Outet man sich in Deutschland als Anhänger der Kernenergie, dann ist meist der Vorwurf des „Atomlobbyismus“ nicht weit. Aber wo ist die deutsche Atomlobby eigentlich hin? Unsere Autorin hat sie gefunden: auf dem Friedhof.

In jeder Diskussion über unsere Energieversorgung kommt früher oder später der Moment, in dem ein Argument zugunsten der Kernenergie folgendermaßen abgewatscht wird: Dahinter stünden die finsteren Machenschaften der „Atomlobby“. Gemeint ist ein schlagkräftiger Verbund von Energiekonzernen, Nukleartechnik-Firmen, der Reaktorsicherheitskommission und atomfreundlicher Verbände, welche die AKWs durch die Hintertür der Klimadiskussion wieder auf die Tagesordnung bringen wollten, um weiter ungehindert Geld zu scheffeln.

Energiewende-Deutschland, 2019

Nun ist das nukleare Geldscheffeln in Energiewende-Deutschland schon lang nicht mehr, was es mal war, da die Ökostrom-Konkurrenz mit Einspeiseprivilegien und Gewinngarantien gehätschelt wird. Die Nukies und ihre Kohle-Kumpels stellen mit gesicherter Leistung und Regelenergie das Netz hin, in dem sich die Ökostromer, soweit es das Wetter erlaubt, breitmachen dürfen, ohne selber nennenswert zur Netzstabilität beizutragen. Dieses asymmetrische Risiko- und Gewinn-Umverteilungs-Modell kostet Staat und Stromverbraucher jährlich 30 Milliarden Euro, und wird vom Bundesrechnungshof für ineffizient und dysfunktional erklärt, aber – läuft. 

Widerstand? So gut wie keiner. Die gymnasiale Klima-Jugend von Fridays for Future trötet in dasselbe Horn wie ihre grün-wählenden Omas, „gegen Kohle und Atom“, als ob „Atom“ etwas mit dem CO2-Ausstoß zu tun hätte, den man bekämpft. Am andern Ende des Parteienspektrums nölt die AfD, die einzig verbliebene Partei mit einem expliziten Kernenergie-Bekenntnis im Programm. Die traut sich aber in keinem Wahlkampf mit einem frechen pro-nuklearen Statement nach vorn, in der Annahme, ihre Wähler mit der Angst vor Migranten zuverlässiger mobilisieren zu können als mit einer konstruktiven Aussage über Atomkraftwerke. Damit dürfte sie recht haben: erstens funktionieren in diesem Land Angstkampagnen prima, und zweitens ist es kaum möglich, dem Mantra von der Außeralltäglichkeit, Gefährlichkeit und Ungeheuerlichkeit der Atomkraft zu entkommen. Wir lernen es in Schule, Kirche und Parlament. Die Atomkraft ist unbeherrschbar, Landschaften werden unbewohnbar, und Atommüll gibt über Millionen Jahre tödliche Strahlung ab. 

Das wirkliche Gesicht der deutschen Kernenergie

Dieses Bild steht im sonderbaren Gegensatz zu sechzig Jahren realer Atomkraft in Deutschland. Die Anlagen dampfen in idyllischen Landschaften vor sich hin, Flugzeuge sind bislang noch nie auf sie gefallen, Terroristen lassen sich nicht blicken, die Castoren stehen in Zwischenlagern, ohne dass die Dorfbewohner in der Umgebung in Angststarre fallen. Statistisch gesehen hat keine Form von Energieumwandlung in Deutschland so wenige Opfer gefordert und so wenige Umweltschäden produziert wie die Kernkraft. Damit die Leute glaubensfest bleiben, jazzt die Anti-AKW-Bewegung simple Reparaturfälle und unspektakuläre meldepflichtige Ereignisse zu „Störfällen“ hoch, und Politiker stellen wider besseres Wissen Tschernobyl und Fukushima als hierzulande reproduzierbar dar. 

Toter als tot

Dieser Diskurs wird von kaum jemandem mehr ernsthaft angefochten. Am allerwenigsten von der Atomlobby. Wenn es in diesem Land eine Interessenvertretung geben sollte, die toter ist als tot, dann ist das die deutsche Atomlobby. Wie die deutschen Energieversorger weiland in die Kernenergie einstiegen, so steigen sie jetzt auch wieder aus: in den 1960er Jahren wurden sie vom Staat mit Risikobürgschaften und Subventionen zum Jagen getragen. Nach Tschernobyl entschied man sich, den Ball flachzuhalten und auf die Bundesregierung zu vertrauen. Die würde es schon richten. Dann kam Fukushima, und die Bundesregierung richtete als Sündenbock die deutsche Kernkraft hin. Das Volk stand am Schafott und jubelte. Die Konzerne bauten sich, loyal bis in den Heldentod, das Blutgerüst gleich selber, kassierten dabei aber nochmal eine schöne Henkersmahlzeit. Man machte sich gemeinsam mit einer ganz großen schwarz-rot-grünen Antiatom-Koalition so effizient ans Faktenschaffen, dass heute tatsächlich nichts mehr zu retten ist. Die vor 2011 geplanten Modernisierungsprojekte wurden eingemottet und durch Stilllegungsanträge ersetzt. Nachbetrieb und Rückbau der deutschen KKW sind durchgeplant und bei vielen Anlagen bereits im vollen Gange, effizient und leise. Vielleicht sollte man die deutschen Atomstromkonzerne den BER zu Ende bauen lassen.  

Doch plötzlich rumort es allenthalben wieder. Es dämmert die Einsicht, dass der Atomausstieg und die Verfehlung unserer Klimaziele in einem ursächlichen Zusammenhang stehen. Es mahnen Autobauer, Wirtschaftsführer, Mittelständler, Ökomodernisten, Dissidenten in der CDU an, den Ausstieg nochmal zu überdenken. Doch nicht mit der deutschen Atomlobby, die hiermit, liebe Freunde der nuklearen Verschwörungstheorie, den endgültigen Beweis ihres Exitus geliefert hat. „Vergesst es!“, ruft sie den Querdenkern zu, „wir sind erledigt!

Hü und Hott

Das war absehbar. Wer Kraftwerke baut, betreibt und schließlich auch zurückbaut, der braucht Planungssicherheit. Man hat sehr schlechte Erfahrungen mit abrupten Wenden der Politik gemacht. Ausstieg, Laufzeitverlägerung, erneuter Ausstieg – warum sollte man also heute der späten Einsicht von Teilen der Politik und Wirtschaft trauen, dass der Atomausstieg ein Fehler war?  Spätestens bei der ersten großen Antiatom-Demo, die die Grünen flugs organisieren würden, würde sich die Regierung in die Hosen machen, nimmt man an. Und daher ist jetzt Schluss mit Hü und Hott. Jetzt gibt es nur noch Hott bis zum Blackout. 

Inwieweit an diesem letzten Hott einige Telefonate vom Berliner Kanzleramts-Kutschbock beteiligt waren – ich vermag es nicht zu sagen, aber die Aussagen der Kraftwerksbetreiber klingen sonderbar einstudiert und konzertiert. Doch den Energiekonzernen sind die KKW im Prinzip gleichgültig; sie wollen sich für sie nicht mehr verkämpfen. Ein Produktionsmittel, nichts weiter, ersetzbar. Da ihre Belegschaften anders als ihre französischen Kollegen weder streiken noch in gelben Westen Autobahnen blockieren, ist man auch nicht gezwungen, sich zu erklären. Man horcht auf die Vorgaben aus der Politik. 

Diese Vorgabe lautet: die Energiewende ist nicht zu diskutieren. Auch wenn sie längst gescheitert ist – man tut einfach so, als sei sie es nicht. Es ist eine leidenschaftslose Geschichte. Die begeisterten Ingenieure, die einst an der Spitze unserer Stromversorger standen, sind längst Controllern gewichen. Man zieht weiter zu den Fördertöpfen der Erneuerbaren, nachdem man an der Kernenergie jahrzehntelang gut verdient hat. Und man betet – öffentlich zumindest – die Energiewende-Litanei, die von Politikern und Klima-Professoren ohne Expertise für Strom, Netz und Speicher erfunden wurde: Mehr davon. Mehr installierte Windkraft-Leistung, die zur Unzeit überproduziert, und den größten Teil der Zeit weit unter Nennleistung bleibt. Mehr Leitungen, die aber auch nur den Strom verteilen können, der produziert wird, nicht den, der theoretisch produziert werden könnte. Mehr Speicher, die aber auch nur speichern können, was vorher mal hergestellt wurde. Mehr E-Autos, auch wenn wir nicht wissen, wo der Strom für sie herkommen soll.

Schlacht verloren oder Krieg verloren? 

Die Sympathisanten und Beschäftigten der Kernenergie, größtenteils Menschen aus technischen und wissenschaftlichen Berufen und Facharbeiter, sind tief enttäuscht von diesem „Verrat der Eigenen“. Sie verkennen, dass die Kernenergie schätzungsweise 20 Prozent der Bevölkerung verhasst und 60 Prozent egal ist; den verbliebenen 20 Prozent ist es bislang nicht gelungen, die Indifferenten zu überzeugen. Das würde nur durch ein einschneidendes Ereignis wie einen großen Stromausfall geschehen, oder durch einen längeren Prozess, zum Beispiel das wachsende Entsetzen über die Deformation unserer Landschaften zu Erneuerbaren-Industrie-Containern, oder die Reifung der Klima-Bewegung zum Ökorealismus. Die Frage ist also, ob die pro-nukleare Minderheit in Deutschland nur eine weitere Schlacht verloren hat oder auch den Krieg. Es ist eine Frage der Zeit. 

Selbst wenn sich das Kriegsglück irgendwann wendet: Die verbliebenen deutschen KKW wird das nicht mehr retten, denn weder verfügen sie über die Ressourcen und das Personal zum Weitermachen, noch ist der zeitlich-rechtliche Spielraum gegeben. Allein die Kassierung des Atomstromverbots nach § 7 Atomgesetz wird Jahre politischer Überzeugungsarbeit kosten. Doch nach Kriegen brechen häufig Stunde-Null-Momente an. Eine künftige deutsche Kernenergiewirtschaft wird sich von der nun abtretenden Form stark unterscheiden. Die fernere Zukunft gehört dezentralen, inhärent sicheren, stadtnahen Reaktoranlagen, kombinierten nuklear-erneuerbaren Systemen, nuklearem Prozessdampf, nuklearer Nah- und Fernwärme, Kernstrom für Wasserstoff-Elektrolyse und Treibstoffsynthese. Eine solche Technologie kann auch ohne Netzausbau und utopische Speicher funktionieren – und sie wird nicht mal eine Atomlobby brauchen.