Die „Gelebte Erfahrung” dient nicht mehr nur Esoterikern als hinreichendes Argument für ihre Behauptungen und politischen Forderungen. Sie durchzieht heute auch einen wachsenden Anteil des akademischen Betriebs und verwischt damit den Kontrast zwischen Wissenschaft und Aktivismus.

„Weil’s hilft” — so lautet eine aktuelle Kampagne für „Integrative Medizin”, organisiert von den Lobbyverbänden Kneipp-Bund e.V., Gesundheit Aktiv e.V. und Natur und Medizin e.V. Die Forderung: künftig sollen Krankenkassen neben schulmedizinischen auch alle Verfahren der „Naturmedizin” erstatten. Laut der Kampagnenseite umfasst die Naturmedizin Homöopathie, anthroposophische, ayurvedische und traditionelle chinesische Medizin. Es sei außerdem „nicht hinnehmbar, dass Studenten von Heil- und Gesundheitsberufen ausschließlich Kenntnisse und Fertigkeiten schulmedizinischer Verfahren vermittelt würden.” So werde Studenten „bewährtes Erfahrungswissen” vorenthalten.

Die überwältigende Studienlage zur (fehlenden) Wirksamkeit etwa der Homöopathie scheint die Aktivisten der „Weil’s-Hilft“-Kampagne wenig zu interessieren. In den Jahren 2010 und 2015 waren die Gesundheitsbehörden Großbritanniens und Australiens unabhängig voneinander zu dem gleichen Ergebnis gekommen, dass Globuli nicht über den Placebo-Effekt hinaus wirken. Einen Monat nach dem Start der „Weil’s-hilft“-Kampagne stufte auch die französische Gesundheitsbehörde „Haute Autorité de Santé” den Nutzen von Globuli als mit dem von Placebos vergleichbar ein. Künftig wird Homöopathie deshalb auch in Frankreich nicht mehr von der gesetzlichen Krankenversicherung erstattet. Auf solche Ergebnisse gehen die Organisatoren der Kampagne und ihre Unterstützer (etwa der Zentralverein Homöopathischer Ärzte) allerdings an keiner Stelle ein. Stattdessen findet man überall das gleiche Hauptargument: Menschen berichteten von „gute Erfahrungen mit natürlichen Heilverfahren”. Das belege sogar eine Patienten-Umfrage im Auftrag der Deutschen Homöopathie-Union aus dem Jahr 2018. Erleben statt Evidenz.

Gelebte Erfahrung statt systematischer Beobachtung

Dass gelebte Erfahrung nicht nur unter Esoterikern als hinreichender Beleg für die eigenen Thesen und Forderungen gilt, zeigt ein Blick in die Literatur der sozialaktivistischen „Studies”-Fächer, etwa der Gender-, Women’s, Cultural Studies. Wie Forschung und Wahrheit in diesen Fachbereichen zu verstehen sind, kann man bei Rainer Winter nachlesen. In seinem Buch „Die Zukunft der Cultural Studies” schreibt der Professor für Medien- und Kulturtheorie an der Alpen Adria-Universität Klagenfurt in Österreich: „Es gibt keinen privilegierten und von allen geteilten Zugang zur Wahrheit. Stattdessen hat jede Forscherin und jeder Forscher es mit mehreren Wirklichkeiten zu tun, die auch einander widersprechen können.”  Die zentrale Aufgabe eins Forschers sei nicht der Versuch, der Wirklichkeit eine Wahrheit abzuringen, die von seiner subjektiven Erfahrung möglichst unabhängig ist. Im Gegenteil: erst „in der Interaktion zwischen den Welten des Forschers und der Erforschten spielt sich der auf Kooperation aufbauende Forschungsprozess ab”. Das Resultat sei stets ein sogenannter „Standpunkt-Text”, der Strukturen der Unterdrückung aufzeige. Das verleihe jeder Forschung einen politischen Charakter. Vor allem die Unterdrückten sollen ihre „Rahmungen der Wirklichkeit” artikulieren.

Oft wird diese Auffassung von Forschung unter dem Begriff der „Standpunkt-Theorie” gefasst. Ursprünglich in der feministischen Theorie formuliert, sind Standpunkt-Theorien heute in allen Studies-Gebieten verbreitet. Die Grundannahmen sind dabei immer die gleichen: Die Wirklichkeit ist sozial konstruiert, es gibt keine unabhängigen Beobachter sondern nur Standpunkte, die Menschen aufgrund ihrer Gruppen-Identität einnehmen — Geschlecht, sexuelle Orientierung, ethnischer Hintergrund und so weiter… Die Standpunkte ringen miteinander, wobei die Standpunkte marginalisierter Gruppen näher an der Wahrheit liegen (sie haben mehr Grund, die dominante Gruppe zu verstehen als umgekehrt). Für den Standpunkt-Theoretiker ist die Wirklichkeit ein ewiger Machtkampf zwischen dominierten und unterdrückten Standpunkten.

Wie man Forschungsergebnisse in Form von Standpunkt-Texten generiert, lernen Studenten zum Beispiel im Bachelor-Studiengang Gender-Studies an der Humboldt Universität. In der Ankündigung des Tutoriums „Intersektional Schreiben” heißt es: „In diesem Tutorium werden wir uns mit einigen der vielen Möglichkeiten befassen, wie situiertes und verkörpertes Wissen unser eigenes (akademisches) Schreiben beeinflusst und zum Ausdruck bringen kann.” Dabei orientiere man sich an der Erkenntnis, dass Wissen stets situiert sei, ein Begriff, der auf Donna Haraway zurückgeht, emeritierte Professorin an der Abteilung Bewusstseinsgeschichte und Feministische Studien an der University of California in Santa Cruz. In einem Artikel im Journal Feminist Studies von 1988 beschrieb sie ihr Verständnis von Objektivität. Hier eine Passage:

„Die akademische und aktivistische feministische Forschung hat immer wieder versucht, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, was wir mit dem kuriosen und unausweichlichen Begriff der „Objektivität” meinen könnten. Wir haben viel giftige Tinte verwedet und viele Bäume zu Papier verarbeitet, um zu verwerfen, was sie mit dem Begriff gemeint haben und wie sehr uns das wehtut. Das imaginäre „sie“ stellt eine Art unsichtbare Verschwörung von männlichen Wissenschaftlern und Philosophen dar, die mit Stipendien und Labors übersät sind. […] Ich möchte eine Doktrin der verkörperten Objektivität, die paradoxen und kritischen feministischen Wissenschaftsprojekten gerecht wird: Feministische Objektivität bedeutet ganz einfach situated knowledges.“

Den letzten Begriff, situated knowledges, habe ich nicht übersetzt. Es gibt im Deutschen kein Plural von Wissen. Genau das aber ist gemeint. Nicht eine Wahrheit zu einem Forschungsgegenstand existiere, sondern so viele wie es Forscher gibt. Objektivität werde in Wissenschaft und Philosophie traditionell als eine Art körperloser „erobernder Blick aus dem Nichts” verstanden, schreibt Haraway. Der Versuch, sich selbst und seine Identität aus der Erkenntnis so gut wie möglich herauszuhalten, nennt sie den „Gottestrick” (auch wenn dieser Trick die Computer ermöglichte, auf denen die situated knowledges damals wie heute entstehen). Statt dessen forderte Haraway eine neue feministische Objektivität, bei der Forscher ihre eigene gelebte Erfahrung berichten und daraus politische Forderungen ableiten. Heute ist Haraways Begriff vom situierten Wissen ein Pfeiler der sozialaktivistischen Fachbereiche.

Der Grievance Studies Hoax

Von welcher Qualität Forschungsergebnisse sind, wenn Autoren Haraways methodischer Doktrin folgen, sie also das persönliche Erleben über systematische Beobachtung und Analyse stellen, zeigte Ende 2018 der Feldversuch eines britisch-amerikanisches Forscher-Trios. Das Team – bestehend aus der britischen Sozialwissenschaftlerin Helen Pluckrose (Chefredakteurin des Aero Magazins), dem Philosophen Peter Boghossian (von der Portland State University) und dem Physiker und Mathematiker James Lindsay (ohne akademische Heimat) – hatte sich in die standpunkt-theoretische Denkweise jener akademischen Fächer eingearbeitet, die sie kollektiv als Beschwerdeforschung (Grievance Studies) bezeichnen. Darunter fallen laut Pluckrose und ihren Kollegen unter anderem Gender StudiesCultural Studies, Fat Studies, Whiteness StudiesRace StudiesQueer Studies und Women’s Studies.

Die Autoren wollten ein spezifisches Problem in diesen Fächern sichtbar machen: dass sich in der Beschwerdeforschung eine Kultur entwickelt habe, in der nur bestimmte Schlussfolgerungen erlaubt sind und soziale Missstände über die objektive Wahrheit gestellt werden. Zu diesem Zweck schrieben die drei Forscher insgesamt 20 akademische Artikel und versuchten, sie in angesehenen Journals der Beschwerdeforschung unterzubringen. Das Besondere: Alle Artikel waren bewußt unsinnig und sachlich falsch konstruiert, aber in Ton und politischer Ausrichtung an den Stil der Beschwerdeforschung angepasst.

Der erste Artikel, der es durch ein Peer-Review schaffte, trägt den Titel „Human reactions to rape culture and queer performativity at urban dog parks in Portland, Oregon” und wurde in Gender, Place & Culture veröffentlicht, einem Journal für feministische Geografie. Der Text handelt von gegenseitiger Besteigung von Hunden und was diese für den Feminismus und die sogenannte Queer-Theorie bedeuten. Das Studium der „Rape Culture“ bei Tieren im Hundepark sei ein nützliches Mittel, um Vergewaltigungen bei Menschen zu verstehen, argumentiert die erfundene Autorin, Helen Wilson von der ebenso erfundenen Portland Ungendering Research Initiative. In dem Artikel beschreibt sie, wie sie von einer Parkbank in Oregon aus in über 1000 Stunden Observation 1004 „Besteigungs-Vorfälle” sowie die Reaktion der Hundebesitzer beobachtete. Darüber hinaus habe sie die Genitalien von rund 10.000 (!!!) Hunden inspiziert, um daraus auf deren Gender zu schließen. Das Resultat: männliche Hundebesitzer verhinderten Besteigungen durch ihre männlichen Hunde weniger häufig als weibliche Hundebesitzer. Das sei ein Ausdruck der allgegenwärtigen Rape Culture, so die Schlussfolgerung. Die geforderte politische Konsequenz: männliche Hundebesitzer sollten selbst Umerziehungs-Trainings absolvieren, die so aufgebaut sind wie die für Hunde.

Dass die Daten höchst unplausibel waren und die Methoden naiv, fiel den Redakteuren und Reviewern des Journals nicht auf. Auch nicht, dass es weder die Autorin noch eine Portland Ungendering Research Initiative gibt. Statt dessen hagelte es Lob. Der erste Reviewer bezeichnete die Arbeit als „unglaublich innovativ, analysereich und extrem gut geschrieben und organisiert“. Ab nun kam eine Zusage nach der nächsten und die drei Fake-Beschwerde-Forscher machten sich einen Namen als achtbare Gender-Forscher. Als der Hoax im Oktober 2018 durch die Recherche eines Journalisten aufflog, hatten Pluckrose, Boghossian und Lindsay insgesamt sieben Artikel in verschiedenen einschlägigen Fachzeitschriften untergebracht, sechs weitere waren unter Review. Ein Artikel — Titel: My struggle is your struggle — entlehnt lange Abschnitte aus Hitlers Mein Kampf, wobei antisemitische Phrasen durch radikal-feministische ersetzt wurden. Er erschien in Affilia: Journal of Women and Social Work. Ein anderer, vom Journal Hypathia zum Review akzeptiert, setzt sich für extreme Maßnahmen ein, um vermeintliche „Privilegien” weißer Studenten zu beheben: er fordert Professoren auf, in Vorlesungen „Erfahrungsreparationen” durchzusetzen. Man könne zum Beispiel privilegierten (weißen, männlichen) Schülern das Reden komplett verbieten oder sie gar in Ketten legen. Die Reviewer von Hypathia hatten dazu folgendes zu sagen: „Ein solider Aufsatz, der nach einer Überarbeitung einen starken Beitrag zur wachsenden Literatur über die Auseinandersetzung mit epistemischer Ungerechtigkeit im Unterricht leisten wird.” (Reviewer 1) „Ich mag das Projekt sehr.” (Reviewer 2) „Das ist ein lohnendes und interessantes Projekt. Der Aufsatz ist nur noch nicht fertig.” (Reviewer 3)

Der deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler Yascha Mounk von der Harvard-Universität kommentierte den Grievance Studies Hoax im Oktober 2018. „Der Hoax zeigt nicht nur die niedrigen Standards der Journale, die diese Art von Dreck veröffentlichen”, schrieb er in The Atlantic. „Er zeigt auch, dass viele von ihnen bereit sind, Diskriminierung zu akzeptieren, wenn sie nur vermeintlich progressiven Zielen dient.”

Nicht messbare Kräfte

Insgesamt sind die Artikel des Hoax-Trios gute Anschauungsbeispiele dafür, was in einem Teil des akademischen Betriebs heute  als akzeptable „Forschung” gilt: subjektives Erleben ausbreiten und politische Forderungen stellen. Dabei ähnelt die Denk- und Arbeitsweise der Beschwerde-Fächer oft der der Esoteriker. In beiden Welten existieren Kräfte, die sich zwar der Messung entziehen, trotzdem aber eine starke Wirkung entfalten. Homöopathen etwa erklären die Wirkung ihrer Globuli mit einem vermeintlichen „Wassergedächtnis”; die Information des Wirkstoffs wird durch Verdünnen und Schütteln (irgendwie) an den Trägerstoff übertragen und dabei sogar verstärkt (potenziert). Experimentell konnte dieser Effekt noch nie belegt werden. Aber die Patienten berichten von „guten Erfahrungen”. In den Beschwerde-Fächern gibt es analog dazu das Konzept der Mikroaggression. Es beschreibt als übergriffig wahrgenommene Äußerungen oder Verhaltensweisen. Gehört ein Sprecher einer „dominanten” Gruppe an (z.B. weiß, männlich, alt) und sagt etwas, das ein Mitglied einer „marginalisierten” Gruppe (z.B. nicht-weiß, weiblich, jung) als beleidigend erlebt, ist die Aussage per Definition übergriffig. Dabei ist unerheblich, welche Intention der Sprecher hatte. Der Psychologe Derald Wing Sue, Professor für Pädagogik und Psychologie am Teachers College der Columbia University, hat eine lange Liste solcher Mikroagressionen zusammengetragen, darunter Aussagen wie „Wir sind alle Menschen” oder „Ich habe Schwarze als Freunde” — letzteres allerdings nur, wenn es eine weiße Person sagt. In einem Artikel in Psychology Today von 2010 schrieb er dazu: „Die Unsichtbarkeit von rassischen Mikroaggressionen kann für Farbige schädlicher sein als Hassverbrechen.” Je weniger gemeinte Beleidigung in einer Aussage enthalten ist, desto beleidigender wird sie — eine Art von Potenzierung durch Verdünnung.

Eine weitere Parallele liegt in der gleichartigen Reaktion von Beschwerde-Akademikern und Esoterikern auf den Hinweis, dass sich ihre Aussagen womöglich nicht durch systematische Beobachtung und statistische Analyse belegen lassen. Oft werden dann dominierende Mächte und ihre Privilegien angeführt. Diese wollten verhindern, dass die „Wahrheit” herauskommt und politisch umgesetzt wird. Bei der Homöoapthie sind das die Mächte die Schulmedizin und die Pharmaindustrie, im Genderseminar „der alte weiße Mann” und sein „Patriarchat”. Mittlerweile haben sich Esoteriker und Beschwerde-Theoretiker eine große Zahl scheinbar wissenschaftlicher Journale geschaffen, die gelebte Erfahrung und politisch Forderungen als Forschungsergebnisse verkaufen. Wenn Journalisten solche Ergebnisse dann noch unhinterfragt als „Forschung” berichten, verschwimmt ein entscheidender Unterschied: der zwischen Wissenschaft und politischem Aktivismus.