In Brandenburg ist das Gesetz, das die paritätische Zusammensetzung des Landtags sicherstellen soll, fast unbemerkt in Kraft getreten. Es könnte das Tor öffnen für Veränderungen, die Parlamentarismus und Demokratie schwer beschädigen.

Große Veränderungen beginnen ja meist im Kleinen. Wer begreifen will, wohin die Reise vielleicht geht mit der deutschen Demokratie, der sollte nach Potsdam schauen: in das Parlament des Landes Brandenburg. Dort sitzen zwar nur 88 Abgeordnete, aber von nun an soll dort gelten, dass die Wahllisten halbehalbe mit Frauen und Männern besetzt werden müssen. Dagegen wäre ja als Ergebnis einer freien, gleichen und allgemeinen Wahl im Prinzip nichts einzuwenden, und es wäre auch niemals ein Problem, wenn in einem ebenso frei gewählten Parlament Frauen in der Mehrheit wären (so wie jetzt am Bundesverfassungsgericht – um ein anderes, nicht unwichtiges Verfassungsorgan zu nennen). In den sich um die Wählergunst bewerbenden Parteien sind aber im Moment viel weniger Frauen, was bedeutet, dass die angestrebte Gleichberechtigung im Parlament mit einer inakzeptablen Bevorzugung der Frauen in den betreffenden Parteien und mit einer Einschränkung der Wahlfreiheit beginnt. Außerdem darf nach Artikel 3 des Grundgesetzes niemand wegen seines Geschlechtes etc. benachteiligt, aber auch nicht bevorzugt werden. Das scheint aber in Brandenburg wie auch in anderen Bundesländern (z.B. Thüringen) eine Mehrheit im Parlament nicht zu interessieren.

Was hier passiert, ist allerdings nichts Neues: Man hat schon an vielen Stellen mit Zwang Gerechtigkeit herzustellen versucht – und in vielen Fällen neue Ungerechtigkeit produziert. Dass es genau in diese Richtung gehen könnte, ist dem brandenburgischen Parlament auch schon attestiert worden – und zwar vom eigenen juristischen Beratungsdienst in einem umfangreichen Gutachten. Das hat festgestellt, dass u.a. Verstöße gegen das Verbot der Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts, gegen die Wahlrechtsgrundsätze der Freiheit und der Gleichheit sowie gegen das Demokratieprinzip vorliegen: 

„Insbesondere lässt sich aus dem Demokratieprinzip kein Recht einzelner Bevölkerungsgruppen ableiten, proportional mit Mandatsträgern in der Volksvertretung ‚gespiegelt’ zu werden, im Gegenteil: Das Parlament hat nicht ein möglichst genaues Spiegelbild der Zusammensetzung der (wahlberechtigten) Bevölkerung zu sein, sondern besteht aus frei gewählten und mit freiem Mandat ausgestatteten Volksvertretern. Der Landtag empfängt seine Legitimation durch die Gesamtheit der Bürger als Staatsvolk.“

Die Einführung solch paritätischer Wahlvorschläge sind also – so gut sie gemeint sein mögen – schlichtweg Eingriffe in die Wahlrechtsgrundsätze der Freiheit, Allgemeinheit und der Gleichheit der Wahl und schon deshalb mit unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung unvereinbar. Denn es dürfen zwar weiterhin alle wählen, aber das Ergebnis der Wahl muss in Bezug auf das Geschlechterverhältnis von vorneherein feststehen. Damit kann auch nicht mehr jeder gewählt werden. 

EIN VOLK AUS IDENTITÄTSGRUPPEN

Das ist an sich schon ein schwerer Schlag für Freiheit und Demokratie in diesem Land. Doch am verheerendsten wirkt die hier zum ersten Mal deutlich gewordene Absicht, das Wahlvolk in einzelne Bevölkerungsgruppen zu zerteilen, also die Volkssouveränität durch eine Gruppensouveränität zu ersetzen. Das beruht im Grunde auf der Idee der vormodernen Ständeordnung mit einer Ständeversammlung, in der das Volk nicht mehr als Einheit von freien und gleichen Individuen, sondern als Produkt verschiedener Bevölkerungsgruppen gedacht wird. 

Damit sind die Parlamente in die Zielerfassung der Identitätspolitik geraten, wie man auf Spiegelonline gerade wieder sehen konnte. Dort – und nicht nur dort – wurde bemäkelt, dass alle nicht-binären Geschlechtsidentitäten, also das sogenannte „dritte Geschlecht“ wie auch alle selbstdefinierten Geschlechtsidentitäten, zu kurz kommen und ebenso berücksichtigt werden müssten bei diesem Gesetz. Das könnte dann allerdings nicht mehr „Paritätsgesetz“ genannt werden, denn hier ginge die Zersplitterung erst richtig los und ließe auch die Parität hinter sich. Nach dem Geschlecht oder der Geschlechtsidentität böten sich alle möglichen weiteren Identitäten als Gruppenmerkmale an wie Herkunft, Hautfarbe, Alter, Klasse, Religion, Ernährung, Fortbewegung usw. usf. Sie entwickeln sich unter dem Druck der einschlägigen akademischen Diskurse zu Pressure Groups, die längst nicht mehr eine bindende Idee, eine Gemeinwohlorientierung oder individuelle Gewissensfreiheit im Sinn haben, sondern nur gruppenspezifische Interessen und Imperative.

Zwar sind die Parteien auch nicht immer Vorbilder in der Gemeinwohlorientierung gewesen, aber sie bemühen sich, da sie von breiten Mehrheiten gewählt werden wollen und zur Machtgewinnung gewählt werden müssen. Das müssen Gruppen, die ihre Zuteilung in der Volksvertretung sicher haben, kaum noch. Parteien könnten sie auch nicht mehr binden, es würde sie zerreißen. Aber das ist den neuen Ständen und ihren Vertretern egal. Sie dünken sich progressiv, sind aber reaktionär. Schon spottet die Spiegelkolumnistin über das Paritätsgesetz, weil es nur weißen Frauen helfen würde. Sie verlangt, wie erwartet, mehr. 

Natürlich könnten die sich Repräsentation wünschenden Interessengruppen gemäß den gültigen Spielregeln als einzelne Parteien assoziieren und beispielsweise als Migranten-Partei (MP) oder als Partei der Ostdeutschen (PdO) oder als Freie Frutarier-Vereinigung Deutschlands (FFVG) kandidieren – aber dann denkt man an das Schicksal der „Grauen Panther“ und fragt sich: Warum sich bemühen, wenn Einfluss und Macht auch billiger zu haben sind? 

Und als Einzelperson könnte jeder auch um Mitgliedschaft in der Partei seiner Wahl ersuchen und sich um Listenplätze und Mandate bemühen. Es gibt eigentlich keine Partei, die sich nicht über neue Mitglieder freuen würde. Sie sind die wichtigsten Organe der politischen Willensbildung und offen für quasi jeden, der sich politisch betätigen und das Land besser machen will. Jemand fühlt sich unterrepräsentiert? Nur zu, man kann es, wie gesagt, durch eine Parteimitgliedschaft ändern.

Tatsächlich ist Inklusion, also die Einbeziehung aller Menschen in die Gesellschaft, das größte politische Projekt der Moderne. Aber sie wird nicht mit unfairen Konzepten aus der Vergangenheit gelingen, die die gemeinsamen Grundlagen unterminieren, sondern mit Offenheit, bewusster Ermutigung und Förderung.

DER ANFANG VOM ENDE?

Abschließend zur Erinnerung: Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts müssen sich alle Rechtsakte in diesem Land ausdrücklich auf den Willen des Volkes zurückführen lassen und ihm gegenüber verantwortet werden – nicht auf den Willen einzelner Gruppen. Und deshalb könnte man zwar verärgert, aber eigentlich auch gelassen auf die baldigen Ergebnisse der anhängigen Prüfungsverfahren der Landesverfassungsgerichte in Thüringen und Brandenburg warten und hoffen, dass damit dem Spuk ein Ende bereitet werde. Aber Rechtsprechung ist ja nicht frei von gesellschaftlichen Tendenzen. Und deshalb kann man nie sicher sein über den Ausgang eines Verfahrens. Tatsache ist: Sollten die Paritätsgesetze höchstrichterlich bestätigt werden, könnte dies eine Entwicklung in Gang setzen, die unser Parlamentarismus mit seinem Parteienpluralismus nicht überleben würde. Es wäre das Ende der Republik, wie wir sie kennen.