Wie das Leben weiterging, als die Zeit stehenblieb. Bis es eben nicht mehr weiterging.

Natürlich hat sich in Wahrheit überhaupt nichts verändert. Meine schwarze Nachbarin grüßt mich so freundlich wie seit eh und je, und ich grüße freundlich zurück; kein frommer Jude denkt daran, auf den Straßen von Manhattan oder der Bronx anders als mit Jarmulke herumzulaufen; neulich an der Supermarktkasse standen hinter mir zwei muslimische Mädchen mit Kopftuch und lachten. Und mein dreijähriger Sohn entzückt jeden Taxifahrer, indem er ihm zum Abschied ein vergnügtes „Adios!“ zuruft. (Da die meisten Taxifahrer tatsächlich Latinos sind, passt das auch.) Man könnte glatt vergessen, dass soeben ein Lügner und Rassist zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde, der einen faschistischen Mob auf die Beine gebracht hat. Ein Mann, der von der völkischen „Alt-Right“ mit Hitlergruß gefeiert wird.

Unser sozialistischer Bürgermeister – fuck him und Gott schütze ihn – hat gerade in einer Ansprache erklärt: „New York ist immer noch New York.“ An Maßnahmen der Bundesregierung, die sich gegen Einwanderer richten, werde man sich selbstverständlich nicht beteiligen. Juden, Muslime und Schwule, überhaupt jeder, der von rassistischen „hate crimes“ betroffen sei, könne auf den Schutz der New Yorker Polizei bauen. Und ich denke: Vielleicht bin ich wirklich hysterisch. Vielleicht bedeutet der Wahlsieg von Donald Trump gar nicht, dass das Ende der liberalen Demokratien und des freien Westens gekommen ist. Vielleicht wird das einfach nur ein phantastisch schlechter Präsident, und in ein, zwei, spätestens in vier Jahren ist der Albtraum zu Ende. Vielleicht steuern wir gar nicht blind auf einen Ausrottungskrieg zu, der von unserer Zivilisation nicht viel übriglassen wird.

Aber dann fällt mir eine Szene aus einem meiner Lieblingsbücher wieder ein: Stefan Zweig, „Die Welt von Gestern“. Er beschreibt dort, wie er in dem Örtchen Baden bei Wien vom Tod des Thronfolgers und seiner Gattin in Sarajewo erfuhr. „Der Tag war lind; wolkenlos stand der Himmel über den breiten Kastanienbäumen, und es war ein rechter Tag des Glücklichseins. Nun kamen für die Menschen, die Kinder bald die Ferien, und sie nahmen mit diesem ersten sommerlichen Feiertag gleichsam schon den ganzen Tag voraus mit seiner seligen Luft, seinem satten Grün und seinem Vergessen der täglichen Sorgen.“ Der Schriftsteller liest ein Buch, im Kurpark spielt eine Kapelle, er hört die Melodie, ohne sich durch sie gestört zu fühlen. „So hielt ich unwillkürlich im Lesen inne, als plötzlich mitten im Takt die Musik abbrach. Ich wusste nicht, welches Musikstück es war, das die Kurkapelle gespielt hatte. Ich wusste nur, dass die Musik mit einemmal aussetzte. Instinktiv sah ich vom Buche auf. Auch die Menge, die als eine einzige flutende helle Masse zwischen den Bäumen promenierte, schien sich zu verändern; auch sie stockte plötzlich in ihrem Auf und Ab.“ Als der Schriftsteller näher tritt, bemerkt er, dass die Menschen „sich in erregten Gruppen vor dem Jusikpavillon um eine offenbar soeben angeheftete Mitteilung zusammendrängten.“ Es ist die Depesche von dem Meuchelmord an Franz Ferdinand und Sophie.

Doch dann geht das Leben, geht der Sommer weiter. Stefan Zweig fährt nach Le Coq, das ist ein belgisches Seebad in der Nähe von Ostende. „Die Urlaubsfreudigen lagen unter ihren farbigen Zelten am Strande oder badeten, die Kinder ließen Drachen steigen, vor den Kaffeehäusern tanzten die jungen Leute auf der Digue. Alle denkbaren Nationen fanden sich friedlich zusammen, man hörte insbesondere viel deutsch sprechen, denn wie alljährlich entsandte das nahe Rheinland seine sommerlichen Feriengäste am liebsten an den belgischen Strand. Die einzige Störung kam von den belgischen Zeitungsjungen, die, um den Verkauf zu fördern, die drohenden Überschriften der Pariser Blätter laut ausbrüllten: `L´Autriche provoque la Russie´, `L´Allemagne prépare la mobilisation´. Man sah, wie sich die Gesichter der Leute, wenn sie die Zeitungen kauften, verdüsterten, aber immer bloß für ein paar Minuten. Schließlich kannten wir alle diese diplomatischen Konflikte schon seit Jahren; sie waren immer in letzter Stunde, bevor alles es ernst wurde, glücklich beigelegt worden.“

Und so beruhigen auch wir uns: Es wird schon alles gut gehen, sagen wir. Marine le Pen wird die Wahl in Frankreich schon nicht gewinnen. Die „checks and balances“ des amerikanischen Regierungssystem werden den Rassisten mit der narzisstischen Persönlichkeitsstörung in Schach halten. Faschismus in Amerika – das geht doch gar nicht! Und wir überlesen den Bericht, dass die „hate crimes in New York (meinem New York!) um 31 Prozent angestiegen sind. Überlesen, dass von den jungen Leuten in Amerika, den „millenials“, die nichts von der Geschichte wissen und offenbar über wenig Phantasie verfügen, drei Viertel wenig dagegen hätten, in einer Diktatur zu leben. Und wir malen uns lieber nicht in allzu drastischen Farben aus, was passiert, wenn morgen unter einem Präsidenten Trump auf dem Times Square eine schmutzige Bombe explodiert. Denn jene Bolschewisten des Islam, die der Welt ihre freudlose Vision aufzwingen wollen, sind unterdessen ja nicht zu liberalen Menschenfreunden mutiert.

Die Wahrheit in Stefan Zweigs Lebensbericht steckt eben in dem Moment, als in dem Örtchen bei Wien die Musik abbrach. Das, was nachher kam – das friedliche, völkerverbindende Gewimmel am belgischen Strand – war die Illusion. Ein paar Monate später verbluteten die jungen Männer Europas auf den Schlachtfeldern von Ypres, Verdun und der Somme. Noch nie in meinem Leben habe ich mir so sehr gewünscht, hysterisch zu sein.