Noch immer fehlt es am Verständnis für die Mechanismen dieses Krieges. Ohne weitere qualifizierte Waffenlieferungen für die ukrainische Armee droht der Krieg in ein endloses Patt zu münden.

Die Verlautbarungen des russsischen Verteidigungsministeriums zu deuten ist eine eigene Disziplin der Kreml-Astrologie. Die Erklärung des russischen Verteidigungsministers Schoigu vom 24. August, dergemäß sich zwar das Tempo der russischen Offensivoperationen in der Ukraine verlangsame, Russlands Ziele im Kriege jedoch dieselben blieben, ist das recht deutliche Eingeständnis eines Problems. Auch das Institut for the Study of War (ISW) wertet die Aussage als Beleg dafür, dass die ausbleibenden Erfolge der russischen Streitkräfte in der Ukraine beschönigt werden sollen. Seit die russische Armee Mitte Juli ihre Angriffe wieder aufgenommen hat, konnte sie lediglich ein Gebiet von der Größe Andorras neu erobern. Hingegen hat sie seit dem 21. März, dem Datum des bis heute weitesten russischen Vormarschs, eine Landfläche größer als Dänemark verloren. Nach Einschätzung des ISW sind die russischen Streitkräfte offenbar nicht dazu in der Lage, „begrenzte taktische Erfolge in umfassendere operative Erfolge umzuwandeln“.

Betrachtet man den Kriegsverlauf in seiner Gesamtheit, dann wird klar, dass die Fähigkeiten der russischen Armee wohl drastisch überschätzt wurden. Umso auffallender sind dagegen die Erfolge der Ukraine im Logistik und Versorgungs-Sektor und bei der Koordination der Waffenlieferungen. Das hat viele überrascht, hieß es anfänglich doch immer wieder, die Versorgung der ukrainischen Streitkräfte würde perspektivisch zum Problem. Genau das ist aber nicht geschehen, und zwar obwohl die Russen alle großen Raffinerien bzw. POL-Depots („Petrol, Oil, Lubricants“ – Benzin, Öl, Schmierstoffe) entweder zerstört oder zumindest schwer beschädigt haben. Dank der ukrainischen Eisenbahnen werden von den NATO-Staaten bereitgestellte Munition, Waffen, Treibstofflieferungen und sonstiger Nachschub effizient und schnell bis an die Front transportiert und verteilt, wie der Militärhistoriker Tom Cooper erklärt.

Cooper hat etliche Bücher zu Luftkriegen, Piloten und Luftstreitkräften einzelner Ländern publiziert. Und er hat, im Gegensatz zu vielen anderen Autoren, schon früh die Defizite und Modernisierungsmankos der russischen Luftwaffe (VKS) in den Blick genommen – Defizite, die sich bereits im Syrienkrieg gezeigt hatten. Auch wies Cooper von Beginn des Krieges an darauf hin, dass die VKS die in sie als Elite-Einheit gesetzten Erwartungen nicht erfüllt hat.

Der logistische Vorsprung der Ukrainer betrifft neben dem Transport auch die Verteilung und besonders das Versteck des Kriegsmaterials. Immer mehr werden die Verantwortlichen dabei zu Meistern der dezentralen Organisation – unumgänglich, denn gerade Artillerie-Geräte können aus naheliegenden Gründen nicht direkt an der Front gelagert werden. Und so bombardiert die russische Luftwaffe zwar alles, was nur annähernd nach einem größerem Versteck aussehen könnte, die tatsächlichen Versorgungswege sucht sie in der Ukraine aber meist vergeblich. Transporte in Bewegung gezielt zu bombardieren, ist der russischen Armee erkennbar schlicht nicht möglich; Leidtragende der Ungenauigkeit ihrer Angriffe sind daher oft Zivilisten.  Auch die vielfache, sinnlose Zerstörung ukrainischer Landwirtschaftslogistik ist ein Ausweis für die Ratlosigkeit der russischen Einsatzleitung.

Cruise Missiles sind „trockengefahren“

Nebeneffekt dieser Vorgehensweise ist ein erheblicher Verschleiß von Material, Flugzeugen und anderen Ressourcen auf russischer Seite. Mittlerweile geht Cooper davon aus, dass die Bestände an Ballistik- und Marschflugkörpern von den Russen zunehmend „trockengefahren“ oder, einfacher ausgedrückt, weitgehend aufgebraucht sind. Auch wenn jeder Raketeneinschlag in der Ukraine noch immer einer zu viel ist und mit schrecklichen Verlusten an Mensch und Material vor allem im zivilen Bereich einhergeht, muss festgehalten werden: Es gelingt der russischen Luftwaffe immer seltener, ihre Raketen ins Ziel zu führen. Laut Cooper ist die ukrainische Luftverteidigung mittlerweile so gut organisiert und ausgerüstet, dass etwa über Odessa mehr und mehr Raketen durch Abfangjäger oder von der bodengestützten Luftverteidigung abgefangen werden könnten; ihm zufolge kamen im Schnitt um die drei von vier Raketen nicht an.

Daher habe die VKS früh auf Cruise-Missile-Varianten zurückgreifen müssen, die eigentlich im Kalten Krieg für Angriffe auf westliche Flugzeugträgergruppen konzipiert worden waren. Mittlerweile scheint die Not so groß, dass die VKS sogar Raketen wie das SAM300-System, das für die Luftabwehr gedacht ist, als ballistische Angriffsraketen einsetzt. Auch der Einsatz von Überschallrakten wie der Ch-47 Kinschal sei für die russische Luftwaffe nicht wirklich hilreich, da es an Produktionslinien und damit an Stückzahlen fehle. Die „Wunderwaffe“ erfülle eher einen Propagandazweck, zumal seit dem 24. Februar Cooper zufolge wohl lediglich zwei (!) dieser Raketen tatsächlich eingesetzt wurden. Auch bei den Cruise Missiles vom Typ Ch-101 und 3M-54 Kalibr liege die Produktionskapazität der russischen Militärindustrie derzeit bei nur vier bis acht Stück im Monat; ebenso bei ballistischen Raketen wie dem Modell Iskander-M

Schließlich wird aber noch auf einen weiteren bedeutsamen Umstand verwiesen: Keine diese Waffen ist ohne westliche Elektronik funktionsfähig. Die westlichen Sanktionen greifen hier effektiv, was im Umkehrschluss bedeutet: Ohne die Sanktionen könnte Russland diesen Krieg ganz anders und viel intensiver führen. Auch chinesische Unternehmen sind weiterhin zögerlich, wenn es darum geht, Militärtechnik an Russland zu liefern, aus Angst, selbst zum Ziel des westlichen Sanktionsregimes zu werden. Coopers Resümee ist eindeutig: „Es ist Russland […] kaum möglich, kontinuierlich tiefer in die Ukraine einzudringen, auch wenn es alles versuchen wird, das zu widerlegen.“

Black Box Ukraine

Ein weiterer wichtiger Aspekt seiner Analyse betrifft die Fähigkeit der Ukrainer, Waffen zu verstecken bzw. zu verbergen. In einigen NATO-Ländern wüssten russische Dienste wie GRU und FSB dank ihrer Netzwerke von Informanten gut über alle Bewegungen von NATO-Militärtechnik Bescheid. Mit dem Überqueren der ukrainischen Grenze hingegen verliert sich die Spur für die Russen fast immer – ein Beleg dafür, dass die „innere Sicherheit“ in der Ukraine auch jetzt gut funktioniert. Cooper führt dies nicht zuletzt auf die effektive ukrainischen Antworten auf Russlands Cyberkrieg zurück.

In Bezug auf die verwendete Software der digitalen Kriegsführung habe die ukrainischen Seite viel dazugelernt und sei nun möglicherweise im Vorteil. Der Hauptunterschied zwischen den russischen und ukrainischen Streitkräften sieht Cooper dabei im Situationsbewusstsein. Die Ukrainer nutzten die sogenannte Kropyva-App, die für Artillerie, aber auch für Infanterie, Panzer und andere Einheiten funktioniere. Ein durchschnittlicher Sergeant der ukrainischen Armee hat dank dieser App einen Überblick, den auf russischer Seite höchstens die Generäle im Hauptquartier in Rostow am Don haben, so Cooper.

Zugleich ist unstrittig, dass wenig diesen Krieg so beeinflusst hat wie die westliche Entscheidung für die Lieferung moderner Artilleriesysteme. In den zurückliegenden zwei Monaten hat die ukrainische Armee tatsächlich immer dann bemerkenswerte Erfolge errungen, wenn diese Systeme nahe der Front eintrafen, da sie deutlich zielsicherer sind als die Nachfolgemodelle der alten sowjetischen Systeme, wie der Forbes-Analyst Volodymyr Dacenko ausführt.

Bereits Ende Juli wurden mehr als 200 russische Ziele im Süden mit Artillerie und Raketen größerer Reichweite erfolgreich angegriffen, wie unter anderem die New York Times berichtete.  Der ukrainischen Armee gelang es dabei, die Nachschubswege, Depots und Befehlsstände der russischen Armee zu treffen. Insbesondere russische Truppen in der Region Cherson, die jetzt besonders im Fokus steht, gerieten schon im August durch gezielten Beschuss derartin Bedrängnis, dass die russischen Hauptquartiere auf die östliche Seite des Dneprs verlagert wurden.  Rund zehn- bis zwanzigtausend russische Soldaten sind nun in dieser Region von Versorgungswegen abgeschnitten.  

Die Bereitschaft zum Kampf sinkt

Unabhängig davon, wie sich die derzeitige Offensive der ukrainischen Armee im September weiter entwickelt, haben die Erfahrungen des HIMARS-Beschusses eine klare Wirkung auf die gesamten russischen Streitkräfte. Abgefangene Soldatenbriefe und Nachrichten in militärischen Chatgruppen wie Telegram legen den Schluss nahe, dass die Bereitschaft vieler russischer Soldaten, längere Zeit in der Ukraine zu kämpfen, merklich gesunken ist. Berichte wie den des Deserteurs Pawel Filatjew hatte es zuvor in dieser Deutlichkeit und Ausführlichkeit wohl nicht gegeben.

Unstrittig bleibt bei alledem, dass die Ukraine der russischen Armee bei der Anzahl an Artillerie-Geschützen weit unterlagen ist. Die militärischen Begegnungen sind daher gegenwärtig ein Katz-und-Maus-Spiel, bei dem es nur eine Frage der Zeit ist, bis russischen Truppen die Schläge der ukrainischen Artillerie beantworten. Ebenso verfügt der Kreml grundsätzlich noch über viele Möglichkeiten, weitere Soldaten zum Ausgleich für seine immensen Verluste zu rekrutieren. Beide Seiten droht infolge der hohen Verluste bei den Kämpfen im Oblast Luhansk allerdings ein Mangel an wirklich qualifizierten Kräften insbesondere in den Offiziersrängen. Diese neu auszubilden, ist zwar möglich, kostet aber Zeit.

Der Mangel an erfahrenen Kämpfern ist dabei doppelt tödlich, da zu den unmittelbaren Verlusten das erheblich gesteigerte Risiko für andere, weniger professionell geführte Truppen hinzutritt. Cooper zufolge betrafen 95 Prozent der bisherigen ukrainischen Verluste dabei unerfahrene Truppen, während Soldaten mit Kampferfahrung eine zehnfach höhere Überlebenschance hätten. Solche erfahrenen Kämpfer sind aber in nicht geringer Zahl während der Kämpfe um Sjewjerodonezk und Umgebung gefallen. Bei zukünftigen Schlachten drohen durch das relative Übergewicht unerfahrener Truppen nun noch größere Verluste.

Fazit: Das nächste Level

Obwohl die Ukraine seit Beginn des Krieges auch mit Unterstützung ihrer Partnerländer im großen Stil Soldaten aus- und weiterbildet, verfügt sie nicht über genügend Truppen und Ausrüstung, um die gesamte Frontlinie effektiv zu sichern. Der ukrainischen Führung bleiben so, vereinfacht gesagt, zwei Optionen: Sie kann unerfahrene Truppen entlang der langen Frontlinie als Notnagel zum Lückenschluss einsetzen, riskiert damit aber weitere hohe Verluste. Oder sie konzentriert sich auf den Einsatz kampferfahrener Einheiten vor allem an neuralgischen Punkten eingesetzt werden. Beides kann indes nur gelingen, wenn die Ukraine in einem viel höheren Maß als bislang rasch weitere Waffenlieferung erwarten kann. Doch genau hier zögern die Verbündete, die sich auf den Incrementalism, also ein schrittweises Vorgehen verlegt haben, mit dem sie der Ukraine einen Bärendienst erweisen.

Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba brachte es auf den Punkt, als er die Verhandlungen um umfangreichere Lieferungen von Waffen mit größerer Reichweite mit der Logik eines Videospiels verglich: „Du musst das nächste Level freischalten, aber bevor du das schaffst, stirbst du normalerweise ein paar Mal. Das Problem im wirklichen Leben ist, dass man nicht mehrmals sterben kann, bevor man das nächste Level erreicht.“  


Unser Gastkolumnist Marcus Welsch war in den letzten zehn Jahren Dutzende Male in Polen, der Ukraine und anderen Staaten Mittel- und Osteuropa unterwegs. Er ist als Dokumentarfilmregisseur oft mit dem ukrainischen Schriftsteller Serhij Zhadan durch den Osten seines Landes gefahren. Warum ihn jetzt das Reden in Deutschland über Krieg und Frieden um den Schlaf bringt, beschreibt er hier in einem mehrteiligen Tagebuch.

Hier geht es zu Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5 und Teil 6 des Tagesbuches.