Zwischen dem, was und was nicht gesagt werden darf, liegt eine wachsende Zone, was nicht gesagt werden soll.

Soziale Netzwerke, Sharing-Plattformen, Suchmaschine (Singular reicht) sind als Intermediäre die Sargnägel traditioneller Medienhäuser. Sie entwerten als Geschäftsgrundlage die gewerbsmäßige Verbreitung von Nachrichten als längst ubiquitär gewordene Information. Sie vermarkten die Aufmerksamkeit ihrer Nutzer und monetarisieren Inhalte, die, unabhängig davon, wo und wie sie produziert werden, von denselben Nutzern in diese Plattformen geteilt werden – für Medien selbst bleibt oft nur wenig oder zu wenig, mit dem ein wirtschaftlicher Betrieb in bewährter Qualität aufrechterhalten werden kann. Neben diesem ökonomischen Druck forcieren die Intermediäre – damit Zielgruppen über die Bestätigung ihrer eigenen Meinung gehalten werden können – politische Zuordenbarkeit in der Medienproduktion. Sie vermitteln gesellschaftlichen Anpassungsdruck und fördern damit auch eine ideologische Homogenisierung und neue Übervorsichtigkeit einzelner Medienhäuser, die zu einem intellektuellen Absterben des Binnenpluralismus führt.

In ihrem Kündigungsschreiben an die New York Times macht die Journalistin Bari Weiss die Rückkopplung der Leser und weiteren Öffentlichkeit über Netzwerke wie Twitter dafür verantwortlich, dass die Redaktion ihre Linie danach justiert, wie Inhalte rezipiert werden. Twitter stünde als letztinstanzlicher Redakteur nicht im Impressum: „Twitter is not on the masthead of The New York Times. But Twitter has become its ultimate editor.“

Die Folge: Die Meinungsvielfalt des Qualitätsmediums tritt zu Gunsten eines vermeintlich breit akzeptierten, weltanschaulichen Konsens in den Hintergrund. Keine Fehler zu machen, keine identitätsstiftenden Kollektive zu verärgern, Kontroverse lieber im Vorhinein durch Einseitigkeit – aber dabei schon auf der richtigen Seite stehend – zu antizipieren und außer Kraft zu setzen, steht als frei gewähltes Selbstregulativ und Filter schützend vor dem journalistischen Output.

Kyber-Raum

Man kann freilich der Meinung sein, dass das eine gute Entwicklung ist. Endlich schreibt (andere Medientypen sind mitgemeint) eine Generation alternder Journalisten nicht einfach ihre weltanschaulich geprägte Sicht der Dinge in die Welt, ohne sich damit bis auf den gelegentlichen Leserbrief auseinandersetzen zu müssen, wo und wie ihre Arbeit wirklich ankommt und ob ihre Dispositionen, Wortwahl und vermeintlicher Einfluss noch zeitgemäß sind. Sie würden jetzt hören, was tatsächlich ankommt.

Nur stimmt das nicht, weil die Repräsentativität dieser Echokammern des Social Web verzerrt ist. Auch die Kybernetik des Cyberspace erreicht in ihren Rückkopplungsschleifen nur einen kleinen, aber eben wirkmächtigen Ausschnitt veröffentlichter Meinung in den sozialen Netzwerken. Es ist eine folgenschwere Verwechslung mit öffentlicher Meinung, die letztendlich zu einer Feedbackkultur führt, die in einer sich selbst verstärkenden Schleife Anomalien in dem, was als akzeptable Meinung innerhalb einer Kaste gilt, peu à peu ausmerzt. Die Filterblasen sind zu einer Größe angewachsen, die mittlerweile internationale Medienhäuser im Ganzen in sich aufnehmen können.

Wachzwang

Wohlwollend könnte diese Entwicklung noch immer als ethische Selbstverbesserung angesehen werden: Überholte Denkmuster werden über Bord geworfen, strukturell Benachteiligte werden gehört, Vorurteile abgebaut, die unterdrückten, aber woken (wachen) Kollektive helfen, konservative Strukturen zu überwinden. Aber es bleibt leider nicht bei den positiven Effekten dieser Wokeness.

Aber es ist ein bisschen wie bei Hygiene und exzessivem Reinigungsdrang. Wer an den ausreichend sauberen Händen noch immer Schmutz sucht, wird ihn auch finden. Dieser ideologische Waschzwang macht aus einer gesunden Wachheit einen ungesunden Wachzwang.

Für die Meinungsfreiheit ist diese Entwicklung in der Tat ein Rückschritt. Sie führt nämlich auch dazu, dass neben überholten Geisteshaltungen oder unwahren Behauptungen, abweichende Meinungen nicht über Argumente oder Debunking bekämpft werden, sondern über Ausblendung, Abdrängung und Auslöschung – zunächst der Meinungen selbst, später der Akteure und auch der Plattformen, die ihnen geboten werden. 

An dieser Stelle könnte dann der Einwand folgen, dass es sich hier ja gar nicht um das Heraushalten von anderen Meinungen handelt, sondern um das Abstellen von toxischem oder gefährlichem Kommunikationsverhalten, das über die Veröffentlichung von Gedankengut alleine schädliche Wirkung entfaltet und diskurszerstörend wirkt.
Das führt zur unvermeidlichen zur Frage, wer diese Entscheidung, wer im öffentlichen Diskurs auszuschließen ist, letztendlich treffen soll. Aber es ist müßig hier zu spekulieren, weil der Wachzwang gebietet, diese Debatte mit dem gleichen Einwand wie oben gar nicht erst zu führen. 

Ausweitung der Konformzone

Dieses Ausweiten von Zonierungen mit Diskursverbot schadet demokratischer Auseinandersetzung im Kern. Es führt in erster Linie zu einer Verkümmerung der Argumentationsfähigkeit selbst, die ohne realen Wettkampf bestenfalls an den in den geistigen Gymnasien errichteten Strohmännern zum oberflächlich gestählten Muskelaufbau der Selbstdarstellung auftrainiert werden kann. Darüber hinaus ist es aber auch eine Beschneidung des individuellen Rechts, jeden noch so dummen Gedanken in jenen Foren auch äußern zu dürfen, die allen gleichermaßen zur Verfügung stehen.

Wer sein Recht auf freie Meinungsäußerung gebraucht, muss natürlich damit rechnen, dass vielleicht gar niemand zuhören will, oder dass dem Gesagten auch entschieden verbal entgegentreten wird. Es gehört zum Wesen der Meinungsfreiheit, dass der Diskurs auch scharf, beleidigend oder unsachlich geführt wird. Die Grenzen dieser Freiheit sind ohnehin strafrechtlich normiert. Und dass tatsächlich jede und jeder fast alles sagen darf, bedeutet niemals, dass daraus auch irgendeine Form der Handlungsfreiheit abzuleiten wäre.
 
Fairerweise muss man einräumen, dass diese bewusst idealisierte Darstellung einer Freiheit, die jemand angeblich einmal mit seinem Leben verteidigen wollte, heute tatsächlich an praktische Grenzen stößt – oder viel mehr an Niemandslande. Eine Grenze wäre eine eindeutige Linie, die nicht überschritten werden dürfte, aber es gibt etwas das zwischen dem steht, was nicht erlaubt ist und dem, was noch zweifelsfrei geduldet werden kann. Diesen Korridor, in dem es schwer fällt, frei geäußerte Rede überhaupt noch zu ertragen, zu tolerieren. Das betrifft nicht nur relativ klar zuordenbares Mobbing, die viel diskutierten Hasspostings, Bedrohungen, Beleidigungen, und vieles mehr, das mit Gesetzen schwer, aber doch noch greifbar ist, sondern längst auch gesellschaftspolitische Haltungen, die von vielen nicht akzeptiert werden können, und deren Artikulierung auch (vielleicht zu recht, vielleicht auch nicht) nicht mehr geduldet und diskursfrei in diese Niemandslande eingemeindet wird.

Grenzschutz

Die inhaltlichen Grenzen dieser Niemandslande, die nichts anderes als gesellschaftlich frei vereinbarte Schutzgebiete Cis-Meinungsfreiheit sind, werden von “überwachen” Bürgerwehren willkürlich gezogen und patrouilliert. Ein leiser Hinweis auf das mühsam gegen den Widerstand undemokratischer Herrschaftsgefüge erkämpfte Recht auf freie Rede und die daraus folgende Verlagerung des Schlagabtauschs auf die Ebene verbalisierter Sachargumente, führt oft nur zu einer weiteren kuriosen Form der Abwehrargumentation. „Meinung“ wird als „prinzipiell diskurszulässiger“ Bedeutungsinhalt definiert, um im Rahmen der Meinungsfreiheit seine Berechtigung zur Veröffentlichung zu erfahren – eine Tautologie, die dann über einen negativen Ausschluss artikuliert wird.
 
Das sogenannte „Argument“ lautet wie folgt: „Faschismus ist keine Meinung“. (Man könnte hier übrigens genauso gut Homöopathie, Maoismus, Fußball oder Klimawandel einsetzen.) Das ist zunächst einmal richtig. Faschismus ist tatsächlich keine Meinung, sondern am ehesten noch als Herrschaftssystem zu beschreiben, das zwar keiner singulären Ideologie folgt, aber so etwas wie einen ideologischen Nukleus teilt. Ich kenne aber niemanden, der behauptet, aus dem Recht auf freie Meinungsäußerung per se ließe sich Toleranz oder gar Akzeptanz von Faschismus ableiten. Klimawandel ist eine Tatsache. Homöopathie ist Betrug. Faschismus ist ein Verbrechen, aber keine Konsequenz des Rechts auf freie Rede.

Die Grenze der Meinungsfreiheit mit „Faschismus ist keine Meinung“ zu markieren ist ein schlichter Kategorienfehler, der seine Fortsetzung in der Forderung findet, dass man „Menschen keine Plattformen (Anm. der öffentlichen Debatte in Medien) bieten dürfe“.
Tatsächlich werden derzeit Konten von Vertretern rechts-identitärer Bewegungen aus den sozialen Netzwerken entfernt. Und auch, wenn man es inhaltlich begrüßt, sich an der Schadenfreude labt und Twitter feiert, weil es als privates Unternehmen Rechtsextremen die Tür weist, stößt auch die Meinungsfreiheit, wie schon erwähnt, an die Grenze des Rechtsstaats und es wird der Rechtsstaat sein, der die Rechtmäßigkeit dieses Teilnahmeverbots auch zu bewerten hat.
 
Die gesellschaftlichen Ausschlussverfahren und Verdrängungsbestrebungen orientieren sich aber eben nicht an der Rechtsstaatlichkeit, sie beschränken sich auch nicht auf mutmaßliche Neofaschisten, sondern werden kurzerhand auch auf jene erweitert, die im Verdacht stehen, Meinungen zu vertreten, die sich hartnäckig manchmal der Logik, Empirie, Evidenz oder auch nur dem eigenen ideologischen Standpunkt widersetzen: die Klima- und Corona-Leugner, die Impf- und 5G-Gegner und überhaupt alle, die heute Trump wählen, morgen Kanye hören und Rowling oder Kant lesen. Die nächsten in der Reihe jener, die aus dem Diskurs ausgeblendet werden sollen, wären konsequenterweise jene Medien und ihre Mitwirkenden, die sich dem Anpassungsdruck widersetzen und diese Plattformen noch bieten können. Und die Atmosphäre der freiwilligen Selbstzensur erreicht längst auch die Intermediäre, die über die Polarisierung von Meinung Aufmerksamkeit vermarkten und über die dieser Druck auf Medien identitätspolitisch ausgeübt wird.

Route und Rhizom

Der Wunsch persönlich nicht-akzeptable, aber prinzipiell zu duldende Meinung aus dem Diskurs entfernen zu wollen, ist Zeugnis einer dreifaltigen Fehleinschätzung: Die Bedeutung des Rechts auf freie Meinungsäußerung äußert sich vor allem auch im Gebietsschutz jener oben erwähnten Niemandslande, die zwischen den Grenzen dessen liegen, was nicht mehr akzeptiert, aber noch toleriert werden muss. Es sind unschöne Gegenden, die aber auch nur in der Debatte und nicht über die Verschiebung der Grenzen freigehalten werden können. Es sind diskursive Aushandlungsprozesse, die dazu führen, dass dieser Raum nicht missbraucht wird. Das führt zum zweiten Punkt: Niemand kann in einer vernetzten, globalisierten Gesellschaft dauerhaft die Grenzen eines ungetrübten Meinungsraums dicht machen. Es wird immer Infrastrukturen und Plattformen geben, auf die jene ausweichen, die aus einer breiteren Öffentlichkeit entfernt oder verdrängt werden, mit dem Effekt, dass sie dort ungestört von demokratischer Gegenrede und öffentlichem Debunking wachsen können. Und drittens und letztens ist die Entfernung und Hinderung der Unerwünschten am Betreten öffentlicher Bühnen ein von Bevormundung des Publikums geprägter Zugang. Das dumme Volk darf gar nicht erst hören, was jene aussprechen wollen, weil es vermeintlich nicht in der Lage ist, das Gehörte „richtig“ einzuordnen. Und auch jene, die zu dieser Einordnung im öffentlich ausgetragenen Diskurs in der Lage und bereit wären, diesen Bewerb um die Deutungshoheit zu führen, werden in diese Art gering geschätzt. Haben wir Angst, mit Argumenten zu unterliegen? Diese Angst ist unbegründet. Es ist vielmehr eine Verlagerung der Diskursverantwortung in eine Sphäre identitätspolitischer Zugangskontrolle mit dem vorgeblichen Ziel strukturellen Differentialismus zu überwinden. Doch passiert nicht genau das Gegenteil?

Niko Alm ist Publizist und Medienmanager, er war jahrelang Herausgeber von VICE (Österreich, Schweiz) und ist jetzt Geschäftsführer der Rechercheplattform Addendum. 2019 ist sein erstes Buch erschienen: „Ohne Bekenntnis – Wie mit Religion Politik gemacht wird“ (Residenz Verlag) Bild: Nicole Heiling