Die Partei hat ewig Konflikte vor sich hergeschoben. Das rächt sich jetzt. Die Grünen sind ausgerechnet im Wahlkampf gelähmt. Es droht der Untergang.

Es gibt eine Geschichte, die gerne als Gleichnis erzählt wird, obwohl sie falsch ist. Die geht so: Frösche bemerken nicht, wenn sie in Wasser sitzen, das langsam erhitzt wird, wann es die Temperatur überschreitet, die ihnen gefährlich wird und verenden darum regungs- und wehrlos. Wirft man einen Frosch hingegen in kochendes Wasser, wird er sofort alles versuchen, um aus seiner Lage zu entkommen.

Wie gesagt: Die Geschichte ist Unfug, jedoch ein prima Gleichnis. Auch für die Partei, die mit dem Frosch die Farbe gemeinsam hat. Die Grünen sind beim INSA-Meinungstrend vor wenigen Tagen auf sechs Prozent abgerutscht. Wenn man die natürliche Schwankungsbreite von Umfragen berücksichtigt, kämpft die Partei ab sofort um den Einzug in den nächsten Deutschen Bundestag. Wer hätte das gedacht? Wohl kaum ein politischer Kommentator und Beobachter und wohl kaum ein Grüner.

Wie auch? Die Grünen sitzen in fast allen Landtagen, lediglich in Mecklenburg-Vorpommern scheiterten sie mit 4,8 Prozent am Wiedereinzug. Sie sind außerdem an elf Landesregierungen beteiligt und stellen mit Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg sogar einen Ministerpräsidenten.

Das Ende der Spaßrepublik

Oberflächlich betrachtet deutet also wenig auf eine schwere Krise der Partei hin. Bei näherem Hinsehen kann man jedoch erkennen, dass die Grünen sogar in einer existenzbedrohenden Lage sind. Der internationale autoritäre Ruck, der viele europäische Staaten und die USA erfasst hat, markiert das Ende der Spaßrebublik. Und damit gehen der Partei die Themen und die Antworten aus.

Die Grünen konnten sich im befriedeten Umfeld der Neunzigerjahre als Lifestyle-Partei in der deutschen Politlandschaft etablieren. Ihnen geht es um Lebensmittelampeln, Feinstaubbelastungen und Dieselfahrverbote, um vegetarisches Essen, Biolandbau und Rauchverbote, um Gendertoiletten und die Bekämpfung der Gentechnik und natürlich um ihr Allerheiligstes: das Schüren von Ängsten vor Atomkraft. Auf knapp 30 Prozent Zustimmung haben es die Grünen mit dieser Mischung aus Lebensberatung und Politik im April 2011 bundesweit in einer seriösen Umfrage gebracht. In der japanischen Präfektur Fukushima, die bis dahin kein Grüner kannte, war gerade ein Atomkraft havariert und die Partei fuhr die Ernte ihrer jahrzehntelangen Angstaufzucht ein.

Das vergleichsweise schlechte Ergebnis bei der Bundestagswahl 2013 – man landete bei 8,4 Prozent und damit deutlich unter den eigenen Erwartungen – erklärt sich mit einem völlig verkorksten Wahlkampf. Mit dem „Veggieday“ haben die Grünen auf ein Verbot gesetzt, was per se unsexy ist, und mit der Forderungen nach Steuererhöhungen haben sie auch noch gegen die eigene Klientel Wahlkampf geführt. Umso erstaunlicher übrigens, dass nun viele Grüne ein mögliches Fahrverbot für ältere Dieselfahrzeuge preisen. Die Lernresistenz ist hoch – sogar im Überlebenskampf.

Ungelöste Konflikte

Die Grünen befinden sich in der Gefahr, dass die internationale Radikalisierung auf sie so wirkt wie das stetig aber langsam  erhitzte Wasser auf den Frosch aus unserem Gleichnis. Die Partei bemerkt nicht, dass ihr Programm und ihre Inhalte nicht mehr zur politischen Großwetterlage passen. Nach der Spaßrepublik braucht es neue Antworten. Die haben sie nicht.

Die Zeit zwischen 1989 und jetzt, dieser wimpernschlagkurze Stillstand der Geschichte, hat es den Grünen ermöglicht, die Klärung innerer Konflikte immer wieder zu verschieben. Doch nun werden Themen und Fragen auf einmal akut, die knapp zwei Jahrzehnte keine Rolle spielten. Fragen nach der Rolle Deutschlands in einem destabilisierten Europa und einem zerbröselnden Westen:

Wie stehen wir zur NATO? Sind wir bereit, uns militärisch stärker zu engagieren und tatsächlich – wie vereinbart – zwei Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts für das Militärbündnis aufzuwenden? Oder sind wir eine pazifistische Partei? Was bedeutet uns der Westen? Können wir uns vorstellen, in eine Koalition mit einer SPD zu gehen, in der gerade ernsthaft diskutiert wird, ob und inwieweit die NATO noch wichtig und richtig für Deutschland ist? Und was ist mit der Linkspartei, die ganz offen für einen Austritt aus dem Bündnis wirbt? Ohne die Wagenknecht-Truppe lohnt sich das Gedankenspiel mit der SPD schließlich schon rein rechnerisch nicht. Kann die Linke ein Partner sein? Wollen wir uns an einer Regierung beteiligen, die eine Grundkonstante der Bundesrepublik, nämlich ihre West-Verankerung, zugunsten einer äquidistanten Haltung gegenüber autokratischen Regimen aufgeben würde? Oder stehen wir dafür ein, dass das größte und ökonomisch stärkste europäische Land seine Ressourcen einsetzt, um die universellen westlichen Werte zu verteidigen?

Grottoides Parteimanagement

Und weil all diese Fragen innerhalb der Partei ungeklärt blieben und bleiben, sind die Grünen jetzt im Bundestagswahlkampf nicht geschäftsfähig und stürzen drastisch ab. Während die CDU den Amtsbonus der Kanzlerin als Kapital hat und ausspielen wird, die SPD unter Martin Schulz die Agenda 2010 schleifen will und damit ihr sozialpolitisches Profil schärfen wird, während AfD und Linke sich autoritätsverliebten Globalisierungsfeinden und Isolationisten an den Hals werfen und die FDP sich an einer Revitalisierung des von ihr selbst geschredderten Liberalismus versucht, stehen die Grünen für genau nichts, was gerade relevant wäre. Welch grottoides Parteimanagement eines Bundesvorstands, dessen Doppelspitze aus Simone Peter und Cem Özdemir die innerparteiliche Zerrissenheit ja schon symbolisiert. Was die Grünen jahrelang als Stärke verklärt haben – ihre zwei widerstreitenden Flügel – erweist sich jetzt in stürmischen Zeiten als eklatante Schwäche. Dieser Vogel kann kaum abheben.

Und diese Schwäche wird vor dem Wahltag im September kaum noch in Stärke verwandelt werden können. Von einem bis aufs Messer geführten Programmparteitag, der die jetzt wichtigen Grundsatzfragen so verbindlich klärt, dass man einen pointierten Wahlkampf aufnehmen könnte, würde ein verheerendes Signal der Zerrissenheit ausgehen. Strategische Fragen müssen folglich auf die Zeit nach der Wahl verschoben werden. Bis dahin muss sich die Partei mit einer möglichst guten Taktik über die Zeit retten, die die inhaltlichen Schwächen so gut es irgendwie geht unsichtbar macht. Das bedeutet: Einmal noch muss das Lifestyleprogramm aus gesunder Ernährung, erneuerbaren Energien und Verbraucherschutz funktionieren.

Danach kommen dann die harten Konflikte dran. Spätestens mit der Frage nach einer Beteiligung an einer Regierung mit Linken und SPD, sofern man es denn noch einmal in den Bundestag schafft, würde es ans Eingemachte gehen. Sogar eine Spaltung der Partei wäre dann möglich. Kaum vorstellbar, dass der Flügel um Kretschmann das absegnet.

Dass die klar prowestlich und außenpolitisch profilierten Menschrechtler wie Marieluise Beck, Rebecca Harms und Volker Beck kaltgestellt wurden – Harms verlor den Vorsitz der Grünen-Fraktion im EU-Parlament, die beiden Becks wurden von ihren Landesverbänden nicht mehr für den Bundestag nominiert – zeigt übrigens, welcher Flügel gerade die Oberhand haben dürfte.