Heute wird gewählt im Norden. Dann hat wohl auch das „Moin, moin“ von Torsten Albig und Daniel Günther erst mal ein Ende. Im Wahlkampf war Provinzialität Ehrensache.

Moin, moin, leeve Lüüt! Heute also wählt Schleswig-Holstein und das Ergebnis dürfte knapp werden, so oder so aber im Schatten der französischen Präsidentschaftswahl stehen. Den Spitzenkandidaten in Deutschlands nördlichstem Bundesland merkt man das so gar nicht an. Wenn Torsten Albig (SPD) und Daniel Günther (CDU) von Schleswig-Holstein reden, dann könnte man meinen, sie planten insgeheim die Sezession ihrer Heimat. Egal, um welches Thema es geht: Der Appell an den Lokalpatriotismus, das Anrufen und Schmeicheln der Seele ihres schleswig-holsteinischen Volkes scheint bei praktisch jedem geäußerten Gedanken im Subtext durch. Im Wahlkampf ist die Landeshauptstadt Kiel schon zu urban, da muss man als Politiker mental und rhetorisch auf die Nordsee-Hallig. Statt Latte Macchiato gibt es Friesentee, sobald die Kamera dabei ist.

Das „Vaterland“ Deutschland mag als Begriff in Verruf gekommen sein, die Liebe zum Bundesland aber ist in der politischen Auseinandersetzung anscheinend umso bedeutsamer. Provinzialität ist hier kein Makel, sondern Grundthema im Streit zwischen den Spitzenkandidaten um das Amt des Präsidenten. Also: Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein. Ein klangvoller Name übrigens, den Albig und Günther zum Beispiel im TV-Duell im NDR gar nicht oft genug sagen konnten: Schleswig-Holstein, Schleswig-Holstein, wir in Schleswig-Holstein, unser Land, Land zwischen den Meeren, bei uns im Norden, bi uns to huus.

Wer regieren will, der muss auch „Moin!“ sagen

Die verhandelten Sachfragen waren offenbar nur mehr Stichworte, um das eigene Bekenntnis zur Heimat herauszustellen, sich in einem Wettbewerb zu überbieten, wer von beiden der größere, authentischere, nordischere Schleswig-Holsteiner ist. Das ging schon bei der Begrüßung los, da schenken sich die beiden beim TV-Duell wirklich nichts. Albig schmunzelt ein souveränes „Moin!“ in die Kamera, Günther grüßt selbstverständlich ebenfalls mit „Moin!“ Punkt für beide, muss man wohl sagen.

Warum eigentlich? Der Autor dieses Textes ist ebenfalls Schleswig-Holsteiner, nicht von Geburt, aber doch von Gesinnung und Vita. Hätte er zum Beispiel in der Schule aber einen Lehrer lapidar mit „Moin!“ gegrüßt, es hätte eine Rüge gegeben. In diesem Wahlkampf ist diese Art der Ansprache jedoch geradezu Programm. Das Bekenntnis zum „Schietwedder“ zwischen Nord- und Ostsee scheint in der Landespolitik eine Frage von Ehre und Glaubwürdigkeit zu sein.

Im Wahlkampf ist selbst Hamburg plötzlich Ausland

Die Welt ist ein globales Dorf, Schleswig-Holstein aber ist, den Eindruck gewinnt man hier beim Zuschauen, ein Universum für sich, von Flensburg bis nach Pinneberg, vom Wattenmeer bis an die Ostsee. Folgerichtig greift Herausforderer Günther Amtsinhaber Albig dafür an, dass in seiner Regierung (genannt natürlich „Küstenkoalition“ oder wenigstens „Dänen-Ampel“) doch tatsächlich Menschen aus der fernen Galaxie Hamburg sitzen, die nach seiner Lesart offenbar kulturell in die rund eine Autostunde entfernte Landeshauptstadt Kiel kaum integrierbar sind.

Zumindest ist es, so die stumme Anklage, Verrat an der schleswig-holsteinischen Sache, Minister aus dem Nachbarbundesland zu berufen. Seine eigene Schatten-Bildungsministerin Karin Prien trägt ebenfalls den Makel, in Hamburg zu wohnen, will aber im Falle eines Wahlsiegs – hört!, hört! – immerhin nach Kiel umziehen, wo die Fischbrötchen offenbar ganz anders schmecken als in der Millionenstadt.

Wie man im strukturschwachen Bundesland Arbeitsplätze schaffen kann, scheint sekundär zu sein, wenn man auch ausgiebig über den richtigen Abstand von Windkrafträdern zu Ortschaften diskutieren kann oder über die plötzlich enorm gewichtige Frage, wann und wie Rapsbauern ihre „Knicks“ beschneiden sollten. Knicks sind landestypische Begrenzungen von Feldern, und daher beim Wahlkampfauftritt unbedingt eine Erwähnung wert.

Fischbrötchenessend auf dem Deich spazieren

Günthers Vorhaben, das neunjährige Gymnasium wiedereinzuführen, begründet er vor allem damit, dass dann die Schüler wieder mehr Zeit hätten, sich „in den Feuerwehren zu engagieren“. Der Autor des Textes durchlief in Schleswig-Holstein zwar noch in neun Jahren diese Schulart, kannte aber niemanden auf seiner Schule, dem es ein überbordendes Bedürfnis gewesen wäre, sich in der Feuerwehr zu betätigen, über „Knick“-Beschnitte zu sinnieren oder auf dem Nordseedeich fischbrötchenessend ausgedehnte Strandspaziergänge zu unternehmen, ein plattdeutsches Volkslied auf den Lippen.

Stattdessen gingen die Mitschüler nach dem Abitur nach Australien und sonstwo hin, warum auch nicht, der Blick über den Deich ist für die Landesbewohner nämlich bei weitem nicht so frevelhaft, wie das die Wahlkämpfer offenbar annehmen. Vielmehr standen wir damals schon via Bildung, Fernsehen, Internet mit der Welt in Kontakt und empfanden das als relativ normal. Gut also, dass beide Volksparteien den Ausbau von Breitband-Internet vorantreiben wollen. Beim Kommunizieren solcher Vorhaben im Wahlkampf aber wollen Albig und Günther sich den Kontakt zur Außenwelt möglichst wenig anmerken zu lassen.

Was soll der Blödsinn?

Bei aller Sympathie für die Heimat also: Was soll dieser Quatsch? Okay, Ihr mögt Euer Bundesland, Ihr schnalzt ploppende „Flensburger“-Biere auf, sitzt im Strandkorb, joggt auf dem Deich, tragt ganz bodenständig Allwetter-Jacken gegen steife Brisen, das ist schön, das geht in Ordnung. Aber es kann doch wirklich nicht das größte Pfund eines Spitzenpolitikers sein, seine Region möglichst als Addition von Klischees zu verkörpern. In ein paar Stunden also schließen die Wahllokale. Und dann ist hoffentlich erst mal wieder Schluss mit „Make Schleswig-Holstein great again!“

Übrigens hatte ausgerechnet Albigs Amtsvorgänger Peter Harry Carstensen, als gemütlicher Agrarwirt von der Westküste geradezu Proto-Schleswig-Holsteiner, mit einer der Art nach reichlich schleswig-holsteinischen Logik mal bei einer China-Reise erklärt, warum eine Länderfusion langfristig denkbar sei: „Als ich mit dem Daumen auf dem Globus zeigte, wo ich herkomme, waren Hamburg und Teile Niedersachsens direkt mit abgedeckt“, sagte er in etwa. Eine Aussage, vor der seine Parteistrategen ihn im Wahlkampf wahrscheinlich dringend gewarnt hätten.

Genau wie Frankreich hat übrigens auch Schleswig-Holstein eine Trikolore, wenn auch mit dünnen Quer- statt dicken Längsstreifen. Sie ist eine schöne Landesflagge. Aber ein Wahlkampf-Argument ist sie nicht.