Eliten seien von der Lebenswelt der gemeinen Bürger entkoppelt, abgehoben und selbstgefällig. Eliten, das sind ihrer ursprünglichen Bedeutung nach die Besten der Besten, eine Auslese – und als solche in der Minderheit. Der promovierte Philosoph und Journalist Alexander Grau sieht eine neue Elite, breiter aufgestellt als die traditionelle, politisch und mit Anspruch auf moralische Deutungshoheit. Salonkolumnistin Christina Geyer hat sich mit ihm unterhalten.

Herr Grau, Zählen Sie sich selbst zur Elite?
Das zu leugnen wäre albern. Als Akademiker in nicht prekären Verhältnissen und mit Arbeit im Medienbereich gehört man zu den neuen Eliten. Sich das einzugestehen ist auch wichtig, vor allem, um zu erkennen, dass auch das eigene Weltbild Produkt einer spezifischen Ideologie ist. Es ist nicht einfach die Wahrheit, sondern nur eine mögliche Weltsicht. Diesen kritischen Reflexionsprozess in Gang zu setzen ist wichtig – und sei es zur persönlichen Selbstversicherung.

Erkennen die Eliten denn an, dass es auch andere Lebensentwürfe und Weltsichten gibt?
Ich habe die Befürchtung, dass die Bereitschaft dazu generell abnimmt, nicht nur innerhalb der Eliten. Das ist interessant, da wir uns doch einreden, eine offene und tolerante Gesellschaft zu sein. Doch die ideologischen Gegensätze waren, denke ich, noch nie so stark wie heute. Vielleicht ist das eine Reaktion auf die Komplexität der Welt: Fest an das zu glauben, was man kennt und was man hat.

Eliten, das sind gemeinhin die Wenigen an der Spitze. Sie skizzieren das Bild einer Neuen Elite, die gerade nicht mehr nur aus „den Wenigen“ bestehen soll?
Ja, diese neue Elite unterscheidet sich von den traditionellen Eliten in einer ganzen Reihe von Eigenschaften. Eine davon ist ihre Größe. Einige Autoren, etwa Richard Florida oder David Goodhart, gehen davon aus, dass die neuen Eliten in westlichen Gesellschaften ungefähr 20-30 Prozent der Bevölkerung umfassen. Ich halte das für plausibel. Innerhalb dieses Milieus gibt es einen Code, der darüber bestimmt, ob man zu dieser Elite gehört oder nicht: ein Denken, ein Sprechen, Hobbies, Interessen, Mode, Lifestyle. Soziologisch gesehen handelt es sich bei dieser neuen Elite überwiegend um Aufsteiger aus dem Kleinbürgertum, was man an ihren Ressentiments gegenüber der alten Elite sieht. Psychologisierend könnte man sagen: Die neue Elite und ihre Werte sind Ausdruck einer Abwehr. Der hippe Start-up-Gründer im Szeneviertel emanzipiert sich von seiner kleinbürgerlichen Sozialisation in der Provinz. Zu Weihnachten muss man dahin vielleicht noch einmal zurück, aber das wahre Ich, das neue Ich lebt längst in einer Metropole und lehnt die spießige Provinz ab.

Spielt die politische Einstellung eine Rolle bei der Neuen Elite?
Natürlich, das lässt sich auch soziologisch gut nachweisen. Die neue Elite eint ein linksliberales Weltbild. Sie wählt überwiegend die Grünen, manche vielleicht FDP, einige eventuell noch die Merkel-CDU. Wer nicht die richtige Meinung hat, katapultiert sich schnell aus dem Elitendasein heraus. Insofern unterscheidet sich die neue Elite kaum von der alten. Nur die politischen Vorzeichen haben sich geändert. Musste man als Angehöriger der alten Elite konservativ sein, so gehört es zum Habitus der neuen Elite, sich tendenziell linksliberal zu geben.

Wer rechts der politischen Mitte steht hat keinen Zugang zur Neuen Elite?
Man kann das natürlich nicht auf die politische Haltung allein reduzieren, aber er wird es vermutlich sehr schwer haben. Selbst in den Führungsetagen der Wirtschaft hat man inzwischen dezidiert linke Werte und Ideale übernommen.

Könnte das erklären, warum Donald Trump gemeinhin nicht als Vertreter einer klassischen Elite anerkannt wird?
Keine Frage, natürlich. Bei Trump ist interessant, dass er ein lupenreines Produkt der amerikanischen Oberschicht ist, allein schon aufgrund seiner Herkunft und Ausbildung. Er gehört ganz offensichtlich zu den Sprösslingen des Establishments, revoltiert aber dagegen. Das ist bei Boris Johnson ganz ähnlich. Da werden die Regeln des Establishments bewusst gebrochen: Das sind ja keine Leute, die von außen kommen, die es vom Gebrauchtwagenhändler zum Milliardär geschafft haben. Ich vermute, dass sie die Regeln der etablierten Eliten sehr bewusst und vorsätzlich verletzen, weil sie sie kennen und mit ihnen groß geworden sind.

Welchen Grund könnten sie dafür haben?
Sie appellieren an ihre Kernwählerschaft. Menschen haben ja kein Problem mit Eliten, sondern nur mit einer Elite, von der sie sich nicht vertreten fühlen. Trump vermittelt über seine Rhetorik, dass er zur guten, zur volksnahen Elite gehört. Er ist zwar Milliardär, aber er signalisiert seinen Anhängern: Ich gebe mir Mühe, so zu sein wie ihr, so zu reden wie ihr und euch zu gefallen. Die Anderen wollen euch umerziehen, ich will das nicht.

Braucht eine Gesellschaft überhaupt Eliten?
Sie braucht zumindest eine Funktionselite: Leute, die irgendetwas besonders gut können: eine Maschine zu bauen, Häuser zu entwerfen oder Klavier zu spielen. Solche Leute sind notwendig, daher werden immer wieder Eliten entstehen. Wahrscheinlich gab es in der Menschheit noch nie eine Gruppe ohne Eliten. Früher waren das eben der Medizinmann, der Häuptling und die herausragenden Krieger.

Wie und wann ist aus den Funktionseliten eine Neue Elite entstanden?Industriegesellschaften bringen eine Funktionselite hervor, die traditionelle Eliten verdrängt. Anders als die traditionelle Elite ist diese Funktionselite progressiv. Die rechtfertigt sich über Neuerungen, über technischen Fortschritt. Nach und nach wird diese Idee der Fortschrittlichkeit auf nicht technische Gesellschaftsbereiche übertragen. Man will auch kulturell modern und progressiv sein. Schließlich wird Fortschrittlichkeit in gesellschaftlichen Fragen zum kulturellen Kapital. Wer diese fortschrittlichen Werte nicht teilt, wird ausgeschlossen. Die neue Elite gibt Normen und Moral vor. Das hat durchschlagende Wirkung: Es macht eben einen Unterschied, ob man sich als AfD- oder Grünen-Wähler outet. Ganz einfach, weil es zum kulturellen Kapital der neuen Elite gehört, sich von der AfD zu distanzieren.

Die traditionellen Eliten erkennt man in erster Linie am ökonomischen Kapital, die Neuen Eliten Ihnen zufolge am kulturellen. Folgt das Geld der Ideologie oder die Ideologie dem Geld?
Das ökonomische und das kulturelle Kapital sind in gewisser Weise amalgamiert. Die neuen Eliten schaffen mit ökonomischem Kapital kulturelles Klima, indem sie beispielsweise gewisse NGOs, Stiftungen oder politische Aktivisten unterstützen. Hier wird ganz bewusst und gezielt in Multiplikatoren investiert, die das richtige Weltbild kommunizieren.

Haben die Neuen Eliten eine Heimat?
Die Heimat der neuen Elite ist nicht geographisch oder historisch. Sie ist nicht gewachsen und hat nichts mit Herkunft zu tun. Es ist das Milieu der Gleichgesinnten, der Kreativen, der Urbanen und Flexiblen. Man arbeitet in einem IT-Unternehmen, in den Medien, bei einer NGO, im Kulturbereich oder an einem geisteswissenschaftlichen Institut. Dort reproduziert sich die Neue Elite: Ihre Vertreter landen dort, wo das eben beschriebene Kapital wieder Arbeitsplätze für sie schafft, wo sie zu Multiplikatoren einer Ideologie werden: in einer Stiftung, einer Redaktion, als Diversity- Experte oder Frauenbeauftragte in einem Unternehmen.

Ist die Ideologie der Neuen Eliten denn ein Problem?
Ja. Aus zwei Gründen: Äußerlich aufgrund der Selbstherrlichkeit und Intoleranz mit der sie vertreten wird. Das spaltet die Gesellschaft, weil viele Menschen sich von kulturellen Normen gesteuert fühlen, die sie selber nicht teilen. Aber es gibt auch inhaltliche Probleme: Wichtige und notwendige Anliegen wie die Abschaffung der Diskriminierung von Minderheiten werden ideologisiert und zu politischen Zwecken missbraucht. Seit Jahren wird der Kampf gegen Diskriminierungen als Hebel benutzt, um eine radikal andere Gesellschaft zu schaffen. Das spüren viele Menschen und das verhärtet die Debatten.

Hat diese Verhärtung im Debattenklima eine Stunde Null gehabt?
Der Auslöser war sicher die Migrationskrise 2015. An ihr sind eine ganze Reihe kultureller und gesellschaftspolitischer Konflikte aufgebrochen. Deshalb hat die Migrationsdebatte auch diese Vehemenz entwickelt. Wenn es allein um Migration gegangen wäre, die Debatte wäre deutlich sachlicher verlaufen. Alle Beteiligten wussten aber: Es geht um mehr, es geht darum, wie unsere Gesellschaft in Zukunft aussehen soll. Und es ging um Denk- und Sprachhemmnisse, darum ob man „Flüchtling“ sagt oder „Geflüchteter“. Es wäre schon viel gewonnen, wenn die Denk- und Sprachhemmnisse im Milieu der neuen Eliten aufgeweicht würden.

Erklären diese Denk- und Sprachhemmnisse die wachsende Elitenskepsis in der Bevölkerung? Den Eliten wird ja zunächst einmal vorgeworfen, den Kontakt zur Lebenswelt gemeiner Bürger verloren zu haben.
Das ist Tatsächlich auch ein Sprachproblem. Die neuen Eliten, vor allem Vertreter aus dem Kulturbereich und den Geisteswissenschaften, reden oft in einer Sprache, die nur noch auf dem ersten Blick etwas mit der normalen Sprache zu tun hat, aber praktisch nach anderen Regeln funktioniert und mit anderen Bedeutungen. Das führt dann dazu, dass Begriffe moralisch ganz anders konnotiert sind. Es ist noch dasselbe Wort, setzt aber ganz andere Assoziationen frei, und beide Assoziationsräume sind im Grunde nicht kompatibel.

Haben Sie dafür ein Beispiel?
Das beste Beispiel ist für mich „Familie“. Die einen verbinden mit „Familie“ Geborgenheit, Liebe, Harmonie und Sicherheit. Die anderen Unterdrückung, Diskriminierung, Unfreiheit, Sexismus und Heuchelei. Diese Konzepte haben keine Schnittmenge mehr. Wenn nun die Familienverächter den politischen Diskurs beherrschen, fühlen sich die Familienbefürworter bedroht.

Zuletzt erschien von Alexander Grau „Politischer Kitsch – Eine deutsche Spezialität“(Claudius Verlag, 2019)