Autoritäre Sehnsüchte, Sprechverbote und Bußrituale: Die Polittunte Patsy l’Amour laLove kritisiert in ihrer Anthologie „Beißreflexe“ totalitäres Verhalten in der queeren Bewegung. Wir haben mit der Autorin gesprochen.

Patsy l‘Amour laLove ist Geschlechterforscherin, Publizistin und Organisatorin zahlreicher wissenschaftlicher und kultureller Veranstaltungen. Im März 2017 veröffentlichte sie den Sammelband „Beißreflexe – Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten“. Das Buch löste vor allem in der queeren Szene heftige Debatten aus.

In deiner Anthologie beschreiben die Autoren haarsträubende Szenen. So mussten sich an einem queeren Großevent im Jahr 2013 einzelne Aktivisten von ihren Dreadlocks und Tunnelohringen trennen, weil die Modeaccessoires als rassistisch empfunden wurden. Wie weit verbreitet sind solche Vorfälle unter den Queers?

Bei queerfeministischen Events sind diese Vorgaben, wie man sich richtig zu kleiden und zu frisieren habe, in den letzten Jahren zunehmend präsent. Und die Regularien werden vielfältiger. So gab es beim Berliner Queer Zine Fest eine ganze Liste mit Verboten. Da ging es um Schmuck und um Aussagen oder Fragen, wegen derer man vom Treffen fliegen sollte. Der harsche Angriff auf diejenigen, die dem jeweiligen Regelkatalog nicht genau genug folgen, ist viel weiter verbreitet, als ich das vor der Veröffentlichung von Beißreflexe dachte. Ich bekomme im Moment haufenweise Mails, in denen Leute davon berichten, wie sie an ihrem Arbeitsplatz oder in ihrer Politgruppe heftig gemobbt und öffentlich vorgeführt werden. Teilweise sind das richtige Hilferufe.

„Beißreflexe“ wurde innerhalb von drei Monaten drei Mal neu aufgelegt. Ein Erfolg, der mit harscher Kritik und sogar Gewaltandrohungen einherging. Wie erklärst du dir die große Nachfrage und die heftigen Reaktionen?

Ich denke, dass es bei diesem Buch wie bei anderen auch ist: Den Trend, sich von diesem autoritären Aktivismus abzuwenden, gab es schon und so kam „Beißreflexe“ zum richtigen Zeitpunkt. Für viele politisch Aktive wurde eine Sprachlosigkeit aufgebrochen, bei einigen fand ein Umdenken statt. Sie lavierten vorher in einer Unentschiedenheit, die nun bei vielen glücklicherweise einer entschiedenen Kritik weicht.

Bei deinen Beschreibungen des Queerfeminismus‘ verwendest du häufig christliche Metaphern. Du schreibst über „inquisitorische Macht“, über „Sünden“ und „Bußrituale“. Was hat es mit dieser sprachlichen Nähe zur Religion auf sich?

Die Verwendung religiöser Begriffe passt zum religiös anmutenden queeren Aktivismus. Dort geht es hauptsächlich darum, sich moralisch rein zu halten oder wie es dort heißt: progressiv, subversiv und radikal zu sein. Man möchte ein besserer Mensch sein, was ja auch nachvollziehbar ist. Nur äußert sich im queeren Aktivismus die Sehnsucht nach dem großen, heilbringenden Kollektiv und wird nicht reflektiert. Die Fantasie eines Kollektivs ist entlastend, weil man ihm die Verantwortung über das eigene Handeln und Denken übertragen kann. Das ist wie in einer Religionsgemeinschaft. Eine weitere Ähnlichkeit ist die übermäßige Identifizierung mit den Inhalten, was bei politischen Diskussionen zunächst merkwürdig anmutet. Kritisiert man eine queere Position, dann fühlen sich queere Aktivist_innen, oft sogar Professoren, davon persönlich verletzt. Damit wird eine Auseinandersetzung mit dem Argument gekonnt abgewehrt, es geht nur noch um persönliche Empfindungen. Das erinnert an die Behauptung, man würde religiöse Gefühle verletzen, wenn man Religionskritik übt. Auch queere Ansätze sind heilige Kühe, deren Wahrheitsanspruch nicht hinterfragt werden dürfen.

Wieso hat die queere Szene ein Problem damit, den Islam zu kritisieren?

Das hat einerseits mit dem queeren Privilegienansatz zu tun. Aus einer sogenannten westlichen Perspektive dürfe man keine Kritik an islamischen Regimen und ihrer Schwulenverfolgung äußern. Was allerdings eine Verweigerung von Solidarität ist. Und andererseits lehnt queerer Aktivismus eine vehemente Religionskritik ab, besonders hinsichtlich des Islam. Es gibt eine spezifische queere Sexualfeindlichkeit, zu der die Faszination für eine Religion, in deren Namen Frauenkörper bedeckt werden sollen, doch sehr gut passt.

Bewegungen wie „Critical Whiteness“ stehen häufig wegen ihrer Betroffenheitspolitik in der Kritik. Was ist problematisch daran, wenn man Personen auffordert, über ihre „weißen Privilegien“ nachzudenken?

Man kann ja zu allen möglichen Dingen auffordern, die Frage ist doch, wozu das führen soll. Zunächst sollte man sich fragen, was genau Privileg zu bedeuten hat und ob das nicht nur als eine Art neues schlechtes Gewissen ins Feld geführt wird. Darüber hinaus verweilt die Forderung nach einer Reflexion über Privilegien in sich selbst und bietet keine wirkliche Reflexion. Viel wichtiger ist es, sich mit Diskriminierung auseinanderzusetzen, mit der Geschichte des Hasses und damit, dass sich Unterdrückung nicht bloß anhand von konkreten Personen äußert, die man dann ablehnen oder zu subversiven Subjekten stilisieren kann. Außerdem kommt man mit Empathie auch politisch viel weiter als mit schlechtem Gewissen.

Die „Intersektionalität“ versucht alle Formen der Diskriminierung, die eine Person erfahren könnte zu berücksichtigen. Ist das nicht ein progressives Vorhaben, das zu mehr Gleichberechtigung führt?

Das ist vor allem kein neues Vorhaben. Wie das Wissen darum, dass niemand mit den Vorgaben einer Identität identisch sein kann, ist es auch eine Binsenweisheit, dass ein Mensch auf unterschiedliche Weise Ablehnung erfahren kann. Intersektionalität verleitet vielmehr dazu, alle Diskriminierung gleich zu machen. Da wird etwa Religiosität mit sexueller Orientierung gleichgesetzt. Das Letztere kann man sich aber nicht aussuchen, während man sich einer Religion absichtlich unterwirft.

An einer Stelle im Buch erklärst du, wie es unter den Aktivistinnen zu einer „Diskriminierungsolympiade“ kommt: Nur die Person, die die „schlimmere“ Ausgrenzungserfahrung erlebt hat, darf sprechen, alle anderen müssen schweigen. Was steckt hinter diesem Mechanismus?

Das hat mit einem politischen Altruismus zu tun, der wiederum nicht nur im queeren Aktivismus anzutreffen ist. Eigenen erlebten Kränkungen wird hier stellvertretend begegnet. Ein psychischer Vorgang, den man Verschiebung nennt. Dieser Altruismus ist an sich nicht verwerflich, sondern beflügelt den Einsatz gegen Ungerechtigkeit. Nun wird dieser Ungerechtigkeit allerdings mit einer Umkehr begegnet und der eigene Anteil im Aktivismus nicht reflektiert, nach dem Motto: Jetzt habe ich das sagen und bestimme, wie die Welt zu funktionieren hat. Damit versucht man, denen, die man als die Marginalisierten wahrnimmt, oder sich selbst eine inquisitorische Macht zuzusprechen. Damit aber ist niemandem geholfen. Dass ich als Schwuler Schwulenfeindlichkeit erlebt habe, macht mich nicht zu einem klügeren Menschen, sondern zu einem, der Hass erlebt hat. Das führt nicht automatisch zu einer Reflexion. Und manchmal hat ein heterosexueller Mann durchaus etwas Schlaueres zur Schwulenfeindlichkeit zu sagen. Abgesehen davon, dass es möglichst viele Leute braucht, die Kritik an Hass und Diskriminierung üben.

Autoritäre Sehnsüchte, der Glaube an eine herrschaftsfreie Gemeinschaft und Machtausübungen durch schlechtes Gewissen – wie viel Stalin steckt in der queeren Bewegung?

Zu viel! Diese queeren Gruppen sind tatsächlich die K-Gruppen unserer Zeit.

Du schreibst: „Der Aktivismus verharrt im Posing“. Was meinst du damit?

Dass es nur noch darum geht, progressiv zu sein, aber bloß als Teil der subversiven Identität. Bei so einem Ansatz geht es nicht mehr darum, eine bessere Gesellschaft herbeizuführen.

An Universitäten häufen sich momentan die Vorfälle, in denen Sprechverbote erteilt, Veranstaltungen gesprengt und Dozenten mit abweichenden politischen Ansichten als Rassisten denunziert werden. Glaubst du, dass der autoritäre Habitus mancher Queers auch bald das Gender-Mainstreaming erreichen wird?

Der Privilegienansatz hat zumindest die lesbischen, schwulen und Trans-Organisationen und Aufklärungsprojekte schon erreicht. Selbst Nachtclubs geben sich das Prädikat, intersektional zu sein. Was das jeweils heißt, ist recht schwammig. In jedem Fall bedeutet es einen Ansatz, in dem Äußerungen von Leuten, die einer marginalisierten Gruppe zugerechnet werden, nicht mehr hinterfragt werden dürfen. Es folgen auf heftige und unbegründete Anschuldigungen unterwürfige öffentliche Entschuldigungen und das eigene Vorhaben, sich zu schämen wird als Reflexion bezeichnet. Dafür, den Hass zu begreifen und insgesamt einen Begriff der Gesellschaft zu entwickeln, interessieren sich leider immer weniger Leute.

Die Queerfeministin und Missy-Redakteurin Hengameh Yaghoobifarah hat dir in einem Interview vorgeworfen, dass „Beißreflexe“ ein unsolidarisches Buch sei. Ist das so?

Wenn ich wüsste, mit wem man da solidarisch sein soll, könnte ich die Frage beantworten. Jakob Hayner hat das in einem Interview kürzlich ganz gut zusammengefasst: Eine Kritik als unsolidarisch zu bezeichnen, beinhaltet keinerlei Argument, sondern dient bloß als weiterer Grund dafür, dass die Kritik nicht geäußert werden darf. Und nein, ich wüsste nicht, inwiefern ich mit Leuten, die anderen Gewalt androhen oder von einer Party werfen, weil sie Dreadlocks und Creolen-Ohrringe tragen, solidarisch sein sollte. Was eine solidarische Kritik ist, wird dabei nicht klar. Es geht wohl darum, dass man etwas nett und harmonisch formuliert und damit seine Kritik relativiert. Wem eine solche Harmonisierung dienen soll, weiß ich nicht. Die Taktik, „everybody‘s darling“ sein zu wollen, indem man davon faselt, dass ja doch alles irgendwie richtig sei, halte ich für verlogen.

Was würdest du dir für den queeren Aktivismus wünschen?

Ein Ende der Relativierung von Gewalt, eine Hinwendung zur Realität, eine Positionierung auf der Seite der Subjekte, eine Reflexion, die diesen Namen auch verdient und eine wahrhaft perverse Sexualpolitik.