Fast jeder Kommentator behauptet heute, dass Netanjahu sein Date mit Gabriel aus innenpolitischen Gründen abgesagt habe. Aber vielleicht hat auch Gabriel die deutsch-israelischen Beziehungen für etwas SPD-Wahlkampf aufs Spiel gesetzt.

Um den Eklat des Jahres zu verstehen, genügen eine Landkarte und ein Geschichtsbuch. Die Landkarte zeigt, dass der knapp 8,5 Millionen Einwohner zählende Staat Israel an seiner schmalsten Stelle rund 15 Kilometer misst. Aus dem Geschichtsbuch geht hervor, dass das Verhältnis zu seiner insgesamt hunderte Millionen Menschen zählenden Nachbarschaft seit der Staatsgründung im Jahr 1948 durch Gewalt und Terror geprägt ist. Noch in der Gründungsnacht erklärten Syrien, der Irak, Libanon, Ägypten, Saudi-Arabien und Transjordanien dem jüdischen Staat den Krieg. Es folgten der Sechs-Tage-Krieg (1967), der Jom-Kippur-Krieg (1973) und die Libanonkriege von 1982 und 2006, dazu kamen noch die verschiedenen „Intifadas“. Im Gegensatz zur Bundesrepublik Deutschland, deren Existenz nie bedroht war und deren Bundeswehr niemals Rückgrat der Gesellschaft sein musste, ist die IDF (Israel Defense Force) die Überlebensgarantie Israels. Macht man sich das klar, versteht man besser, warum Premierminister Benjamin Netanjahu ein Treffen mit Außenminister Sigmar Gabriel absagte. War das geschickt? War das klug? Hätte Netanjahu gelassener reagieren können und Gabriel besser hinter verschlossenen Türen die Meinung gegeigt? Darum soll es hier nicht gehen.

„Breaking the Silence“ oder ich – vor diese Wahl stellte Netanjahu den deutschen Staatsgast. Gabriel entschied sich für die Nichtregierungsorganisation, die nach eigener Auskunft die israelische Gesellschaft darüber informiert, was ihre Armee in den besetzten Gebieten macht. Dabei verhält sich „Breaking the Silence“ so, wie es für Nichtregierungsorganisationen im Westen üblich ist – das Objekt ihrer Aktivitäten wird dämonisiert und kriminalisiert. So setzt etwa „People for the Ethical Treatment of Animals“ (PETA) Massentierhaltung und Holocaust gleich, so unterstellt Foodwatch der Lebensmittelindustrie, „das Recht auf körperliche Unversehrtheit zu missachten“, so zeichnen Greenpeace oder Campact von Pflanzenschutzmittelherstellern das Bild skrupelloser Konzerne, die unsere Gesundheit ihren Profiten opfern.

Wie funktioniert eine NGO?

So funktionieren NGOs, und so funktioniert auch „Breaking the Silence“. Wer sich bei der israelischen NGO über die Aktivitäten der IDF informiert, bekommt das Zerrbild einer Organisation geliefert, die Kriegsverbrechen am Fließband produziert. Vergangenes Jahr setzten sich Filmautoren in einem israelischen Sender mit „Breaking the Silence“ auseinander. Stichprobenartig prüften sie zehn der anonymen Zeugnisse israelischer Soldaten über ihre Tätigkeit in den besetzten Gebieten, mit denen die Organisation arbeitet. Ergebnis: Zwei waren komplett falsch, zwei stimmten nur in Teilen, vier Schilderungen ließen sich nicht bestätigen und lediglich zwei wurden nicht beanstandet. Man muss außerdem wissen, dass die Armee interne Untersuchungen anstellt, die anders als in Russland nicht politisch gelenkt sind. Zudem war jeder Israeli in der Armee und kennt jemanden, der gerade dort ist. Die Geschichten von „Breaking the Silence“ entlarven sich in Israel folglich schnell als das, was sie sind: maßlose Übertreibungen für ein geneigtes westliches Publikum.

Bekanntlich ist die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson. Kanzlerin Angela Merkel sagte vor gut neun Jahren im israelischen Parlament, dass sich das aus der historischen Verantwortung Deutschlands ergebe. „Das heißt“, so Merkel damals „die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar.“ Es wäre wünschenswert gewesen, wenn die Kanzlerin von ihrer Richtlinienkompetenz gegenüber ihrem Stellvertreter Gebrauch gemacht hätte, um ihre Worte nicht zu entwerten.

Instinktlos

Es ist absolut instinktlos, wenn der deutsche Außenminister ausgerechnet bei seinem Antrittsbesuch eine dubiose NGO aufsucht, die in hiesigen Kommentaren und Berichten als „regierungskritisch“ verniedlicht wird. „Breaking the Silence“ wird im Ausland – insbesondere in Europa und Deutschland – von denen missbraucht, die nicht Netanjahus Regierung kritisieren wollen, sondern die es auf die Existenz Israels insgesamt abgesehen haben. Wer morgens zum Israelboykott aufruft, verlinkt abends begeistert die anonymen Zeugenaussagen der NGO. Es braucht nicht viel Empathie, um zu verstehen, wie das bei der Mehrheit der Israelis ankommt.

Zumal Gabriel Wiederholungstäter ist. 2012 ließ er seine Facebookfreunde wissen: „Ich war gerade in Hebron. Das ist für Palästinenser ein rechtsfreier Raum. Das ist ein Apartheid-Regime, für das es keinerlei Rechtfertigung gibt.“ Apartheid = Südafrika unter der Nationalen Partei = Rassentrennung = Israel. Nicht weniger als diese Assoziationskette steckt hinter Gabriels Posting, und das wird Netanjahu nicht vergessen haben. Auch nicht, dass der deutsche Außenminister Palästinenserpräsident Mahmud Abbas vor wenigen Wochen als „meinen Freund“ bezeichnete – einen Mann also, der sich seit 2005 keiner Wahl mehr gestellt hat. Wie „ein Elefant im Porzellanladen“ habe sich der Sozialdemokrat aufgeführt, bescheinigte ihm deshalb der Historiker Michael Wolffsohn.

Hinzu kommt noch, dass „Breaking the Silence“ in der demokratischen und pluralistischen Gesellschaft Israels keine Redeverbote hat und sich ohne Probleme öffentlich darstellen kann. Deshalb ist ein Besuch bei einer NGO in einer westlichen Demokratie etwas anderes als in einer Diktatur wie Russland. Wer Gabriels Aufwartung bei „Breaking the Silence“ mit Gesprächen der Kanzlerin mit der vom Putin-Regime kriminalisierten Opposition Russlands gleichsetzt, hat diesen Unterschied entweder nicht verstanden, oder misst Israel an anderen Maßstäben.

Und so verstiegen sich die meisten Kommentatoren gar zu der Deutung, Netanjahu habe das Treffen mit Gabriel aus innenpolitischen Motiven abgesagt. Die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb: „Wie jeder Populist setzt der Jerusalemer Regierungschef mit diesem Paukenschlag vor allem aufs innenpolitische Echo. In seinem rechten Lager darf er sich bei solcher Kraftmeierei des johlenden Beifalls sicher sein.“ Gabriels Parteifreund Rolf Mützenich, Außenpolitiker der Bundestagsfraktion, meinte: „Ich glaube, er ist dort in einen innenpolitischen Strudel geraten.“ Krokodilstränen hatte der Abgeordnete auch noch auf Lager: Möglicherweise könne der Vorfall langfristige Auswirkungen auf das deutsch-israelische Verhältnis haben.

Gabriel hat den innenpolitischen Knalleffekt

Alles quatsch. Erstens ist nicht sicher, dass Gabriels Restlaufzeit als Außenminister in einer größeren Spanne als mittelfristig gemessen werden wird und zweitens hat nicht Netanjahu den innenpolitischen Knalleffekt gesucht, sondern unser Außenminister. In einem Land wie Deutschland, das wenig bis gar kein Verständnis für das Gefühl der Bedrohung aufbringt, das in Israel zum Alltag gehört, in dem außerdem Benjamin Netanjahu an prominenter Stelle mit Diktatoren und Despoten gleichgesetzt wird – die „Süddeutsche“ überschrieb ihren Kommentar mit der Zeile „Kollision mit Wladimir Tayyip Netanjahu“ – sichert man sich johlenden Applaus, indem man es der israelischen Regierung mal frontal gibt. Gabriels Message lautet: Ab jetzt ist Schluss mit der Leisetreterei, wir lassen uns von den Israelis nicht mehr gängeln!

Insofern hat Gabriel als ranghoher SPD-Wahlkämpfer eine grandiose Inszenierung hingelegt – rechtzeitig vor zwei Landtags- und einer Bundestagswahl. Netanjahu ist dem deutschen Außenminister mit seiner Absage leider ins offene Messer gelaufen.