Zwei Politikertypen bestimmen aktuell die politische Agenda. Das ist schlecht für die liberalen Demokratien. Vor allem in Deutschland ist eine wichtige Fähigkeit abhanden gekommen.

Am Tag der Inauguration Trumps war in einer der vielen deutschen Sendungen über das Phänomen des Comeback-Präsidenten für einen kurzen Augenblick ein veraltetes Wahlplakat der Demokraten zu sehen, auf dem stand: „Together“. Ein Wort, eine Botschaft, die nicht gezündet hat. Stattdessen sitzt jetzt ein vulgärer, alter, mandarinenfarbiger Kerl im Weißen Haus und unterzeichnet Executive Orders (Präsidialanordnungen) wie ein Popstar Autogrammkarten. Er hat nun die Macht zu einer gewaltigen Korrektur, für die ihm das Volk ein eindeutiges Mandat gegeben hat. Aber Trump hat auch nicht appelliert an die große Vernunft in der Wählerschaft, an den „good guy“, sondern eine Verheißung ins Schaufenster gestellt, von dem sich der Anteil „bad guy“ in jedem über alle Schichten und Herkünfte hinweg verführen ließ. Man kann nun vieles an ihm kritisieren: seine Rücksichtslosigkeit, seine Prahlerei, seine Rachegelüste und die Ruchlosigkeit, mit der er wichtige Posten mit Speichelleckern besetzt, seine Verachtung für die Gewaltenteilung und die Demokratie an sich, sein dynastisches Gehabe – wo soll man anfangen, wo aufhören?

Wir sollten für einen Moment auf etwas anderes schauen, auf das, was einen sehr großen Teil westlicher Politiker abhanden gekommen ist: seine Entscheidungskraft, ja, seine geradezu wollüstige Freude, mit der er seine Macht zur Schau stellt und exekutiert. Trump handelt. Nichts davon muss man mögen. Aber er lässt, wie gesagt, ganze Politikerkasten blass aussehen. Und damit dürfte er noch viele inspirieren.

Aber genau das kann fürchterlich schiefgehen. Als sich der CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz nur wenige Stunden nach der ersten Signatur-Show im Oval Office den dortigen Berserker zum Vorbild nahm und die Machtbefugnisse eines amerikanischen Präsidenten, mit Executive Orders zu agieren, mit der Richtlinienkompetenz eines Bundeskanzlers verwechselte, die Merz zudem noch nicht hat, aber zumindest sofort und irgendwie mit zwei Initiativen im Bundestag zur Migrationspolitik auch den politischen Berserker zu geben – da musste bei jedem politisch interessierten Beobachter die sich häufig gestellte Frage auftauchen, ob der betreffende Politiker seines Verstandes verlustig, ein Vabanque-Spieler ohne Impulskontrolle oder im Besitz eines höheren Planes ist, dessen Geheimnisse der Beobachter nicht zu erkennen vermag. Schließlich lag doch gerade in Wahlkampfzeiten die Chance vor, ein so bewegendes Dauerthema wie die Migration mit ein paar scharfen Ansagen und einem Aktionsprogramm dem Souverän zur Entscheidung vorzulegen. Stattdessen hat der CDU-Kanzlerkandidat nun nach der mehrtägigen Dramafarce im Bundestag, Triumphgeheul der AfD eingeschlossen, die Diskussion um seine moralischen und strategischen Qualifikationen zu gewärtigen. Quo vadis, Friedrich Merz?

DAS ECHO VON 2015

Was das Versagen von Merz für das Land so bitter macht: Anlass und Vorgeschichte treten nun weitgehend in den Hintergrund. Nämlich die strukturelle Überforderung und die nachteilige gesellschaftliche Veränderung durch eine anhaltend starke Asylmigration, d.h. die Einwanderung über das Ticket des Asyls, obwohl kein Asylgrund vorliegt („Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, GG 16a), aber eine Abschiebung nur in geringer Zahl möglich ist, was die Duldung einer zu großen Zahl irregulärer Migranten und damit eine Überdehnung des Rechts zur Folge hat – all das und vieles Anzusprechende verschwindet vorerst wieder hinter einer Wand aus moralischen Appellen, Warnungen und Ermahnungen wie zum Beispiel „Flucht ist ein Menschenrecht“, was niemand außer einigen völkischen Rechtsradikalen in Zweifel gezogen hat. Aber es wundert schon lange keinen mehr, dass diejenigen, die immer nach jeder Gewalttat auf „Differenzierung“ pochen, selbst jede Differenzierung in Kriegsflüchtlinge, politisches Asyl Suchende und reguläre bzw. irreguläre Migranten ablehnen und pauschal von „Geflüchteten“ sprechen, alles andere sei ja schon diskriminierend.  

Bei kaum einem Thema wie der Migrationspolitik stoßen so heftig Moral und Politik aufeinander. Das Ergebnis ist, dass die Politik unmoralisch scheint und die Moral so durch und durch moralisch, dass sie nicht falsch sein kann. Doch letztlich ist das nur eine Simulation. Tatsächlich lockt die freigiebige Moral die Schutz- und Wohlstandsuchenden aller Herren Länder in die Hände und auf die Seelenverkäufer skrupelloser Gewerbetreibender, während die Politik nur mit den Achseln zuckt und alles auf niedriger Flamme zu regeln sucht. So wird die aktuelle Migrationspolitik – aber nicht nur die – von der Politik schon länger wie ein Schicksal verkauft, an dem man letztlich nichts ändern könne – wegen der Rechtslage: Capisce? Aber selbstverständlich kann man Recht ändern, die meisten Gesetze sind nicht in Stein gemeißelt (und im schlimmsten Fall wäre ja auch das keine Garantie für Freiheit und Demokratie, aber das ist ein anderes Thema). Selbst die Europäische Union hat sich zum Beispiel nach vielen Jahren des Verhandelns zu einer Änderung der Asyl- und Migrationspolitik ab 2026 durchgedrungen – nach intensiven Sperrfeuern aus Deutschland, meist von den Grünen. Dabei hatten die das Verdienst, während Schröders rot-grüner Koalition Deutschland überhaupt mal klarzumachen, dass es ein Einwanderungsland ist. Nur ist es seitdem unter allen Farben der Mitte und vor allem nicht seit dem „Schicksalsjahr“ 2015 unter Merkel gelungen, diesem Einwanderungsland auch eine Migrationspolitik zu verpassen, dass die Souveränität des Landes und auch der EU achtet, die Gesellschaften auf Dauer nicht überfordert und vor allem auch die Sicherheitsaspekte betont.

Nur zur Erinnerung: Der russische Krieg gegen die Ukraine begann ein halbes Jahr, bevor der erste Panzer über die Grenze rollte, mit einem hybriden kriegerischen Akt der Diktatoren in Moskau und Minsk auf die europäischen Nachbarn der Ukraine: nämlich der Platzierung abertausender Menschen aus Irak, Syrien, Afghanistan usw. an den polnischen Grenzen, um die Gesellschaften im Westen mit dieser Art illegaler Einwanderung zu beschäftigen und zu destabilisieren, damit man der Ukraine nicht helfen kann. Polen begann allerdings sofort, mit Militär und Sperranlagen die Grenzen zu schützen und nach Möglichkeit niemanden durchzulassen, was die EU wiederum wegen Rechtsverstößen monierte. Die meiste Kritik gegen die polnische Vorgehensweise kam dabei wieder mal von seinem lehrmeisternden westlichen Nachbarn.

Nachdem sich mittlerweile auch Finnland und die baltischen Staaten gegen diese Attacken aus Russland und Belarus wehren und die Grenzen schließen müssen, ist die Kritik aus der EU verschwunden. Notwehr schlägt Recht. Und auch daran sollte erinnert werden: Die Rechtsauffassungen zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof sind nicht immer kongruent und spannungsfrei. Das wurde in Sachen Grundrechtsschutz sowie der Schulden- und Finanzkrise mehrmals deutlich.

Das sind nur ein paar Beispiele, an die man sich erinnern sollte, wenn es nach terroristischen Anschlägen oder tödlichen Messerattacken in Zügen, Parks oder auf Weihnachtsfesten wieder achselzuckend heißt, das ist alles sehr schlimm, man sei in Gedanken bei den Betroffenen, aber man könne dies und das nicht machen, so sei nun mal das Recht. In Wirklichkeit können die Achselzucker nicht, weil sie nicht wollen. Auf die Wurstigkeit und Handlungsverweigerung dieser Politiker trifft dann allerdings demnächst die Wurstigkeit der Wähler, nicht mehr auf Warnungen, Ermahnungen und Appellen zu hören.

Niemand kann einen Vollkaskoschutz gegen alle Gefahren erwarten. Und vielleicht kann ein Einwanderungsland leider auch nur in der Phantasie wie ein Motel One funktionieren: reibungslos, freundlich, angenehm, divers, korrekt und dann auch noch mit einem guten Kaffee und einer reich ausgestatteten Bar. Aber ganz sicher kann sich kein Land in der beklemmenden Realität Weltfremdheit leisten. Das sieht auch die Bevölkerung in Deutschland so: Nur rund 20 Prozent sind der Ansicht, die geltende Migrationspolitik sei völlig ausreichend. Warum bestimmt dann aber diese deutliche Minderheit die Politik?

DER VERLUST GUTEN REGIERENS

Das hat natürlich etwas mit der AfD zu tun. Niemand, letztlich auch nicht die CDU des Friedrich Merz, will sich zurecht in eine Koalition mit dieser rechts-radikalen Partei begeben, die vielleicht vernünftig scheinende Vorschläge letztlich völkisch und ausgrenzend imprägniert. Für die Union wäre es der Anfang vom Ende, sie würde den Weg der italienischen und österreichischen Christdemokraten gehen: in die Bedeutungslosigkeit oder die Zweitklassigkeit. Damit bleiben nur noch zwei Parteien für die notwendigen Mehrheiten: die SPD und die Grünen. Die halten sich momentan aber noch für die Schützer von Recht und Moral. Leider nicht von Politik – wie man am Scheitern der Ampel gesehen hat. Denn das Hauptproblem dieses Landes liegt darin, dass es das sogenannte „gute Regieren“ verlernt hat. Wir schicken jedes Jahr viele Millionen Euro in andere Länder, um dort die Lehre von der „Good Governance“ zu verbreiten, haben aber nicht gemerkt, dass wir es längst selbst nicht mehr können – dieses „gute Regieren“. Gleichzeitig wird anhand der globalen und ideologischen Herausforderungen der Druck größer. Und gleichzeitig neigen wir dazu, sozialpolitische Erwartungen zu nähren und Versprechen zu geben – wie jetzt auch im Wahlkampf –, die wir unmöglich einhalten können.

Das ist natürlich nicht über Nacht gekommen. Liberale Demokratien haben mit drei nachteiligen systemischen Veränderungen zu kämpfen: Da ist zum einen die Verrechtlichung, also die zunehmende Tendenz, den politischen Handlungsspielraum durch Gesetze, Erlasse usw. zu normieren und zu beschränken. Dadurch werden politische Entscheidungen vermehrt durch Rechtsinterpretation gelöst – solange das entsprechende Gesetz nicht geändert wird. Die Politik fühlt sich nicht mehr zuständig. Aber in Wirklichkeit bindet sich die Politik längst nicht mehr ans Recht, sondern an einer Haltung, die vorgibt, alternativlos zu sein.

Das zweite Problem ist die Vergesellschaftung der Politik. Ihr liegt der Irrtum zugrunde, die Politikverdrossenheit ließe sich dadurch verringern, indem man eigentlich staatliche Aufgaben an die Zivilgesellschaft delegiert, die aber oft nur Vorfeldorganisationen der Parteien sind, die ihre Weltanschauung in der Gesellschaft fest verankern sollen. Dementsprechend reden sie gerne von „Diskursräumen“, wo „Aushandlungsprozesse“ stattfinden, von Bürgerräten und Expertengremien – und kaum noch von der Herzkammer des Staates und der parlamentarischen Debatte, also von dem Ort, wo die Entscheidungen getroffen werden und die eigentlich Legitimierten agieren müssen. Gerade in der Migrationspolitik haben einschlägige und gepäppelte Institute und Experten der Politik jahrelang eingeredet, Integration funktioniere nur dann, wenn man als Einwanderungsland quasi keine Forderungen stellt, aber eine schnelle Einbürgerung und ebenso das Privileg eines Doppel- oder Triplepasses ermöglicht, Bürgergeld und einen großzügigen Familiennachzug.

Das dritte Problem, das ist die Gegenutopie der Autokratien, die immer aggressiver und erfolgreicher agieren. Um ihnen zu begegnen, bräuchte es entschlossenes Handeln, kein langgezogenes Herumgedruckse, keine falsche Besonnenheit, keine fortwährenden Appelle an den Zusammenhalt, kein Achselzucken, sondern mutiges Entgegentreten.

Wofür ist die Politik da? Dass sie Probleme löst, Herausforderungen besteht, Verantwortung für das Land übernimmt. Dafür werden die Politikerinnen und Politiker gewählt. Die Verantwortung fällt ihnen durch den Wählerwillen zu; sie ist mit dem Mandat verknüpft. Das Achselzucken ist dagegen eine peinliche politische Unform. Es gibt aktuell so viele Probleme, so viele Herausforderungen: die unkontrollierte Migration, der mangelnde Wohnungsbau, die desolate Infrastruktur, die schwindende Bildung, die fehlende Sicherheit, die Klimakrise – da hilft kein Achselzucken, sie alle müssen angegangen werden.

Man nennt das Politik.