Jahr für Jahr verschlingt das Ungeheuer „Mittelmeer“ Tausende von Flüchtlingen, die die gefährliche Überfahrt in wackligen Gummibooten wagen. Doch seit einiger Zeit sind auch die Retter erfolgreich. Zu erfolgreich, wie viele meinen. Sie wollen den Helfern das Handwerk legen – indem sie sie als Schleuser diffamieren.

Am Anfang eine Zahl: 38,6 Millionen Euro. So viel war den Deutschen 2016 die Seenotrettung wert. Pech nur für die Menschen, die derzeit vor Libyen ertrinken: Das Geld geht an die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) und deren Einsatzgebiet ist nicht das Mittelmeer, sondern die Küstengewässer in Nord- und Ostsee.

Auch dort ist immer was los! Segler, die in Seenot geraten sind, havarierte Frachter und Ausflugsschiffe oder einfach nur Windsurfer, die ihre Kräfte überschätzt haben, zu weit hinaus gesegelt sind und nun zitternd auf dem Brett hocken und auf Hilfe hoffen. 60 hochmoderne Seenotkreuzer und Seenotrettungsschiffe stehen den Rettern von der DGzRS zur Verfügung. Mit ihnen haben Sie in 2.019 Einsätzen 56 Menschen aus Seenot gerettet und weitere 621 Menschen aus drohender Gefahr befreit. Das ist beeindruckend! Doch wie sieht die Bilanz der Mittelmeerretter aus?

Neun private Organisationen waren im letzten Jahr zwischen Malta, Lampedusa und der großen Syrte unterwegs – der Hauptroute für die neuen Flüchtlingstrecks, nachdem die Balkanroute geschlossen ist. Darunter befinden sich auch ein paar deutsche Rettungsmissionen: Ärzte ohne Grenzen, die Sea-Watch, Jugend hilft und die Sea-Eye, von der noch die Rede sein wird. Gemeinsam haben Sie seit 2015 über 60.000 Menschen vor dem Ertrinken gerettet – mit umgebauten Fischkuttern, ehemaligen Frachtern und abgehalfterten Forschungsschiffen. Von dem High-Tech-Gerät, das der DGzRS in ihrer großen Flotte zur Verfügung steht, können die Mittelmeerretter nur träumen.

Auch das Spendenaufkommen ist eher bescheiden: 250.000 Euro hat die Regensburger Initiative eingesammelt, um das Schiff Sea-Eye zu betreiben. Mit ihren freiwilligen und unbezahlten Helfern hat sie 7.499 Menschen aus Seenot gerettet. Würde man auf die etwas zynische Idee kommen, jedem Menschen, der auf diese Weise gerettet wurde, ein Preisschild umzuhängen („so viel hat seine Rettung gekostet“) dann wäre ein Überlebender aus Eritrea wohl um den Faktor 1000 preiswerter als ein geretteter Segler aus der Ostsee: genau 45 Euro!

Ersaufen lassen als Abschreckungsstrategie?

Doch manchen ist selbst das noch zu teuer: Alice Weidel, neue Spitzenkandiatin der AfD und als Wirtschaftsexpertin eher dem alten Lucke-Flügel zugehörig, hat auf ihrer Website die Chanel-Hose heruntergelassen: „Die grenzenlose Verblödung Europas spottet jeder Beschreibung – „Rettung“ vor der afrikanischen Küste und Schleppertransfer gratis mit der Bundeswehr nach Italien. Am Osterwochenende haben „Helfer“ Tausenden Flüchtlingen bei der Fahrt über das Mittelmeer „das Leben gerettet“. Karfreitag und Samstag, circa 6000 Menschen, Ostersonntag rund 2000 Menschen.“ Ende des Eintrags! Hier sind Menschen nicht Teil einer stolzen Rettungsbilanz wie bei der DGzRS, sondern angsteinflößende Horden, die heute noch auf Rettungsbooten hocken, morgen aber schon auf hiesigen Behördenbänken, um deutschen Transferempfängern Konkurrenz auf dem Sozialhilfemarkt zu machen.

Was soll man aus den Weidelschen Worten schließen? Das es besser sei, die Menschen ersaufen zu lassen, damit nachfolgende Flüchtlinge desillusioniert kehrt machen und sich ein besseres Leben in Europa aus dem Kopf schlagen? Doch bevor man sich mit der kruden Logik dieser als „Pull-Theorie“ bekannt geworden Abschreckungsstrategie der Flüchtlingsfeinde etwas näher beschäftigt, sollte man einen Blick auf die Rechtslage werfen.

Rettung von Schiffbrüchigen ist Völkerrecht

„Jeder Staat verpflichtet den Kapitän eines seine Flagge führenden Schiffes […] jeder Person, die auf See in Lebensgefahr angetroffen wird, Hilfe zu leisten.“ So steht es in Artikel 98 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen. Im Genfer Abkommen vom 12. August 1949 wird darüberhinaus auch noch die besondere Schutzbedürftigkeit von Schiffbrüchigen im Kriegsfall festgestellt, für die nach Artikel 12 „unterschiedslos“ Hilfe und Versorgung verpflichtend geleistet werden muss. Man sollte also meinen, dass das, was sogar für schiffbrüchige Kriegsgegner gilt, umso mehr für Menschen gelten sollte, die oft aus Kriegsgebieten kommen, ohne an dem Konflikt als Kombattanten beteiligt gewesen zu sein.

Doch damit liegt man falsch. Denn auch die Flüchtlingsgegner können mit Paragraphen hubern. Sie verweisen auf die in Europa einschlägigen Gesetzestexte zur Schleusertätigkeit – in Deutschland §§ 96 bis 97 Aufenthaltsgesetz (AufenthG): Danach gelten Beihilfe und Anstiftung zur Einreise ohne Aufenthaltstitel oder Pass als strafbar, sofern – und das ist wichtig – daneben ein sogenanntes Schleusermerkmal vorliegt, etwa die Erringung eines wirtschaftlichen Vorteils.

Ein Staatsanwalt auf Abwegen

Also verwenden alle Gegner der Mittelmeerrettung ihre Energie darauf, den Rettern ein „Schleusermerkmal“ nachzuweisen. Am weitesten hat es in dieser Disziplin der sizilianische Staatsanwalt Carmelo Zuccaro gebracht. Er beschuldigt pauschal die Retter, dass sie mit den Schleusern eng zusammenarbeiten. Angeblich gäbe es Telefonmitschnitte, die dies belegen würden. Darüberhinaus würden die „Retter“ mit Lichtzeichen und Leuchtraketen auf sich aufmerksam machen. Heimlich schmuggelten sie die Migranten gegen Geld über italienische Häfen ins Land, um dort, so Zuccaro laut Spiegel, die italienische Wirtschaft zu schwächen. Beweise für seine abenteuerlichen Thesen blieb er bisher schuldig.

Auch das Tatmerkmal des „wirtschaftlichen Vorteils“ konnte aus Sicht der Flüchtlingsfeinde befriedigend geklärt werden. So steckt nach Meinung der antisemitischen Clownstruppe um den Anarchofaschisten Beppe Grillo der jüdische Milliardär und Philanthrop George Soros, der inzwischen in der rechtsradikalen Truther-Szene die Rolle der Rothschilds übernommen hat, hinter der Finanzierung der Mittelmeer-Missionen. Was Frontex noch als „unfreiwillige Beihilfe“ bezeichnete, wird jetzt zur absichtsvollen Zerstörung der vitalen Überlebenskräfte Europas durch den Virus der Flüchtlingshilfe. Die „Mittelmeertaxis“ (Grillo-Bewegung) sind so etwas wie der Lockvogel. War es noch bis vor kurzem die ominöse Einladung Merkels, die angeblich die größte Völkerwanderung der Neuzeit ausgelöst habe, so sind es jetzt die freiwilligen Helfer, die die Botschaft der sicheren Passage im Mittelmeer angeblich bis nach Eritrea transportieren würden.

Pull-Faktor und Push-Faktor

Dabei ist der sogenannte „Pull-Faktor“, den alle Populisten von Theresa May bis Sebastian Kurz virtuos bedienen, kaum auf die paar Boote, die in der großen Syrte kreuzen, anwendbar – wiewohl es ihn trotzdem gibt, nur ganz anders als behauptet: Das Internet hat dafür gesorgt, dass die Kunde des Wohllebens in Europa bis in den letzten Winkel Afrikas vorgedrungen ist, trotz mancher Behauptungen aus den Reihen der „Linken“, die überall auf dem Kontinent nur „Verelendung“ und „Prekariats-Slums“ sehen. Dieses neue Wissen erfährt seinen bitteren Kontrast, wenn aus dem bislang bescheidenen aber friedlichen Alltag in irgendeinem Land Afrikas plötzlich durch Bürgerkrieg, Epidemien und Hungersnöte die pure Hölle wird. Das ist der „Push-Faktor“, der aus der Sehnsucht nach einem besseren Leben die Tat werden lässt. Wer dann nach einer beschwerlichen und nicht ungefährlichen Landreise schicksalsergeben und apathisch endlich das Mittelmeer erreicht hat, etwa in Libyen, wo nach Berichten von Menschenrechtsorganisationen nicht zahlungswillige „Passagiere“ in Lagern umgebracht werden, ist vermutlich nicht von ein paar zivilisationsmüden Warnungen xenophober Politiker aus Europa vor den Risiken auf See zu beeindrucken. Und selbst, wenn man den „humanitären Schleusern“ das Handwerk gelegt hat, bleibt immer noch die übrige Schifffahrt im Mittelmeer, die – siehe oben – laut internationalem Seerecht zur Hilfe verpflichtet ist.

Entgegen der Meinung vieler Gegner, drücken sich die Organisatoren der Rettungsmissionen auch nicht vor Veröffentlichung Ihrer Tätigkeit. Der Gründer und Vorsitzende des Regensburger Vereins Sea-Eye, Michael Buschheuer, hat sogar auf Einladung des italienischen Parlaments vor dem Schengen-Ausschuss ausführlich über die Arbeitsweise seiner Organisation berichtet und die Kooperationsvorwürfe als Unsinn abgetan. Er hält die Schlepper für das, was sie sind: Geldgierige Mörder!

Die Syrisierung Libyens

Viel eher sollten die hartherzigen Lebensraumschützer aus der Populistenszene, wenn sie schon nach dunklen Hintermännern wie George Soros fahnden, einem naheliegenderen Verdacht nachgehen: Wladimir Putin! Hatte er schon in Syrien mit seiner tatkräftigen Unterstützung der flächendenken Bombardements von Millionen von Menschen den Migrationsmotor angeworfen und die Flüchtlingsströme gewaltig anschwellen lassen, so ist er jetzt auch in Libyen aktiv – auf der Schleuserseite! Weite Teile des östlichen Libyens werden von Chalifa Haftar, einem ehemalig Gefolgsmann Gaddafis kontrolliert. Was Haftar für Putin so interessant macht, ist nicht nur, dass er die vom Westen unterstützte Regierung in Tripolis bekämpft – eine für Putin vorteilhafte Syrisierung Libyens also nicht ausgeschlossen erscheint – er hat auch eine gewisse Kontrolle auf die Schleuseraktivitäten, die ohne gute und vermutlich finanzielle Verbindung zu den lokalen Milizen ihrem mörderischen Handwerk nicht nachgehen können. Als der russische Flugzeugträger, die Admiral Kuszenow, nach getaner Arbeit – der Bombardierung Aleppos – auf der Rückreise war, machte er noch einmal vor Libyen halt, wo Haftar an Bord ging, um per Video mir dem russischen Verteidigungsminister zu konferieren. Inhalt unbekannt.

Es ist kein Geheimnis, dass Putin von den Flüchtlingswellen und ihren Folgen für die öffentliche Meinung profitiert. Seine Kontakte zu Europas rechtsextremen Parteien sind hinlänglich bekannt. Je mehr er zündelt, je mehr Flüchtlinge er nach Europa schleust, desto rabiater werden die Rufe nach einer Auflösung der „kraftlosen Union“ und desto eher kann sich Russland als neue Ordnungsmacht etablieren – in einem Eurasien, das nach Meinung des russischen Vordenkers und Slavo-Nazis, Alexander Dugin, von Lissabon bis nach Wladiwostok reicht. Sowjetunion 2.0.

Warten auf den nächstbesten Eisberg

Was also tun? Die Menschen retten, um sie dann irgendwo an der nordafrikanischen Küste wieder abzuladen, wie manche Menschen mit etwas mehr Skrupeln als Alice Weidel fordern? Dagegen sprächen neben verfassungsrechtlichen Bedenken (dem garantierten Anspruch auf Asylantrag) und dem zu erwartenden Zustimmungsvorbehalt solcher Deponieländer auch noch humanitäre Gründe: Schiffbrüchige in Libyen abzuliefern, wäre in etwa so, als hätte man die Überlebenden der Titanic auf dem nächstbesten Eisberg abgesetzt.

Es soll hier nicht an dieser Stelle über die unbestreitbaren Vorteile von geregelter (!) Migration gesprochen werden – der Bundesverband der Industrie (BdI) hat hier deutlich Position bezogen – auch nicht über die Selbstverständlichkeit, dass man Krankheiten nicht an Ihren Symptomen kuriert, sondern an der Wurzel, aber eines sollte klar sein: Man mag die Menschen nicht mögen, die kurz vor dem Ertrinken stehen, man mag ihre Traditionen, Gebräuche und religiösen Eigenarten verabscheuen, aber sie ertrinken zu lassen, bedeutet moralisches Versagen und ist ein klarer Rechtsbruch nach 323c StGB und der Genfer Flüchtlingskonvention.

Menschen in Not zu retten, ist Teil unserer westlichen DNA, die uns dazu befugt, auch dort militärisch einzugreifen, wo Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Menschen in Not brauchen einen sicheren Hafen! Und das gilt nicht nur für Nord- und Ostsee, wo die Rettung Schiffbrüchiger selbstverständlich erscheint, sondern auch im Mittelmeer.

Spenden für die Sea-Eye