsamen Weite Alaskas oder der Rocky Mountains, was man vermuten könnte, wenn man vom „Leben in den Wäldern“ liest – nein, er zog sich am 4. Juli 1845 nur wenige Meilen von seinem Wohnhaus in Concord/Massachusetts auf ein Grundstück seines Lehrmeisters Ralph Waldo Emerson am Walden-See zurück, um dort eine Hütte zu bauen und fast zwei Jahre zu leben. (Das ist, nebenbei, in etwa so, als würde ich mich entschließen, am 3. Oktober an den Berliner Grunewaldsee zu ziehen und dort von der Wildschweinjagd zu leben. Allerdings wäre ich da nicht von Gesellschaft verschont, denn der See ist ein beliebter Hundebesitzertreff. Dann doch lieber nicht.) Aber selbstverständlich war die Wahl des Ortes für Thoreau auch zweitrangig. In erster Linie ging es ja um das Experiment, allein (weitgehend), auf sich selbst gestellt (im Großen und Ganzen) und ohne Ablenkung (meist) seinem Bewusstsein ausgeliefert zu sein und die Gedanken, die ihm durch den Kopf schwirrten, auf Papier und in Form zu bringen. Herausgekommen ist ein Buch, in dem es nur zum Teil um die Natur da draußen und unser Verhältnis zu ihr geht, denn vor allem um die Freiheit und Unabhängigkeit des Individuums. Sein radikaler, libertärer Individualismus hatte etwas Absolutes und Abschätziges – und darum machte er auch keinen Hehl.

EIN BEGNADETER SELBSTDARSTELLER

Thoreau hatte den Hang und die Gnade zur Selbstinszenierung: Als er einmal klamm war und seine Steuerschulden nicht beglich, machte er daraus einen Protest gegen den amerikanischen Staat und den Krieg, den der damals führte, obwohl die Schulden älter waren. Thoreau verbrachte daraufhin eine kurze Zeit im Gefängnis, was nicht zu seinem Schaden war, sondern bei seinen Vortragsreisen den Nimbus als Unbeugsamer prägte. Und als solcher ist er über die amerikanische Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre bis heute in Erinnerung geblieben. Doch die Erinnerung verblasst, der Name sagt vielen heute nichts mehr. Thoreau taugt einfach nicht für den aktuellen politischen Mainstream. Seine Forderungen nach Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung finden heute eher einen Widerhall bei rechten US-Anarchisten denn bei europäischen Linken und Grünen. Denn mit so etwas wie Gesellschaft konnte Thoreau nichts anfangen. Noch weniger mit Politik und Staat – er hätte sich nicht vorstellen können, von diesem so etwas wie völligen Schutz vor Terror, Einkommen für alle und Heilung von jedem Gefühl der Ausgrenzung zu verlangen.

Wer Thoreau trotzdem kennenlernen will – und ich kann es nur empfehlen –, der sollte es mit seinem Essay Vom Wandern versuchen. Ein typischer Thoreau: Wer, bevor er die neuen Wanderschuhe anzieht, um in der sächsischen Schweiz herumzulaufen oder in der Eifel, etwas Motivierendes und Sinnstiftendes für seine Freizeitbeschäftigung sucht, der wird in diesem Bändchen nur am Rande fündig, denn dem Autor ist es wieder darum zu tun, sein Weltbild zu entfalten, und das Wandern ist da nicht mehr als ein Aufhänger. Dafür bekommt man Thoreau kurz und knackig und in Höchstform. Vom Wandern beginnt programmatisch, schlägt gleich seinen markanten, unverwechselbaren Ton an und zeigt im Kern den ganzen Thoreau: „Ich will meine Stimme erheben für die Natur, für absolute Freiheit und Wildheit, im Gegensatz zur zivilisatorisch eingehegten Freiheit und Kultur; dabei betrachte ich den Menschen als Bewohner, ja als festen Bestandteil der Natur, nicht als Glied der Gesellschaft. Ich will eine extreme Position vertreten, und dies, mit Verlaub, durchaus energisch; denn Verfechter der Zivilisation gibt es ja genug; der Pfarrer, das Schulkomitee und jeder einzelne von ihnen werden sich ihrer schon annehmen.“ Die wilde Natur, von der Thoreau spricht, das ist die des Menschen, so wie er ihn sich vorstellt: ungebunden, unbändig, frei. Und die Wanderung, auf die er uns hier mitnimmt, das ist die durchs Leben, das der ehemalige Landvermesser für den Leser genau ausmisst. Denn bei Thoreau geht es immer um alles – also um das Seelenheil und das richtige Leben. Für das falsche Leben, das wir noch nicht einmal bemitleidenswerten Herdentiere leben, hat er nur Spott und Verachtung übrig. Am Ziel sieht er für uns den amerikanischen Mythos des unerschöpflichen, inspirierenden, freien Westens, wie ihn auch sein Landsmann Walt Whitman besang, aber man muss bereit sein für ein Opfer, dass der gewöhnliche Mensch nun einmal nicht bereit ist zu bringen. Warum auch? Ist Thoreaus Unbedingtheit nicht eine künstlerische Übertreibung, eine nette Projektion, die Fiktion seines Schöpfers? „Wer bereit ist, sich von Vater und Mutter, Bruder und Schwester, Kind und Freunden zu trennen und sie nie wiederzusehen, wer seine Schulden bezahlt hat, sein Testament gemacht und alle Angelegenheiten geregelt hat – der mag wandern.“ Wer jetzt noch im Sinne Thoreaus losgehen will, der mag das tun.

DER ALCHEMIST

Thoreau richtig zu lesen bedeutet, ihn ernst zu nehmen – aber die Übertreibungen abzuziehen. Seine vor den Kopf stoßende, appellative Offenheit, seine geradezu messianische Wahrhaftigkeit, die im Schreiben, dem performativen Akt, den Menschen hervorbringt, der er sein will, ist ja Selbsterkenntnis, Selbsterfahrung und künstlerisches Schaffen: Wildsein behaupten und fordern und im Schreiben wild sein – das ist eins. Der Essayist wird zum Alchemist seiner selbst.

In den besten Momenten seiner Texte legt er unseren Lebensnerv unter der Hornhaut frei und überträgt seine Lebendigkeit und seine Klarheit, wie sie kaum einer im richtigen Leben aushalten kann.

Nach Thoreau hat nur noch Friedrich Nietzsche mit solch einem rücksichtslosen Sendungsbewusstsein, solch tief schneidender aphoristischer Schärfe und Stilsicherheit geschrieben. Das ist auch der Grund, warum in unserem durch und durch moralisierenden Zeitalter der Platz in unserem Geisteshaushalt knapp geworden ist für einen so großen Lebenskünstler wie Henry David Thoreau. Ihm gebühre das letzte Wort: „So pilgern wir zum Heiligen Land, im Schlendergang, bis eines Tages die Sonne heller scheint als je zuvor, ja vielleicht sogar in unsere Herzen hinein, und unser ganzes Leben taucht in ein großes, erweckendes Licht – warm und heiter und golden wie ein Bachufer im Herbst.“

Henry David Thoreau: Vom Wandern. Reclam, Stuttgart 2013, 80 Seiten, 5,- Euro; ders. Walden: oder Leben in den Wäldern. Nikol, Hamburg, 432 Seiten, 5,95 Euro