Am 21. August vor 80 Jahren starb Leo Trotzki nach einem Mordanschlag. Verbannt, verleugnet und verteufelt wie kaum eine andere historische Gestalt endete sein Leben im mexikanischen Exil. Lohnt es sich, noch heute seine Schriften zu lesen? Unser Autor findet ja.

Churchill nannte ihn ein „Ungeheuer“. Als Oberbefehlshaber der Roten Armee fuhr der Bauernsohn, spätere Journalist, Literat und Berufsrevolutionär Leo Trotzki im Bürgerkrieg mit dem Panzerzug von Front zu Front und war der Alptraum aller Verteidiger des alten Regimes. Der russische Bürgerkrieg (1918-1922), der auf den von ihm organisierten Oktoberputsch folgte, war entsetzlich grausam. Zirka eine Million Soldaten beider Seiten und Zivilisten verloren ihr Leben (genaue Statistiken gibt es nicht). Isaac Deutscher nannte den Trotzki der Bürgerkriegszeit einen „bewaffneten Propheten“. Dieser Prophet der Weltrevolution schreckte nicht einmal davor zurück, revolutionäre Matrosen zu massakrieren, als sie enttäuscht vom Machthunger ihrer Anführer gegen die Bolschewisten rebellierten. Auf humanitäre Skrupel reagierte er zynisch:

„Revolutionen pflegten sich stets durch Unhöflichkeit auszuzeichnen wohl deshalb; weil die herrschenden Klassen sich nicht rechtzeitig die Mühe gaben, das Volk an gute Manieren zu gewöhnen.“

Trotzki

Sollte man so einen nicht besser zusammen mit anderen bluttriefenden Bürgerkriegsstrategen unter „moralisch erledigt“ ins historische Archiv entsorgen? Ihn bestenfalls als abschreckendes Beispiel für die ideologische Versteinerung des 20. Jahrhunderts hervorholen? Es wäre schade um den anderen Trotzki. Denn der Kriegskommissar war gleichzeitig ein talentierter und scharfsichtiger Schriftsteller, der zwar in doktrinär-marxistischen Kategorien gefangen war, sich aber dennoch als hellsichtig erwies. 

In der historischen Rückschau war es wohl sein größtes Verdienst, lange vor anderen Beobachtern den Charakter des Nationalsozialismus richtig eingeschätzt zu haben. Während die Moskau hörigen deutschen Kommunisten in den 30er-Jahren verkündeten, der Nationalsozialismus sei nichts weiter als eine Variante reaktionärer Politik, erkannte der damals bereits aus dem Kreml verstoßene Trotzki, dass sich in Deutschland etwas völlig Neues und sehr Gefährliches anbahnte. Er forderte die Einheitsfront der Linken, also ein Zusammengehen von KPD und SPD. Vergeblich. Für die KPD war die SPD der Hauptfeind. Hitler hielt man für ein vorübergehendes Phänomen. Die Braunen würden den Weg für einen Sieg der Roten ebnen. Trotzki dagegen sah die Anziehungskraft des Nationalsozialismus, der gerade deswegen so erfolgreich war, weil er die niedersten Instinkte der Deutschen ansprach. 

Als er 1936 nach verschiedenen anderen Exilstationen auch aus Norwegen ausgewiesen wurde, weil einerseits Moskau diplomatischen Druck ausübte und andererseits der Faschist Vidkun Quisling (dessen Name später Synonym für das Anbiedern an Hitler wurde) gegen den roten Revolutionär hetzte, schrieb Trotzki an die Regierung Norwegens: „Dies ist Ihr erster Akt der Unterwerfung unter die Nazis in Ihrem eigenen Land. Dafür werden Sie bezahlen…der Tag ist nicht fern, an dem die Nazis Sie aus Ihrem eigenen Land vertreiben werden.“ Weniger als vier Jahre später wurde die Prophezeiung war.

Einer der ersten Kritiker Stalins

Nach wie vor ist Trotzki auch als einer der ersten Kritiker des Stalinismus lesenswert, alleinschon weil er das System von innen kannte. Heute ist klar, er unterschätzte nicht nur Stalin, sondern auch die Dimension des stalinistischen Terrors, der Millionen Menschen das Leben kostete und ein kafkaeskes System aus Angst und Lüge schuf. Trotzki sah lediglich den Verrat der Bonzen und Bürokraten an der Revolution. Die Ermordung fast aller Genossen Lenins erschütterte ihn. Wie sehr aber das Gulag-System auch die einfachen Menschen terrorisierte, erfasste er nicht. Ebenso wie die gezielte Erzeugung von Hungersnöten, um Bauernrebellionen im Keim zu ersticken. Dennoch ist es sein Verdienst, schon in den frühen 30er-Jahren den Stalinismus angeprangert zu haben, als noch fast alle Linken im Westen die Sowjetunion für ein Paradies der Arbeiter und Bauern hielten. Stalin muss das extrem erzürnt haben. Denn er und seine Komplizen hängten in den kommenden Jahrzehnten so ziemlich allen ihren Kritikern und Gegnern das Etikett „Trotzkist“ an, egal ob sie das Geringste mit Trotzki zu tun hatten oder ihn sogar ablehnten. Wären alle Menschen, die in den 30er- und 40er-Jahren als „Trotzkisten“ verfolgt wurden tatsächlich Anhänger Trotzkis gewesen, hätte er eine Millionen zählende Gefolgschaft gehabt.

Der dritte Grund, warum sich die Lektüre Trotzkis auch heute noch lohnt, sind die Texte, in denen sein Denken über den Zaun marxistischer Dogmatik fliegt. Sogar die ökologischen Fragen des späten 20. Jahrhunderts sah er voraus. Als Fortschrittsoptimist prophezeite er, dass technische Entwicklung und Naturschutz in Einklang gebracht werden könnten:

„Es werden bleiben Dickicht und Waldungen und Auerhähne und Tiger, aber dort, wo ihnen der Mensch den Platz zugewiesen haben wird. Und er wird dies so geschickt anstellen, dass sogar der Tiger… so leben wird, wie er in Urzeiten gelebt hat. Die Maschine ist kein Gegensatz zur Erde.“ 

Trotzki

Dies war jedoch nicht der Grund dafür, dass der verstoßene Revolutionär und ewige Exilant im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zum Idol für linke Jugendliche und Intellektuelle wurde. Es hatte wohl mehr mit Revolutionsromantik zu tun. Der Mann mit dem Kampfnamen Trotzki, der eigentlich Leo Davidowitsch Bronstein hieß, war einfach cooler als die mit Orden behangenen kommunistischen Führer, die an der Macht geblieben waren. Bilder aus dem Russischen Bürgerkrieg zeigten ihn in schwarzer Lederjacke. Trotzkis runde Nickelbrille (John Lennon) passte ebenso zum 70er-Jahre-Outfit, wie die Barttracht (Frank Zappa). Er eignete sich bestens als Posterboy mit dem man das eigene Rebellentum feiern konnte und war obendrein nicht so trivial und abgedroschen wie der millionenfach gedruckte Che Guevara. Im Alter sah er dann aus wie der weise, charismatische Professor, den sich jeder Philosophiestudent wünscht. Und – vielleicht das Wichtigste – es umwehte ihn die romantische Aura des Verlierers. Wie Rosa Luxemburg war dieser Revolutionär nicht als Bonze geendet. 

Ein Leben wie im Film

Dazu kam der abenteuerliche Lebensweg zwischen den Kommandohöhen der Macht und den Kellern der Konspiration verbunden mit interkontinentalen Wohnortwechseln von Wien bis New York. Er stand an der Spitze zweier Revolutionen (1905 und 1917) und die Liste seiner Verbannungen, Ausweisungen und Exile ist rekordverdächtig: Sibirien, Kasachstan, Türkei, Frankreich, Norwegen, Mexiko. Im Machtbereich von Stalin und Mao, der ein Drittel der Erde umfasste mit mächtigen Filialen in westlichen Ländern, war Trotzki die verfemteste Person der 20. Jahrhunderts. In den Jahren des großen Terrors (1936-1939) wurde er unentwegt beschuldigt, hinter allem zu stecken, was in der Sowjetunion nicht funktionierte. Nachdem der letzte vermeintliche Trotzkist erschossen oder im Straflager war, verschwieg man eisern, wer dieser Leo Trotzki war. Nur als dämonischer Oberschurke durfte er noch erwähnt werden. Dokumente wurden gefälscht und sein Name aus Büchern getilgt. Lange vor der Erfindung von „Photoshop“ ließ man ihn aus Fotos verschwinden. Einige dieser Retuschen wurden sogar in westlichen Publikationen nachgedruckt, ohne dass es jemand bemerkte. Selbst der berühmte 20. Parteitag der KPdSU 1956, auf dem Chruschtschow die Entstalinisierung einleitete, wagte es nicht, Stalins Erzfeind seinen Platz in der Geschichte der UdSSR zurückzugeben. Erst unter Gorbatschow 1986 war es wieder erlaubt, öffentlich den Namen des Mannes zu nennen, der die Rote Armee gegründet hatte. 

Im heutigen Russland wird Trotzki erneut verteufelt. Putin huldigt alle historischen Herrscher, die das Reich vergrößerten, und verabscheut die, unter denen es schrumpfte. Deshalb lässt er Stalin feiern und verdammt gleichzeitig die Oktoberrevolution. Denn in deren Folge verlor Russland Territorium. 2017 sendete das Putin treue Fernsehen eine aufwendig gemachte achtteilige Serie über den Gründer der Roten Armee. Darin wird er als größenwahnsinniger Dämon der Revolution dargestellt, der Russland ins Unglück stürzte. Antisemitische Klischees bekräftigen die nationalistische Umdeutung der historischen Ereignisse.   

Dass sich im Westen dagegen eine linke Minderheit dem Bannfluch der Kommunistischen Parteien widersetzte und weiterhin Trotzkis Bücher las, lag vermutlich an seinen schriftstellerischen Fähigkeiten. Während die ledergebundenen Werke der amtierenden Parteichefs nichts als Ansammlungen hölzerner Phrasen enthielten, konnte Trotzki seine Leser fesseln. Seine Autobiographie „Mein Leben“ lohnt die Lektüre noch heute. Obwohl sie – wie fast alle Autobiographien – den Autor zu gut wegkommen lässt. Aber die Geschichte vom Sohn eines jüdischen Bauern aus der Ukraine, der es zum zweitmächtigsten Mann im euroasiatischen Riesenreich schafft, fesselt nach wie vor. Wer sich mit der Geschichte der Sowjetunion befasst, sollt auch heute noch „Verratene Revolution“ lesen.

So wurde Trotzki zum roten Leitstern für viele Intellektuelle und Künstler. Wer das Selbstdenken nicht zugunsten von Direktiven aufgeben wollte, orientierten sich zumindest eine Weile an dem Abtrünnigen aus dem Kreml. André Breton, Frida Kahlo und Diego Rivera diskutierten mit ihm über revolutionäre Kunst. Saul Bellow, Norman Mailer, Milan Kundera und Ken Loach ließen sich von seinen Gedanken inspirieren. Arthur Köstler, Manès Sperber und Wolf Biermann hegten zumindest eine Weile Sympathie. Christopher Hitchens befasste sich immer wieder mit dem verstoßenen Revolutionär. In den zwei weltberühmt gewordenen Romanen George Orwells spielen an Trotzki angelehnte Figuren eine wichtige Rolle. Das Schwein „Snowball“ in „Farm der Tiere“ und in „1984“ Emmanuel Goldstein, der Gegenspieler des „Großen Bruders“, von dem man nicht weiß, ob es ihn wirklich gibt ober ob er von der totalitären Partei erfunden wurde als Sündenbock für alles Übel. 

Als in den 70er-Jahren an westdeutschen Universitäten kommunistische Sekten Stalin und Mao huldigten, waren die Trotzki-Anhänger neben den Undogmatischen Linken die Einzigen, die mit denen man noch Argumente austauschen konnte ohne sich gleich an die Gurgel zu gehen. Sie diskutierten intellektuell anspruchsvoller und verteidigten keine Diktaturen. Wobei es auch damals schon vollkommen verrückte trotzkistische Splittergruppen gab, die sich an Dogmatik nicht überbieten ließen. In die Nähe politischer Macht kamen Anhänger Trotzkis nirgends. Einzig in Algerien und Sri Lanka saßen einige von ihnen mal in Koalitionsregierungen. In lateinamerikanischen Staaten gab es größere Parteien und in Frankreich kandidierten bei den Präsidentschaftswahlen 2007 gleich drei trotzkistische Kandidaten. Ein besonderes Kapitel sind die vielen Ex-Trotzkisten, die es in der Politik weit brachten, darunter der ehemalige französische Premierminister Lionel Jospin. In Polen, der CSSR und der DDR  hatten bekannte Anführer der Bürgerrechtsbewegungen wie Jacek Kuroń, Adam Michnik, Petr Uhl oder Wolfgang Templin in ihrer Jugend Trotzki bewundert. Willy Brandt gehörte in jungen Jahren der SAP an, einer kleinen linken Partei, die von Stalins Stadthaltern in Deutschland als trotzkistisch denunziert wurde.

Abscheuliche Gewaltexzesse

Bei aller Faszination für den Intellektuellen Trotzki, sollte man nicht vergessen, dass er als Revolutionsführer abscheuliche Gewaltexzesse in Gang setzte und befehligte. Gewiss auf der anderen Seite der Bürgerkriegsfront stand die Weiße Armee, eine nach heutigen Maßstäben faschistische Truppe (das Wort Faschismus wurde erst 1920 in Italien kreiert). Die Weißen geizten nicht mit Massakern und Pogromen. Was die Brutalität der Roten unter Trotzki jedoch nicht rechtfertigt. 

Trotzki war ein verhinderter Stalin, befanden später manche Historiker. Das große kommunistische Schisma sei nichts weiter gewesen, als der bewaffnete Konkurrenzkampf zweier Gangsterbanden, von der die eine die andere ausgelöscht hat. Andere – insbesondere Linke – sahen in Trotzki den Hüter der unbefleckten marxistischen Lehre, die von den ruchlosen Stalinisten missbraucht und in den Schmutz gezogen worden war. Historische Was-wäre-wenn-Spiele sind so sinnlos wie beliebt. Und so wurde in linken Eckkneipen und historischen Seminaren immer wieder die Frage aufgeworfen, wie hätten sich die Sowjetunion und der Weltkommunismus entwickelt, wäre der Machtkampf nach dem Tode Lenins andersherum ausgegangen.  

Beide Antipoden waren für einen Einparteienstaat und gegen das, was Kommunisten abfällig „bürgerliche Demokratie“ nennen. Trotzki war kein Dubček und kein Gorbatschow, die den Sozialismus demokratischer machen wollten. Er glaubte an die „Permanente Revolution“ und betrachteten die Menschen als zu erziehende Masse. Lenin und er ließen politische Gegner verhaftet und ins Gefängnis sperren, insbesondere Anhänger anderer Linksparteien. Allerdings ließen sie die eigenen Parteimitglieder nicht erschießen, was Stalin später dann besonders gern tat. Als großer Rhetoriker hatte Trotzki Vergnügen an kontroversen Debatten, deshalb hätte ihn eine totale Unterdrückung innerparteilicher Gegner vermutlich gelangweilt. Pateisäuberungen wären unter seiner Führung vermutlich nicht so massenhaft und nicht so tödlich verlaufen. Beide, Stalin und Trotzki, waren Gewaltmenschen, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung. Der eine aus doktrinärer Überzeugung, dass nur mit Gewehren eine bessere Gesellschaft erzwungen werden kann. Der andere aus unstillbarem Machhunger und dumpfen Sadismus.

Die Forcierte Industrialisierung der UdSSR war Konsens zwischen den Widersachern, ebenso wie die Kollektivierung der Landwirtschaft. Ob auch ein Trotzki Millionen Bauernfamilien der Ukraine in den Hungertod getrieben hätte? Das weiß niemand. Vor der Besetzung der Baltischen Staaten und Teilen Finnlands hätte er nicht zurückgeschreckt. Im Gegenteil, der Weltrevolutionär wollte stets die Revolution exportieren, während Stalin einen sowjetischen Nationalkommunismus anstrebte. Sehr wahrscheinlich hätte Trotzki weitere Versuche unternommen eine Weltrevolution anzuzetteln, denn er glaubte nicht daran, dass die UdSSR als einzige kommunistische Nation überlebensfähig wäre. Er steckte hinter dem gescheiterten Versuch der deutschen Kommunisten im Oktober 1923 nach russischem Vorbild bewaffnet die Macht zu erobern. Doch eines wäre mit einem Staatschef Trotzki sicherlich nicht zustande gekommen, der Pakt mit Hitler, den Stalin 1939 schloss.

In seinem letzten Lebensabschnitt schuf der alte Revolutionär eine geistige Durchgangsstation, die einigen der klügsten Köpfe des 20. Jahrhunderts eine Weile Obdach bot. Seine Kritik am Unterdrückungsapparat der Sowjetunion ermöglichte es Linken darüber zu sprechen, was dort falsch lief, ohne den Marxismus aufzugeben. Zehntausende Ex-Kommunisten in aller Welt haben auf ihrem Weg eine Trotzki-Phase durchlaufen. Man darf dabei nicht vergessen, dass zumindest bis zum Hitler-Stalin-Pakt fast alle bedeutenden Intellektuellen stramm links waren. 

Dieser Weg von der kritiklosen Frömmigkeit über den kritischen Glauben zur Glaubenskritik kennzeichnet nicht nur kommunistische Schicksale. Es ist eine übliche Entwicklung, die viele nehmen, die – meist in jungen Jahren – einer Ideologie oder Religion gefolgt sind. Die tiefe Überzeugung gibt zunächst Halt, Sinn und dem Leben eine Richtung. Dann schleichen sich Zweifel ein, man kratzt an der Tapete, und plötzlich kommt einem die ganze Wand entgegen. Doch zum ersten Kratzen braucht man Mut. Da hilft der Gedanke: Du bist ja gar nicht abtrünnig! Nein! Du bist der einzig wahre Kommunist, Christ, Muslim, Ökologist oder was auch immer. Widerwillen wirkte Trotzki als Katalysator für kommunistische Intellektuelle, die zu Demokraten wurden. Dieser Gedanke hätte dem Propheten der „Permanenten Revolution“ nicht gefallen.