Briten, die bei der Neuwahl eine klar pro-europäische Stimme abgeben wollen, werden von Labour enttäuscht. Jeremy Corbyn ist nur noch Belastung für die Partei.

Jeremy Corbyn zeigt sich im selben Maße politisch unfähig wie Theresa May strategisch genial. Während die britische Premierministerin mit dem plötzlichen Ausrufen von Neuwahlen ihr taktisches Meisterstück geschaffen hat, steht Labour-Chef Corbyn in seiner ersten Reaktion wieder bräsig da und spricht ungelenk davon, Großbritannien könne „besser regiert“ werden als von den Torys. Britischen EU-Anhängern, von denen nicht wenige ihr Land in der größte Krise der Nachkriegsgeschichte wähnen, muss das wie eine grobe Untertreibung vorkommen. Gefragt nach Wahlkampf-Positionen sagt er: „Make Brexit work for all“ und verweist auf soziale Ungleichheit und Schulbildung. Will er mit einer derart schwammigen Aussage die „Remainers“ für sich einnehmen, für die der Kampf gegen den Brexit ein Herzensanliegen ist? Agiert so ein Anführer, der seine Leute für einen Wahlkampf anspornt?

May also hat die Chuzpe , im Angesicht eines Umfragehochs (die Torys liegen rund 20 Prozent vor Labour) Neuwahlen anzustreben und die Ursache dafür auch noch der Opposition zuzuschieben. Großbritannien nämlich sei „vereint“, aber die Oppositionsparteien trieben ein „politisches Spiel“ mit dem Brexit. Das ist eine dreiste Verdrehung der Realität: Die britische Gesellschaft ist in der Brexit-Frage nach wie vor hoch gespalten, und wenn jemand aus strategischen Gründen mit dem Brexit gespielt hat, dann sind es ihre Torys, genau wie auch die Neuwahl taktische Gründe hat. Ohne die Zockerei ihres Vorgängers David Cameron und der rein taktischen „Vote Leave“-Unterstützung von Tory Boris Johnson  wäre Großbritannien nie in seine jetzige missliche Lage geraten.

Corbyn nimmt die Herausforderung der Brexiteers gar nicht erst an

Doch Corbyn lässt May am Tag ihres überraschenden Statements in der Downing Street einfach gewähren, statt ihr ihre Aussagen verbal um die Ohren zu hauen. Er ist dafür, dass seine Labour-Partei im britischen Parlament der Neuwahl zustimmt. Eine Ablehnung von Mays Ansinnen sähe auch nach Kneifen aus, zumal wenn Corbyn sie vertreten müsste. Dabei hatte May bis vor kurzem noch behauptet, eben keine Neuwahl anzustreben. Die Labour-Partei unterschreibt damit praktisch ihr eigenes Todesurteil für diese Generation – und sie hat nicht mal eine konsensfähige Brexit-Position für den Wahlkampf.

Während May die Situation so darstellt, als komme der Brexit so zwangsläufig wie ein Naturereignis, eine deutliche Mehrheit an Tory-Stimmen verschaffe ihr aber eine bessere Verhandlungsposition gegenüber der EU, will Corbyn den Ausgang des Referendums „anerkennen“, zugleich aber auch der Bedeutung des Handels mit der EU gerecht werden und daher mit deren Vertretern „reden“.

Wenn May die Neuwahl zum Votum über den Brexit erklärt, könnte Corbyn mit Labour auch in die Fundamentalopposition gehen und sich klar gegen den Brexit positionieren, die Debatte um den EU-Austritt also entschlossen neu aufmachen. Oder zumindest darauf beharren, dass May ihr Versprechen einhalten muss, dass Großbritannien nach dem Brexit „genau so gut“ dasteht wie als EU-Vollmitglied (was illusorisch ist). Doch Labour unter Corbyn nimmt die Herausforderung von den Brexiteers gar nicht erst an.

Eigentlich hatte der 67-Jährige  ja angekündigt, mit der Labour-Partei gegen einen ausgehandelten Brexit-Deal zu stimmen, wenn das Land damit schlechter wegkommt. Die Neuwahl am 8. Juni dürfte dafür sorgen, dass Labour dafür keine klare Rückendeckung aus der Bevölkerung mehr hätte.

Und Corbyn, der oft wirkt wie ein kraftloser Erdkunde-Lehrer, der sich mit Ach und Krach zur Frühpensionierung schleppt, macht keinerlei Anstalten, aus der neuen Situation für den jetzigen Wahlkampf die gebotene Kampfeslust zu ziehen. Das ist ein Schlag ins Gesicht für die „Remainer“, die sich gern auch „the 48 per cent“ nennen – die 48 Prozent der britischen Wähler, die eben für den Verbleib in der EU gestimmt haben und sich nun nicht mehr selbstbewusst repräsentiert sehen. Die Liberaldemokraten könnten auf sie nun eine Sogkraft entfalten. Womöglich würde dafür mittlerweile sogar das Versprechen eines „soft Brexit“ ausreichen.

Mit Londons Bürgermeister Sadiq Khan stünde eine Alternative bereit

Man fragt sich, was Jeremy Corbyn für eine Selbstwahrnehmung hat. Es ist offenkundig, dass Labour unter seine Führung keine Chance hat, gegen die Torys einen Stich zu machen, obwohl sie zumindest in der Brexit-Debatte quasi alle Argumente auf ihrer Seite hätten. Und dennoch macht der Mann seinen Posten nicht frei. Wie soll Corbyn zum Beispiel die karrieregetriebene Brexit-Zockerei von Johnson und Cameron glaubwürdig verurteilen, wenn er selbst aus Eitelkeit an seinem ohnehin nicht zu haltenden Posten klebt?

Dabei stünde mit dem unideologischen Pragmatiker und Bildungsaufsteiger Sadiq Khan, der seit 2016 Bürgermeister von London ist, ein anerkannter und zudem klar pro-europäischer Macher bereit, der als Spitzenkandidat praktisch im Schlaf mehr Stimmen holen dürfte als Corbyn – sogar losgelöst von der EU-Frage. Dass Corbyn nicht mehr lange Labour-Chef bleiben wird, gilt als geradezu logisch. Seiner Partei täte es gut, wenn er das erkennen würde, bevor sie am 8. Juni eine historische Niederlage einfährt – und damit den Brexit für eine gestärkte Premierministerin Theresa May zur legitimen und historisch zwingenden Aufgabe macht.