Das türkische Wahlergebnis, speziell das in Deutschland, lässt einen zunächst wütend und ratlos zurück. Doch ein zweiter Blick lohnt sich.

Jubelfotos von Deutschtürken, die die Hand zum Faschistengruß der Grauen Wölfe erhoben haben, Autokorsos mit türkischen Fahnen und Kopftuchfrauen durch deutsche Innenstädte – die Bilder nach dem Referendum in der Türkei machen wütend. Aber ist Wut auch ein guter Ratgeber? Ein genauerer Blick auf die Zahlen lohnt. 1,4 Millionen Menschen in Deutschland waren für Erdoğans Referendum wahlberechtigt. 46,68 Prozent der Wahlberechtigten haben ihre Stimme abgegeben – das sind 653.502 Wähler. Von denen wiederum haben 63,07 Prozent mit Ja gestimmt. Das waren 412.149 gültige Stimmen. Und somit 29,44 Prozent aller in Deutschland stimmberechtigten Türken – ein gutes Viertel also. Oder anders formuliert: Gut 70 Prozent, weit mehr als zwei Drittel, haben nicht oder gegen das Referendum gestimmt.

Nun sind knapp 30 Prozent auch eine Menge, wenn man bedenkt, dass diese Menschen in einer Demokratie leben und von deren Strukturen entsprechend profitieren. Knapp 30 Prozent haben per Stimmzettel den Boden des Grundgesetzes verlassen, sind „Feinde der Demokratie und der Emanzipation und sollten in Deutschland als solche behandelt werden“, wie der Autor und Politologe Hamed Abdel Samad es in einem Facebookeintrag formuliert hat. Und natürlich haben wir mit diesen Leuten, die einerseits von der Demokratie profitieren und ihrer lauthals als „Heimat“ verklärten Türkei eine Diktatur an den Hals wählen, echte Integrationsprobleme.

Ein tröstlicher Schluss

Aber andererseits sind da auch 70 Prozent, die entweder Deutschland so sehr als Heimat sehen, dass sie gar nicht erst für ein anderes Land wählen gehen oder in politischer Opposition zu Erdoğan stehen. Dass darunter auch jede Menge Kurden, Aleviten und Assyrer sein mögen, entwertet ihr Verhalten nicht. Denn sie alle stehen für eine demokratische Türkei – oder zumindest bedeutet ihnen Deutschland mehr. Das ist ein tröstlicher Schluss, auf den auch deutsche Politiker entschlossen setzen sollten, mit Betonung auf entschlossen. Denn auch den beinahe 50 Prozent Neinsagern in der Türkei selbst muss Unterstützung zuteil werden. Und andererseits müssten auch wir uns fragen lassen, wieso die ersten Gastarbeiter 1955 ins Land geholt wurden, aber erst 2005 (!) Deutschsprachkurse Pflicht wurden. Integration ist auch Aufgabe des Gastlandes – durch Offenherzigkeit und Wertevermittlung. Interessant ist dabei, dass in der Schweiz, Israel, den USA und Großbritannien sowie in anderen Ländern das Referendum mit großer Mehrheit abgelehnt wurde. Es bleibt also auch für uns genug zu tun in Sachen Wertevermittlung.

EU muss Wertegemeinschaft sein

Und die funktioniert nur mit entschlossenem Handeln. So sollte die EU endlich einmal beweisen, dass sie eine Wertegemeinschaft ist, und kein opportunistischer Klub, der sich aus  Wirtschaftsinteressen speist. Denn dieses Verhalten macht auch wütend – und führt dazu, dass Länder wie die Türkei uns und unsere Werte nicht ernst nehmen. Konkret hieße das: Aus für die EU-Beitrittsverhandlungen, Aus für die Zollunion, Aus für die Visafreiheit. Erdoğans Türkei, die am Tropf Europas hängt, wäre so schnell zum Einlenken zu bringen. Denn bei einer verschärften Wirtschaftskrise würde das Volk seinen ab 2019 zum präsidialen Führer erkorenen Präsidenten schnell vom Hof jagen. Apropos vom Hof jagen: Auch die NATO sollte eine solche Option durchaus bedenken und durchspielen. Denn strategisch ist die Türkei doch längst nicht so wichtig, wie sie tut – würde man ein altes Gedankenspiel endlich Realität werden lassen: Israel rein in die NATO und die EU. Dann wäre das türkische Doppelspiel mit Syrien kein Problem mehr für Europa und das Verteidigungsbündnis. Statt in Incirlik könnte die NATO an der syrischen Grenze in Israel lauschen. Und Russland? Das hat vor Israel Respekt, vor der starken Armee, der Unbeirrbarkeit der politischen Führung und der Einheit des Landes nach außen. Weit mehr Respekt als vor Erdoğans Türkei übrigens – und so könnte Russland in Nahost vielleicht auf eine neue strategische Partnerschaft einschwenken und sich vom Westen wieder ernst genommen fühlen. Aber das ist nur ein Gedankenspiel.