Ein dummes und irres Manöver wie den Brexit gab es bereits 1960 in „When the Kissing Had To Stop“. Unser Autor hat das Buch erst jetzt gelesen und gruselt sich wegen der zeitgenössischen Parallelen.

Manchmal lohnt es sich, ein Buch dann zu lesen, wenn es zu spät ist. „When the Kissing Had To Stop“ von Constantine Fitzgibbon erschien 1960; der Roman wurde nach seinem Erscheinen mit Orwells „Nineteen Eighty-Four“ und Huxleys „Brave New World“ verglichen, eine Fernsehserie wurde gedreht, die auf dem Buch basiert – und Fitzgibbon wurde von linken Kritikern als „faschistische Hyäne“ bezeichnet, was ihn sehr amüsierte. Er schrieb danach eine regelmäßige Zeitungskolumne unter dem Titel „Betrachtungen einer faschistischen Hyäne“.

Constantine Fitzgibbon war aber in Wahrheit kein Faschist. Er mochte überhaupt keine Diktaturen, weder linke noch rechte. Er wurde 1919 in Massachusetts als Sohn eines irischen Vaters geboren, kämpfte im Zweiten Weltkrieg erst für die Briten, dann für die Amerikaner, lebte nach dem Krieg lange in England, war ein Bohemian und mit dem großen walisischen Dichter Dylan Thomas befreundet, zog am Ende nach Irland um, wo er 1983 starb.

„When The Kissing Had To Stop“ – der Titel ist eine Anspielung auf ein Gedicht von Robert Browning, das von dem Komponisten Baldassare Galuppi, eigentlich aber vom Niedergang Venedigs handelt. Der Moment, wenn die Küsse aufhören, ist der Moment, wenn die ganze Pracht und der Reichtum nichts mehr hilft, wenn die Republik und ihre Freiheiten kaputt gehen.

Die List der Sowjetunion

Constantine Fitzgibbon stellt sich in seinem Roman Folgendes vor: Was wäre, wenn in Großbritannien die Konservativen in einer fairen, demokratischen Wahl von Linken besiegt würden, die Mitglieder der „Campaign for Nuclear Disarmament“ sind? Kurz vor der Wahl erscheinen in allen britischen Briefkästen – wir dürfen vermuten, dank einer sowjetischen Propagandaoffensive – Flugblätter, die vor dem Atomkrieg warnen; danach siegen die Abrüstungsbefürworter. Die Sowjetunion hat zuvor schon so getan, als habe sie ein paar ihrer eigenen Atomraketen abmontiert, wir verstehen aber, dass das eine große Lüge ist.

Am unheimlichsten lesen sich von heute aus jene Szenen, die nach dem Wahlsieg der Linken spielen: Die feine Londoner Gesellschaft versucht so zu tun, als sei nichts geschehen und geht ins Theater; das politische Establishment macht weiter, als gäbe es noch eine westliche Allianz, eine liberale Friedensordnung. Gleichzeitig fängt die Polizei – unter einer linken Regierung! – an, eine brutale Politik des „law and order“ durchzusetzen: Huren werden in einem Lager in Hyde Park interniert. Bald wird auch noch eine Baracke für „politisch unzuverlässige Elemente“ eingerichtet. Und nachdem Großbritannien tatsächlich seine Atomraketen abgebaut und die Amerikaner aus dem Land geworfen sind, sind gleich auch die Sowjetrussen da. Sie müssen nicht mehr einmarschieren; sie haben den Krieg gewonnen, ohne einen Schuss abzufeuern. Die Königsfamilie geht nach Kanada ins Exil. Dann landen all jene nützlichen Idioten im Gulag, die diesen Sieg möglich gemacht hätten. Ein irischer KGB-Agent wird Chef der britischen Volksrepublik. Die Sowjetunion in ihrer großen Güte schickt sich an, die Hälfte der britischen Bevölkerung nach Sibirien umzusiedeln, weil die klimatischen Bedingungen dort günstiger sind. Allerdings gibt es eine Guerilla, die in den Bergen von Wales gegen die Besatzer und ihre Kollaborateure kämpft; sie wird angeführt von Felix Seligmann, einem zum Katholizismus konvertierten englischen Juden, der so patriotisch ist, wie das nur Einwanderer zu sein pflegen.

Furchtbar hellsichtig

Man versteht bei der Lektüre, dass die Linken von diesem Buch nicht entzückt waren. Gleichzeitig kann man gewiss den Kopf darüber schütteln, wie blind Constantine Fitzgibbon 1960 war; denn am Ende kam nicht die nukleare Abrüstung Großbritanniens, sondern Margaret Thatcher – und 1989 fiel die Berliner Mauer.

Jetzt aber zeigt sich, dass Constantine Fitzgibbon mit seinem Roman (den man nur noch antiquarisch bekommt) in Wahrheit furchtbar hellsichtig war. Denn er beschreibt einen Akt der mutwilligen Selbstzerstörung des Westens, und just einen solchen Akt erleben wir gerade: Der Brexit ist genauso dumm, genauso irre, wie es ein einseitiger Akt der Abrüstung mitten im Kalten Krieg gewesen wäre. Allerdings reichte die Phantasie des Romanciers nicht aus, um sich auszumalen, dass die Regierung der Vereinigten Staaten bei der Demontage der westlichen Ordnung voranschreiten würde. Und er wusste nicht, dass ausgerechnet britische Rechte sich als nützliche Idioten Moskaus erweisen würden.

Natürlich muss man heute nicht befürchten, dass am Ende britische Putinkritiker im Gulag verschwinden werden (wenngleich am Tag, als Großbritannie seinen Brief bei der EU abgab, im Kreml die Krimsektkorken geknallt haben). Befürchten muss man aber das, was Constantine Fitzgibbon in seinem Roman gerade nicht beschreibt: Krieg.