Der SPD-Kanzlerkandidat bedient nur das Thema Soziale Gerechtigkeit. Das wird nicht reichen. Merkels Hinterlassenschaft ist weit komplizierter.

Gegenwärtig reicht es offenbar, nicht Angela Merkel oder Sigmar Gabriel zu sein, um einen lange nicht gekannten Aufstieg in der deutschen Öffentlichkeit zu erleben und gleich eine ganze Volkspartei aus dem Dornröschenschlaf zu wecken. Außerdem profitiert Martin Schulz davon, dass er sich in seinem Auftreten in einem hohen Maße von der Kanzlerin abhebt. Er bringt Spontaneität und Emotionalität zurück in die Politik. Zur Zeit genügt es dem Kandidaten noch, dass SPD-Thema soziale Gerechtigkeit rhetorisch zu bedienen, um CDU/ CSU vor sich her zu treiben. Doch wie lange ist diese Taktik erfolgversprechend? Viel spricht dafür, dass Martin Schulz in die Tocquevillefalle tappt, wenn er seine thematische Basis nicht verbreitert: Der französische Philosoph hatte bereits im 19. Jahrhundert erkannt, „dass sich mit dem Abbau sozialer Ungerechtigkeiten gleichzeitig die Sensibilität gegenüber verbleibenden Ungleichheiten erhöht“. Sein Diktum gilt heute mehr denn je. Deshalb ist die Suche nach „Gerechtigkeitslücken“ unendlich. Und sie verstellt den Blick für die eigentlichen Herausforderungen.

Wenn die SPD sich breiter aufstellen will, dann sollte sie sich kritisch mit dem Erbe der Kanzlerschaft Angela Merkels beschäftigen. Das ist bisher kaum geschehen; über eine lange Zeit hatte die Kanzlerin einen kaum gekannten Amtsbonus und wurde weit über ihre Partei hinaus, für ihren Politikstil gefeiert. Nun gilt es Bilanz zu ziehen und die Probleme endlich wieder zu benennen, die in den vergangenen zwölf Jahren entstanden sind. Die größten Baustellen befinden sich in der Energie-, Außen- und Sicherheitspolitik, wo Deutschland und Europa heute vor Herausforderungen stehen, die zu Beginn der Kanzlerschaft Angela Merkels noch nicht abzusehen waren.

Versorgungssicherheit in Gefahr

Zum Erbe Merkels gehört eine Energiewende, die den Verbrauchern zwar hohe Stromkosten beschert hat, die aber – wie der Januar gezeigt hat – zunehmend die Versorgungssicherheit im Industrieland Deutschland gefährdet. Die hohen Subventionen verzerren den Strommarkt und ein Ende der Belastungen ist nicht abzusehen. Merkel hat die unpopuläre Atomenergie in einsamer Entscheidung und ohne öffentliche Debatte nach Fukushima und vor einer Landtagswahl geopfert. Angesichts der bestenfalls ambivalenten Ergebnisse dieser Merkelschen Wende, die auch zunehmend unsere europäischen Nachbarn belastet, wäre es an der Zeit, die nie geführte Debatte über deutsche und europäische Energiepolitik nachzuholen. Das ist allemal besser, als rituell die Erfolge einer Energiewende zu loben, die kein einziges anderes Land so nachvollzogen hat. Als Europapolitiker sollte Schulz wissen, dass Berlin hier einen neuen Konsens mit seinen Nachbarn anstreben sollte. Als Sozialdemokrat sollte er für niedrige Verbraucherpreise eintreten.

Die Politik gegenüber unseren Partnern in der Europäischen Union gehört zu den problematischsten Hinterlassenschaften von Angela Merkels. Ihr (und Wolfgang Schäubles) Credo Germany first haben einen Flurschaden angerichtet, der immer deutlicher sichtbar wird. Nach der EURO- und der Flüchtlingskrise sind antideutsche Ressentiments mittlerweile im Süden wie im Osten der Union weit verbreitet. Merkels migrationspolitische Alleingänge und die Austeritätspolitik ihres Finanzministers waren und sind kostspielig. Dabei sind auch in Europa die großen Debatten nicht geführt worden: sind wir immer noch auf dem Weg zu einer ever closer Union? Nach dem Brexit erscheinen die großen europapolitischen Glaubenssätze fragwürdig. Und Martin Schulz wird auch wissen, dass die Probleme des EURO keineswegs überwunden sind. Hier wurde von Merkel stets nur Zeit gekauft und keine Lösung erarbeitet. Wenn Martin Schulz es mit Europa ernst meint, dann sollte schließlich sein Versprechen sozialer Gerechtigkeit nicht nur für deutsche Arbeitnehmer gelten, sondern eben auch für griechische oder italienische Jugendliche – für die Opfer von zwölf Jahren Angela Merkel. Hat der SPD-Kandidat den Mut, über Konstruktionsfehler im europäischen Haus nachzudenken oder will er weiter den Weg der Kanzlerin gehen, die stets deutsche Lösungen für europäische Probleme fand?

Deutschland im Zeitalter der autoritären Revolution

Den vielleicht größten Herausforderungen muss sich ein zukünftiger Kanzler schließlich auf dem Feld der Sicherheitspolitik stellen – traditionell nicht gerade eine Stärke Berlins. Hier gilt es, Deutschland im Zeitalter der autoritären Revolution neu zu positionieren und die Europäische Union zu sichern. Weder Wladimir Putin noch Donald Trump werden es Berlin und Brüssel leicht machen. Im Gegenteil: wir müssen lernen, uns in einem außenpolitischen Feld zu bewegen, das auch von unseren Gegnern bestimmt wird. Angela Merkel ist es in den vergangenen zwei Jahren gelungen, Europa in der Frage der Sanktionen gegen  Moskau zu einen. Wird die nächste deutsche Regierung genug Gewicht haben, weiterhin eine gemeinsame Haltung durchzusetzen? Und wie wird sich Martin Schulz generell in ostpolitischen Fragen positionieren?

Teile der SPD trauern noch immer der verlorenen Partnerschaft mit dem Kreml nach und haben den russischen Angriff auf die Ukraine (und auch auf die EU) weitgehend ignoriert. Als Europapolitiker sollte Schulz verstehen, dass die Schwächung der EU eines der primären Ziele Moskaus ist. Und auch in der Ostpolitik wirft das Erbe der Merkeljahre Probleme auf: Mit Minsk existiert ein Friedensabkommen auf dem Papier, das sich in der Realität kaum umsetzen lässt. Es handelt sich nur um einen Waffenstillstand, nicht mal um den Kern einer tragfähigen Friedensordnung. Denn die großen Fragen sind weiter offen: Mit welchen Partnern und welcher Strategie kann es Berlin gelingen, Frieden und Stabilität in Osteuropa wieder herzustellen? Um welchen Preis? Auch diese Fragen sind offen und vor ihrem Hintergrund ist es höchst erstaunlich, dass die Bundesregierung weiter an dem deutsch-russischen Pipelinieprojekt „Nord Stream II“ festhält. Ist es denn in deutschem Interesse, den Kreml weiter zu finanzieren, dessen Politik sich gegen unsere Verbündeten und die Europäische Union richtet? Auch hier wird ein Umdenken erforderlich sein.

Kurzum: wer immer ab dem Herbst in Deutschland regiert, wird sich den großen europäischen Themen Energie, EU-Reform und Sicherheit widmen müssen. Auch Martin Schulz. Es werden nicht nur leichte Entscheidungen zu fällen sein. An zahlreichen Stellen gilt es, Weichenstellungen der Ära Merkel zu korrigieren – das zeigt eine kritische Bilanz. Ein kluger Kanzlerkandidat wird sich nicht auf das Thema soziale Gerechtigkeit beschränken können. Weitaus dringendere Probleme werden ihn rasch einholen.