Kim Jong-un, die Bombe und der Wert von Sicherheitsversprechen, nachdem Russland das Budapester Memorandum gebrochen hat.

Im Interview mit der BILD-Zeitung hat Sigmar Gabriel am 17.9.2017 seinen Lösungsansatz für das nordkoreanische Kernwaffenprogramm kurz und knapp auf den Punkt gebracht. Diesem liegt die Prämisse zugrunde, dass der Diktator Kim Jong-un nicht irre ist, der Nordkoreaner folgt vielmehr „einer kühl überlegten Strategie: Wenn er die Atombombe hat, dann – so denkt er – ist sein Regime gesichert. Weil sich niemand trauen wird, ihn zu bedrohen.“ Womit Gabriel vermutlich richtig liegt, soweit das von außerhalb des Regimes ohne ein Übermaß an Küchenpsychologie überhaupt zu beurteilen ist. Entsprechend müssen, um Kim Jong-un auf friedliche Weise von den Kernwaffen abzubringen, Nordkorea Sicherheitsversprechen gegeben werden, die den nuklearen Schutzschirm auch für Kim Jong-un verzichtbar machen: „Wir brauchen für Nordkorea eine andere Sicherheitsgarantie als die Atombombe. Die SPD-Kanzler Brandt und Schmidt haben so etwas in Europa geschaffen: Die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Das geht nur über direkte Verhandlungen auch mit Nordkorea. Dazu müssen drei Mächte gemeinsam an den Tisch: Die USA, China und Russland.“

Das sind von Sigmar Gabriel keine besonders originellen oder kreativen Ideen, sondern der logisch naheliegende Weg. Der Weg, der sich theoretisch noch am ehesten als zielführend erweisen dürfte, wenn Nordkorea auf friedliche Weise vom Kernwaffenprogramm abgebracht werden soll. So die Theorie, in der Praxis sieht es jedoch mittlerweile deutlich finsterer aus, und daran ist die von Gabriel so hochgeschätzte Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa nicht vollkommen unbeteiligt. War es doch die KSZE-Konferenz vom 5. Dezember 1994 in Budapest, auf der das Budapester Memorandum mit der Ukraine unterzeichnet wurde. Auch gleicht – surprise, surprise! – die Vorgeschichte des Memorandums Gabriels Lösungsansatz für Nordkorea nur zu sehr, die in Europa entscheidenden Mächte Amerika, Russland und das Vereinigte Königreich haben sich mit der Ukraine an einen Tisch gesetzt, um das Land mit Sicherheitsversprechen zur Übergabe der Kernwaffen zu bewegen.

Entsprechend steht bereits in den ersten beiden Artikeln des Memorandums, dass sich die drei Mächte gegenüber der Ukraine dazu verpflichten, die Souveränität und die bestehenden Grenzen des Landes zu achten. Außerdem bekennen sich die drei Mächte zu ihrer Verpflichtung zum Gewaltverzicht; in der englischsprachigen Version des Budapester Memorandums lauten die beiden Artikel folgendermaßen:

  1. The United States of America, the Russian Federation, and the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland, reaffirm their commitment to Ukraine, in accordance with the principles of the CSCE Final Act, to respect the Independence and Sovereignty and the existing borders of Ukraine.

  2. The United States of America, the Russian Federation, and the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland, reaffirm their obligation to refrain from the threat or use of force against the territorial integrity or political independence of Ukraine, and that none of their weapons will ever be used against Ukraine except in self-defense or otherwise in accordance with the Charter of the United Nations.

Als Gegenleistung für diese Sicherheitsversprechen ist die Ukraine dem Atomwaffensperrvertrag beigetreten; keine zwei Jahre später war das Land frei von Kernwaffen. Damit gleicht das Budapester Memorandum ziemlich genau dem, was Sigmar Gabriel als Lösung für Nordkorea vorschwebt. Mit dem Unterschied, dass das Kernwaffenarsenal der Ukraine in einer ganz anderen Liga als das von Kim Jong-un spielte, die Ukraine verfügte Anfang der Neunziger über rund 1.900 Kernwaffen unterschiedlichen Typs; darunter allein 46 Interkontinentalraketen vom Typ RT-23, die eine Reichweite von 11.000 Kilometern haben und mit jeweils zehn Atomsprengköpfen bestückt werden, von denen jeder eine Sprengkraft von 550 Kilotonnen TNT hat (bei Hiroshima und Nagasaki betrug die Sprengkraft 13 bzw. 22 Kilotonnen TNT). Ein Kernwaffenarsenal, mit dem die Ukraine so ziemlich jedes Land dieser Welt hätte zerstören können.

Nichtverbreitung von Atomwaffen

Noch eklatanter als der Umfang des Kernwaffenarsenals wirkt sich jedoch ein anderer Unterschied aus: Gabriel will Nordkorea zu einem Zeitpunkt durch Sicherheitsversprechen zu einem Kernwaffenverzicht bewegen, an dem durch den Bruch des Budapester Memorandums bereits demonstriert wurde, dass Sicherheitsversprechen herzlich wenig wert sind. Putins grüne Männchen, Putins Annektion der Krim und Putins militärische, propagandistische und finanzielle Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine haben der Welt eindrucksvoll vor Augen geführt, welch geringen Wert die Gegenleistungen für den Kernwaffenverzicht im Ernstfall haben. Papier ist geduldig, nicht wenige Ukrainer werden das Budapester Memorandum mittlerweile für die folgenschwerste Dummheit in der Geschichte ihres Landes halten, aber wer will ihnen diese fatalistische Sichtweise angesichts der russischen Aggression schon verdenken?

Mit Blick auf die Krim wird Kim Jong-un bei jedem Sicherheitsversprechen zwangsläufig an Admiral Ackbars „It’s a trap“ denken. Nicht pompöse Abkommen oder Memoranden sichern den Frieden und die Unantastbarkeit des eigenen Territoriums, sondern ein funktionsfähiges Kernwaffenarsenal, so die wenig sublime Botschaft von der Schwarzmeerhalbinsel. Und das nicht nur bei Kim Jong-un, die russische Fahne über der Krim wird jedem Regime, das nach Kernwaffen strebt oder bereits Kernwaffen hat, eine Warnung sein, sich auf eine nukleare Abrüstung einzulassen. Durch die Annektion der Krim hat Putin nicht nur die Axt an die europäische Friedensordnung angelegt, sondern auch der Nichtverbreitung von Atomwaffen eine schwere Hypothek aufgebürdet.

Und das ist auch der Grund, warum das Lavieren der Lindner-FDP und der deutschen Sozialdemokratie in der Krim-Frage so verantwortungslos ist, von den Positionen der pro-russischen Parteien Die Linke und AfD ganz zu schweigen, denen ist eh nicht mehr zu helfen. Die schleichende Akzeptanz der russischen Annektion der Krim unterminiert nicht nur den völkerrechtlichen Gewaltverzicht, sondern alle gegenwärtigen und zukünftigen Bemühungen um die Nichtverbreitung der Atomwaffen.

Wenn Putin das Budapester Memorandum in schlechtester Theobald-von-Bethmann-Hollweg-Manier wie einen „Fetzen Papier“ behandelt, dann liegt es am Westen, das „Pacta sunt servanda“ hochzuhalten. Unzweideutig und unmissverständlich klarzumachen, dass er, der Westen, die völkerrechtswidrige Annektion der Krim nicht akzeptieren wird, nicht heute, nicht morgen und auch nicht in hundert Jahren. Andernfalls geht nicht nur die Krim, sondern auch die Glaubwürdigkeit des Westens bei Abrüstungsgesprächen flöten. Putin mag in Thukydides‘Recht könne nur zwischen gleich Starken gelten, bei ungleichen Kräfteverhältnissen tue der Starke, was er könne, und erleide der Schwache, was er müsse“-Welt leben, dem Westen obliegt es, ihm Einhalt zu gebieten, andernfalls gibt es bald zwei, drei, viele Kim Jong-uns, die Stärke und Schwäche allein übers eigene Kernwaffenarsenal ableiten; ein veritabler Alptraum.

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*Der Screenshot über dem Text stammt aus diesem Video, in dem alle 2.153 Kernwaffenexplosionen seit 1945 visualisiert (und mit Ton versehen) wurden. Der Screenshot zeigt die vom späteren Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow entwickelte „Zar“-Bombe, deren Sprengkraft beim Kernwaffentest am 30. Oktober 1961 mit 57 Megatonnen TNT so stark war, dass die Druckwelle der Explosion rund zweieinhalbmal um die Erde ging. Bis heute handelt es sich damit um die stärkste menschengemachte Explosion.