Bertolt Brecht liebte sein Radio, und unser Autor ist besessen von seinem Lied auf das einstige Leitmedium. Doch Hannes Stein hat Angst vor dem, was die modernen Leitmedien womöglich bald melden werden.

Schwierig, Obsessionen zu erklären. Ich bin zurzeit von einem kleinen, großen Lied besessen, dessen Text von Bertolt Brecht stammt und das so geht:

 

An den kleinen Radioapparat 

Du kleiner Kasten, den ich flüchtend trug
Dass seine Lampen mir auch nicht zerbrächen
Besorgt vom Haus zum Schiff, vom Schiff zum Zug
Dass meine Feinde weiter zu mir sprächen

 An meinem Lager und zu meiner Pein
Der letzten nachts, der ersten in der Früh
Von ihren Siegen und von meiner Müh:
Versprich mir, nicht auf einmal stumm zu sein.

 

Ich summe diese Zeilen vor mich hin – in der schönen, berührenden Melodie von Hanns Eisler. (Die beste Version, die ich auf Youtube gefunden habe, singt Theo Bleckmann, ein Deutscher, der – wie ich – in New York lebt und den ich vielleicht mal kennenlernen sollte.)

Bevor jetzt jemand mit den offenkundigen Einwänden kommt: Stimmt, Brecht war ein Arschloch, er hat Frauen ausgebeutet und die stalinistischen Moskauer Prozesse verteidigt. Und ja, die Agitprop-Lieder, die Brecht und Eisler zusammen geschrieben haben, sind („Drum links, zwei drei!“) militaristischer Schwachsinn; hochartifizieller, gut gemachter, ideologischer Dreck. Das ändert aber nichts daran, dass Brecht ein großer Dichter war – und die Lieder, die Eisler aus Brechts Exil-Gedichten gemacht hat, gehören (für mich) zum Wunderbarsten, was die deutsche Kultur im grässlichen 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. „Oh Sprengen des Gartens, das Grün zu ermutigen!“ Und: „Die Vaterstadt, wie find ich sie doch?“ Aber eben auch dieses Lied, das mir längst zum Ohrwurm geworden ist.

Bumbumbum-Bumm!

Manchmal stelle ich mir vor, ich wäre Lehrer und müsste einer Schulklasse die Lieder von Brecht und Eisler nahebringen. Als erstes müsste ich den Jungen und Mädchen zu diesen acht elegant gereimten Zeilen wohl erklären, dass Radios zu Brechts Zeit noch klobige, schwere Geräte waren, in denen sich – jawohl – richtige „Lampen“ befanden. Dann würde ich ihnen vielleicht ein paar Sachen vorspielen, die Brecht im Radio gehört haben könnte – Reden von Churchill, von Hitler, von Roosevelt, das Erkennungszeichen der BBC: „Bumbumbum-Bumm!“

Anschließend müsste ich ihnen auf einer Landkarte wohl Brechts Fluchtroute zeigen: Zuerst nach Prag, als zweites nach Zürich, drittens nach Paris, von dort viertens nach Dänemark, aus Dänemark – als es von den Deutschen besetzt wurde – fünftens nach Finnland, endlich schnurstracks durch die Sowjetunion (Brecht war ja kein Idiot), wo er seine sterbende Geliebte Margarete Steffin zurückließ, um sechstens das letzte Schiff nach Amerika zu besteigen. Dieses Gedicht müsste um 1940 herum entstanden sein. Ich würde meiner fiktiven Schulklasse also vom Hitler-Stalin-Pakt erzählen und ihnen sagen, dass der parteilose Kommunist Bertolt Brecht aus Augsburg damals auf dem Landgut seiner Freundin Hella Wuolijoki in Finnland saß; dass er insgeheim seine Genossen verfluchte, die sich gerade mit dem Verbrecher aus Braunau verbündet hatten; dass Großbritannien, nachdem Frankreich in die Knie gebrochen war, ganz allein gegen die faschistischen Achsenmächte aushielt. Vielleicht würde ich auch abschweifen und ihnen vom „Tag des Nein“ und dem heroischen Krieg der Griechen gegen das faschistische Italien berichten, den die Griechen allerdings unter einem faschistischen Diktator führten. Mein wesentlicher Punkt wäre jedenfalls: Es gab damals gute Gründe für die Annahme, dass die Nazis ihren Krieg gegen die menschliche Zivilisation gewinnen würden (vielleicht mit Stalins Hilfe).

War Brecht Masochist?

Auf diesem komplizierten Weg würden wir endlich auf die Pointe zu sprechen kommen, auf die dieses Gedicht zugeschnitten ist: auf seine verblüffende letzte Zeile. Warum? würde ich meine Schulklasse fragen. Warum, zum Teufel, wünscht sich dieser Brecht, „dass meine Feinde weiter zu mir sprächen“? Ist der Mann ein Masochist?

Vielleicht würden die Mädchen – die in diesen Dingen erfahrungsgemäß praktischer denken – mir sagen, dass Brecht die Nachrichten hören muss, damit er weiß, ob er sich in akuter Lebensgefahr befindet und wo er als nächstes hinfliehen könnte. (Das Gedicht, das in meiner Sammlung von Brechts Gedichten vor diesem kommt, endet so: „Neugierig / Betrachte ich die Karte des Erdteils. Hoch oben in Lappland / Nach dem nördlichen Eismeer zu / Sehe ich eine kleine Tür.“) Die Jungs würden dann wahrscheinlich auf die raffiniertere, die dialektische Pointe stoßen, dass derselbe zerbrechliche, kleine Radioapparat, der Brecht heute noch „von ihren Siegen und von meiner Müh“ erzählt, ihm morgen schon vom Sieg der Guten im Weltkrieg künden wird. Ich würde die Jungs dann fragen, warum Eislers schöne, eindringliche Musik von diesem vorweggenommenen Triumph eigentlich gar nichts ausdrückt; warum sie so melancholisch verhalten ist, von der leisen Ironie der Romantik durchdrungen.

Keine Lust auf Nachrichten

Natürlich hat die Schulklasse, die ich mir zusammenphantasiere, keine Ahnung, warum ich von diesem Lied in diesem historischen Augenblick dermaßen besessen bin. Und ich selber weiß es, ehrlich gesagt, auch nicht. Die Wahrheit ist, dass ich im Moment just den entgegengesetzten Impuls verspüre: Ich will eigentlich so wenig Nachrichten sehen und hören wie möglich. Ich will nicht wissen, ob Putins Truppen schon im Baltikum einmarschiert sind; ob längst der große Terroranschlag passiert ist, der den Herren Trump und Bannon als Vorwand dienen wird, das große Experiment „amerikanische Republik“ zu beenden. Ich will nicht wissen, welche syrische Stadt das Assad-Regime als nächstes zu Schutt und Asche bombt – womöglich mit amerikanischer Hilfe – und ob die iranische Atomwaffe schon fertig ist. Ich will nicht wissen, ob wir uns schon im Krieg mit China befinden. Ich will mit meiner Familie zusammen sein und Tolstoi lesen. Und immer wieder dieses Lied hören, das mich auf seltsame, unerklärliche Art tröstet, als handle es sich um ein säkulares Mantra: „Versprich mir, nicht auf einmal stumm zu sein.“