Aus Angst vor Rassismus-Vorwürfen arrangiert sich die politische Linke bisweilen selbst mit muslimischen Fundamentalisten. Und wenn sich Linke den totalitären Forderungen von Islamisten ergeben, sind die Leidtragenden meistens eines: weiblich. Von Judith Sevinc Basad.

Wer schon einmal über den Berliner Kurfürstendamm, die Stuttgarter Königstraße oder irgendeine andere deutsche Einkaufsmeile flaniert ist, wird sie kennen: die Außendienstmitarbeiter der Hilfsorganisationen. Mit einem Lächeln und dem Hinweis darauf, dass schon fünf Euro ein Menschenleben retten können, appellieren sie an das Gewissen der vorbeieilenden Passanten. Und das häufig mit Erfolg.

Denn wer sich erstmal überreden lassen hat, Geld an die Kinder in Somalia, Jemen oder Kambodscha zu überweisen, belässt es meistens nicht bei fünf, sondern spendet nicht selten gleich 50 oder gar 500 Euro.

Sigmund Freud erkannte hinter diesem Phänomen einen psychologischen Mechanismus, den er das „Paradox des Über-Ich“ taufte: Je mehr man sich den Forderungen des Gegenübers fügt, desto größer wird die eigene Schuld, wenn man sich den Forderungen widersetzt. Oder praktisch gesprochen: Unser Schuldgefühl darüber, nicht noch mehr Kinderleben gerettet zu haben, wächst mit der Summe, die wir nach Afrika überweisen.

Doch das Paradox ist nicht nur Hilfsorganisationen bei der Kaltakquise nützlich. Auch islamistische Fundamentalisten appellieren bei ihren Forderungen an das schlechte Gewissen ihrer Opfer. So beteuerte Oskar Lafontaine, wenige Wochen nachdem Islamisten im November 2015 Paris in Blut getränkt hatten, sein Verständnis für die Wahnsinnstat: „Was sollen die Armen machen im Vorderen Orient, die seit Jahren dem Kolonialismus ausgesetzt sind?“, fragte der Saarländer damals. „Sie haben keine Bomben, sie haben keine Raketen, sie haben keine Heere, die sie auf den Weg bringen können, um ihre Interessen zu wahren – und dann greifen sie zum Selbstmordattentat.“ Lafontaine übernahm damit das Narrativ der Islamisten, die in ihrem Bekennerschreiben geschrieben hatten, die Anschläge seien als „gesegneter Kriegszug“ auf das „kreuzzüglerische Frankreich“ zu verstehen.

Linke in der Über-Ich-Falle

Rechtfertigungsversuche nach Lafontainescher Art sind in der politischen Linken längst keine Einzelfälle mehr. Im Gegenteil, wenn es um Schuldzuweisung durch Islamisten geht, tappen Linke regelmäßig in die Über-Ich-Falle. Das ist auch dem Philosophen Slavoj Žižek aufgefallen: Linksliberale litten unter einer „pathologischen Angst“, sich des Rassismus und der Islamophobie schuldig zu machen, schrieb der Slowene. Diese Furcht sei so weit verbreitet, dass Linksliberalen lieber islamistischen Terror legitimierten, als in der Öffentlichkeit als Rassist denunziert zu werden.

Wenn sich Linke den totalitären Forderungen von Islamisten ergeben, sind die Leidtragenden dabei zumeist eines: weiblich. So reiste im Februar eine Delegation der schwedischen Regierung nach Iran. In ein Land also, das Frauen seit Jahrzenten Bürgerrechte entzieht und zur Verschleierung zwingt. Tausende Frauen werden jährlich von der iranischen Moralpolizei wegen Verstößen gegen die islamischen Kleidungsvorschriften schikaniert und verhaftet.  

Doch anstatt Präsident Hassan Rohani vor die Füße zu spucken und sich mit den iranischen Widerstandskämpferinnen von „My Stealthy Freedom“ solidarisch zu erklären, entschieden die Vertreter der „ersten feministischen Regierung der Welt“ (Eigenbeschreibung), lieber ein Kopftuch über die Haare zu ziehen und demütig zu lächeln.

Morddrohungen wegen ein paar Reimen

Es sind dabei nicht länger nur iranische Frauen, die bei der Kritik am islamischen Schleier Kopf und Kragen riskieren. Auch deutsche Rapperinnen müssen neuerdings mit Gewaltandrohungen rechnen, wenn sie auf den Sexismus hinweisen, der mit der Verhüllung verbunden ist. Nun mag man die Art und Weise der Kritik, mit der die Rapperin Pilz ihren Battle-Rap-Gegner Nedal Nib in die Knie gezwungen hat, geschmacklos finden.

 

Wirkungsvoll war sie aber allemal: Denn für einen Moment stockte ihrem Kontrahenten sichtbar der Atem, als sich Pilz einen Hijab über den Kopf stülpte und sich über das islamische Frauenbild lustig machte. Heftiger noch reagierten die Fans: die Lübeckerin wurde in den folgenden Tagen mit Gewalt- und Morddrohungen überhäuft. Ausgerechnet die Rap-Szene, die sich ansonsten bei der Bewertung von Frauen in atemberaubenden Tiefen bewegt, warf Pilz vor, eine „Grenze überschritten“ zu haben.

Auf Solidaritätsbekundungen aus den Reihen deutscher Feministinnen brauchen weder die mutigen Frauenrechtlerinnen aus Teheran, noch die Rapperin aus Lübeck hoffen. Denn die Feministen sind ihrerseits seit Jahren damit beschäftigt, den islamischen Schleier als gesellschaftliche Normalität umzudeuten.

Die Argumentationslinie verläuft dabei Analog zu der von Lafontaine: Kopftuch tragende Frauen werden nicht etwa als Opfer des islamischen Patriarchats, sondern als Opfer deutscher Rassisten begriffen. Das konnte man vor zwei Jahren im „Vice“-Magazin nachlesen.

Die Angst sitzt tief

Frauen fänden demnach weder Job noch Wohnung allein aus dem Grund, „weil manchen Arbeitgebern und Vermietern die Wahl ihrer Kopfbedeckung nicht passt.“ Auch hier ergibt sich das linke Gewissen den frauenverachtenden Forderungen einer muslimischen Männerherrschaft. Denn den Fehler begeht hier nicht die westliche Gesellschaft, die den Hijab nicht akzeptieren will, sondern das islamische Patriarchat, das für die negative Bedeutung des Schleiers verantwortlich ist.

Doch die Angst, sich des Rassismus schuldig zu machen sitzt tief unter den deutschen Feministen. So tief, dass sie die misogyne Realität des Alltags im Nahen Osten totschweigen und den Schleier als modisches Accessoire oder Zeichen der Emanzipation verharmlosen. Denn nichts Anderes geschieht, wenn die hiesigen Medien von der „Taz“ bis „Bento“ Hijab, Nikab und Burka in eine Reihe mit dem Kopftuch einer „schwäbischen Großmutter“, der Queen und sogar dem Pali-Tuch von Yassir Arafat stellen.

Eine von der „FAZ“ veröffentlichten Studie der Vereinten Nationen hat jüngst vor Augen geführt, wie sich steinzeitliche Rollenverständnisse in Ländern wie Ägypten, Libanon, Marokko und den palästinensischen Autonomiegebieten manifestiert haben. Zitat: „Unter den Palästinensern beispielsweise sahen es achtzig Prozent als wichtigste Aufgabe der Frauen an, sich um den Haushalt zu kümmern. Ebenso viele in allen vier Ländern meinten, dass der Zugang zu Jobs zuerst den Männern vorbehalten sein sollte. Und auch dass Männer in ihren Familien den Ton angeben, also etwa entscheiden, welche Freiheiten ihre Ehefrauen genießen, was sie tragen und wohin sie gehen dürfen, wurde von mehr als zwei Dritteln aller männlichen Befragten unterstützt.“

Warum sollten es also ausgerechnet die agnostischen Hipster-Emanzen aus der deutschen Medienbranche sein, die die Deutungshoheit über das islamische Kopftuch besitzen? Und warum machen sich gerade die schärfsten Kritiker des „Eurozentrismus“ einer derartigen Ignoranz schuldig? Bewerten sie ihre Schützlinge am Ende gar selbst aus einer „weißen Perspektive“ heraus?

Die Ablehnung, die kopftuchtragende Frauen in Deutschland zu spüren bekommen, mag für die Betroffenen eine schmerzhafte Erfahrung sein. Dennoch müssen sich Muslimas in Deutschland darüber bewusst sein, welche Bedeutung das Tuch in der Mehrzahl der muslimischen Länder einnimmt – und mit Kritik umgehen können.

Unterdrückung und Repression in der islamischen Welt dürfen in Deutschland nicht einfach totgeschwiegen werden. Nicht durch einen blauäugigen Kulturrelativismus und schon gar nicht durch den verkappten Über-Ich-Komplex der linken Feministen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf dem Tagesspiegel-Debattenportal „Causa“.