Dass im Frühjahr 2020 SARS-CoV-19 eine Pandemie auslösen würde, konnte niemand wissen. Aber dass so etwas geschehen könnte, wussten Experten und Regierungen seit Jahren. Um so schwerwiegender sind die jetzt offenbar werdenden Versäumnisse in Sachen Gesundheitssysteme, Vorsorge und Pandemiepläne.

Seuchen und Pandemien hat es in der Menschheitsgeschichte immer wieder gegeben und Maßnahmen, um ihren Ausbruch zu verhindern, auf jeden Fall aber zu managen, gehören zur staatlichen Daseinsvorsorge. Dass die Regierungen in der EU jetzt so tun, als sei das Virus plötzlich über uns gekommen wie eine Strafe Gottes im Mittelalter, ist Vernebelung des Faktums, dass sie alle Hinweise und Warnsignale in den Wind geschlagen haben. Unsere Regierungen, Behörden und Beamten waren gewarnt, durch Szenarien, die in allen Details ausgemalt waren.

Menetekel

2005 beschrieb ein Team aus chinesischen und australischen Forschern, darunter Virologen aus Wuhan, Fledermäuse als natürliche Reservoirs einer ganzen Reihe von SARS-ähnlichen Coronaviren. Es sei äußerst wichtig, schrieben sie, Fledermäuse und ihre Viren und die Interaktionen zwischen Fledermäusen, anderen Tieren und Menschen besser zu verstehen, „vor allem im Hinblick auf die ‚wet markets‘“, um weitere Seuchen wie SARS zu verhindern. Auf diesen in manchen Teilen Chinas üblichen Märkten werden Wildtiere, darunter viele Fledermausarten, lebend angeboten und oft an Ort und Stelle geschlachtet.

Zwei Jahre später beschrieben Spezialisten des State Key Laboratory of Emerging Infectious Diseases in Hongkong nahezu prophetisch in einer ausführlichen Studie eine Coronavirus-Seuche einschließlich des Auslösers in chinesischen Märkten. „Das Vorkommen eines großen Reservoirs an SARS-CoV-ähnlichen Viren in Hufeisennasen-Fledermäusen, zusammen mit der Tradition in Südchina, exotische Säugetiere zu essen, ist eine Zeitbombe“, steht dort geschrieben.

Eine Bundestagsunterrichtung mit dramatischen Warnungen u.a. des Robert Koch- und des Paul-Ehrlich-Instituts aus dem Jahre 2012 beschreibt ebenso präzise nicht nur die heutige Pandemie, sondern stellt eindeutige und klare Forderungen: mehr Beatmungsgeräte, mehr Schutzkleidung, mehr Masken.

Der Bericht lag dem Bundestag ab 2013 vor. Und dann wurde er abgelegt, durch drei Gesundheitsminister und die Regierungen ignoriert und stattdessen beschlossen, die Zahl der Krankenhäuser zu halbieren und die Warnungen der Fachbehörden komplett zu überhören.

Der FDP-Bundestagsabgeordnete und Virologe Andrew Ullmann sagt mit Blick auf die sich ausbreitende Corona-Pandemie und die Risikoanalyse von 2012: „Da hat man schon ein Déjà-vu-Erlebnis.“ Dass damals die Pandemiepläne nicht angepasst worden seien, hält Ullmann für ein Versäumnis. Er kritisiert, dass die Behörden erst jetzt tätig geworden sind.

Im Jahr 2017 kam der nächste Warnschuss. Im Februar hielt Bill Gates auf der Münchner Sicherheitskonferenz einen wegweisenden und prophetischen Vortrag und forderte massive Vorsorge gegen eine Pandemie. Anwesend: Kanzlerin Angela Merkel und die damalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen. „Pandemics are everyone’s problem”, sagte Gates und fügte hinzu: “as leaders we cannot ignore it”. Sie konnten es offensichtlich doch, auch wenn Gates es nicht an Deutlichkeit fehlen ließ: “When the next pandemics strikes, it could be another catastrophe in the annals of the human race……Ultimately, the choice is yours”.

Nächste Warnung: Im Jahr 2018 gab es einen sehr mysteriösen Ausbruch von Corona mit 18 Toten unter 30 Infizierten. Ausgangspunkt wie heute: Fledermäuse und danach eine Übertragung von Mensch zu Mensch.

Und auch wer keine Fachliteratur liest, war gewarnt. Der Wissenschaftsjournalist David Quammen beschrieb die Gefahr eindringlich in seinem 2012 erschienen Bestseller Spillover: Animal Infections and the Next Human Pandemic.

Die Folgen des Fehlverhaltens

Die Frage ist: Was genau geschah nach Wuhan und dem COVID-19-Ausbruch Ende November? Welche Berichte von Geheimdiensten, der WHO, dem RKI und der Regierung in China hatten Kanzleramt, Spahn und EU-Kommission wann und mit welchen Details auf dem Tisch?

Dass andere Länder ähnlich schlecht reagiert haben, ist keine Entschuldigung. Die USA haben derzeit eine Regierung, die wissenschaftliche Erkenntnisse auf nahezu allen Feldern mit Füßen tritt; China ist eine Diktatur, die sich keine Blöße geben will und in der oft nicht sein kann, was nicht sein darf. Hier geht es um Europa und um Deutschland.

Als man im Januar hätte reagieren können, nachdem in Wuhan die Katastrophe ihren Lauf nahm, geschah in Europa erst einmal nichts. Noch Ende Februar/Anfang März erklärte die Regierung, es gebe keinen Grund zur Sorge. Die Wahrheit ist: Es gab mehr als einen Grund zur Sorge, denn das Nichtstun hat nicht nur unsere Gesundheit gefährdet, sondern auch unsere Wirtschaft dramatischen Folgen ausgesetzt und gleich auch noch unsere Bürgerrechte außer Kraft gesetzt. Ob es irgendwann sogar zur Rationierung von Lebensmitteln führen wird, ist noch nicht ausgemacht, erscheint aber durchaus möglich.

Nun ist das Land schockiert – so sehr, dass die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung sich dem Pandemie-Regime unterwirft und die Regierenden sich als Retter aufspielen. Dabei haben sie uns in diese Situation gebracht – das gilt für die EU-Chefin bis hin zu Spahn. Zugleich haben offenbar weite Teile der politischen Opposition und des Journalismus eine Art Burgfrieden ausgerufen. Statt nun also die Fakten auf den Tisch legen und erklären zu müssen, warum man so tief geschlafen hat, kann die Regierung einfach weitermachen.

Innovationsfeindlichkeit

Eines aber darf auch nicht vergessen werden: Die, die jetzt nach einem Impfstoff schreien, haben über 40 Jahre hinweg die Biotechnologieforschung verzögert und behindert: absurde Vorschriften, schockierende bürokratische Hürden, Lehrpläne und Schulbücher, in denen Gentechnik allenfalls als Hochrisikotechnologie vorkommt, steuerliche Vorschriften, die Forschern und Investoren Gründungen und Finanzierungen erschweren und das Ersticken jeder Form von Aktienkultur haben verhindert, dass in Deutschland – einst Apotheke der Welt – ein neues Amgen oder Gilead entstehen konnte. Eine Handvoll privater Investoren hat es möglich gemacht, dass jetzt zwei deutsche Firmen am Rennen um den Impfstoff teilnehmen können. Doch auch deren Finanzquellen sind nicht unerschöpflich: Eines der beiden Unternehmen musste bereits an die Börse – und zwar in den USA, weil nur dort genügend Kapital zur Verfügung steht. Für Biotechnologieunternehmen sind die Börsenplätze der EU tot. Allein dieser Umstand müsste europäischen Politikern die Schamröte ins Gesicht treiben.

Europas schlechtes Innovationsklima, ablesbar an nahezu sämtlichen Indikatoren, ist ebenfalls seit Jahrzehnten kein Geheimnis.

Konsequenzen?

Wie wäre es also, wenn man jetzt nicht nur die Berichte und Warnungen, die das Kanzleramt erhalten hat, veröffentlichen würden? Wenn auch die anderen Felder unter die Lupe genommen würden, auf denen unsere Politiker uns sehenden Auges in die nächsten Katastrophen marschieren?

Jeder weiß, dass der Bedarf an Nahrungsmitteln bis 2050 um bis zu 70 Prozent steigen wird und dass wir mehr erzeugen müssen, um Hungerkatastrophen, wie sie noch im 20. Jahrhundert üblich waren, zu verhindern. Statt aber die Entwicklung neuer Sorten voranzutreiben, die mit weniger Input von Dünger und Pflanzenschutzmitteln auf weniger Fläche mehr erzeugen, so dass wir Hungersnöte vermeiden, aber zugleich Insektenparadiese wie Moore, Wälder und Ödflächen renaturieren könnten, verbietet Europa grüne Gentechnik und setzt auf Biolandwirtschaft mit Methoden aus dem 19. Jahrhundert: Bis zu 40 Prozent weniger Ernte und damit eine wachsende Abhängigkeit von Lebensmittelimporten werden als Fortschritt verkauft. Das wahre Problem sei die Lebensmittelverschwendung.

Auch hier führt Europas Politik ins Desaster. Die seit Jahrzehnten unverändert geltende EU-Gentechnikrichtlinie, so urteilte jüngst das höchste Gericht Frankreichs, betrifft nicht nur herkömmliche Gentechnik und CRISPR-Cas, sondern auch die seit den 1950er Jahren angewandte Mutationszüchtung: Jetzt steht nicht nur der Anbau von Braugerste, zahlreichen Hafer-, Weizen- und Roggensorten sowie beliebter Obst- und Gemüsesorten auf dem Spiel. Einstweilen verboten werden muss wohl auch deren Verkauf, einschließlich der aus diesen Sorten gewonnenen Produkte wie Bier, Mehl und Fruchtsäfte. Noch ist nur Frankreich betroffen, aber die NGOs, die das Urteil erstritten haben, sind EU-weit aktiv.

Beim Klimaschutz sieht es nicht anders aus: Die billionenteure Energiewende hat uns der CO2-Reduktion nicht einen Schritt näher gebracht, Experten warnen seit Jahren vor der Gefahr des Blackouts, dennoch schalten wir weiter zuverlässig arbeitende Kernkraftwerke ab und nehmen Kohlekraftwerke vom Netz, deren CO2-Einsparungstechniken Exportschlager werden könnten, weil Länder wie China und Indien noch immer auf Kohleverstromung setzen (müssen).

Möglich geworden ist das alles nur, weil Europas Regierungen immer seltener wissenschaftliche Fakten für ihre Entscheidungen heranziehen, sondern sich der Agenda und den Forderungen von NGOs unterwerfen, die nicht mit Fakten argumentieren, sondern mit modernsten sozialwissenschaftlichen Methoden Desinformationskampagnen kreieren, um Politiker mit Emotionen unter Druck setzen zu können. So sind unsere Regierungen allmählich in Scheinwelten abgedriftet, in denen Zahlen und Fakten immer weniger, hochmoralischer Gestus und das Streben nach Luftschlössern um so mehr gelten. Jetzt zeigt sich, wie dieser politische Schlafwandlerkurs unseren Wohlstand torpediert.

Gefahrenausschaltung statt Risikomanagement

Schuld ist aber auch die europäische Denkhaltung, in der Krisenmanagement als letztes und im Grunde abzulehnendes Mittel verstanden wird. Seit Jahrzehnten setzt Europa in praktisch allen Lebensbereichen auf das Vorsorgeprinzip: Risiken sollen durch Verbote, nicht durch Management bewältigt werden. Wird in Japan ein Kernkraftwerk durch einen Tsunami zerstört, gibt die Kanzlerin keine Risikoanalyse in Auftrag, sondern verfügt die Stilllegung aller deutschen Kernkraftwerke, ohne Rücksicht auf die Kosten. Weil NGOs Gentechnik als Risiko betrachten, verbietet Europa den Anbau solcher Pflanzen – ohne Rücksicht auf nachteilige Folgen für Umwelt und Verbraucher (keine Reduktion von Insektizideinsatz und Schimmelgiftbelastung) oder Wettbewerbsnachteile für die europäische Landwirtschaft. Ähnlich bei Glyphosat: Weil eine (!) von Dutzenden internationalen Forschungseinrichtungen und Behörden dem Stoff in einer unter dubiosen Umständen zustandegekommenen Studie das Potenzial attestiert hat, „wahrscheinlich krebserregend“ zu sein, droht jetzt das Totalverbot. Dass die Ersatzmethoden (pflügen, flämmen, andere Herbizide) ökologisch höchst problematisch sind, wird dabei komplett ausgeblendet. Das Bundesinstitut für Risikoforschung, das zu anderen Schlüssen kommt als die Phalanx aus Politikern von weit links bis in Teile der CDU, steht seither unter politischem und medialem Dauerfeuer.

Risikomanagement – nein danke!

So auch bei Corona: Statt sich bei Staaten wie Taiwan oder Südkorea Risikomanagement abzuschauen, wird das ganze Land stillgelegt. Die beiden asiatischen Demokratien setzten von Anfang an auf flächendeckende Tests mit Drive-in und Telefonzellen-Teststationen, Fiebermessungen bei jeder Gelegenheit, auf Desinfektionsmittel und Handwaschgelegenheiten an jeder Straßenecke, strenge Kontrolle von Reisenden aus dem Ausland, Tragen von Mundschutz, konsequente Isolation von Infizierten etc. Deutschland dagegen verordnet Ladenschließungen, die kaum einer Ratio folgen (warum dürfen Weinhandlungen öffnen, Buchhandlungen jedoch nicht?) und verhängt unsinnige Grenzschließungen. Hamburger Spaziergänger werden am Elbstrand von der Polizei am Überschreiten der Landesgrenze zu Schleswig-Holstein gehindert und Berlin ist von Hamburg aus nur noch im „Transit“ zu erreichen wie zu Honeckers Zeiten („Dabei ist der Aufenthalt in Mecklenburg-Vorpommern so kurz wie möglich zu gestalten“), während Flugreisende aus Asien, Italien und anderen Corona-Hotspots wochenlang ungehindert und völlig unkontrolliert von Bord gehen und im Land verschwinden durften.

Europa ist es nicht mehr gewohnt, mit Gefahren umzugehen, indem es Risiken gegeneinander abwägt. Stattdessen werden Gefahrenquellen ausgeschaltet, ohne Rücksicht auf Verluste. Würde die elektrische Stromversorgung heute erfunden, sie würde in Europa nicht eingeführt, weil man an einem Stromschlag sterben kann.

So ist auch die Herangehensweise bei Corona vor allem Gefahrenabwehr. Wir brauchen aber Risikomanagement – und eine Öffentlichkeit, einschließlich Opposition und Medien, die endlich die richtigen Fragen stellt.

Ein Beitrag von Ludger Weß und Erwin Jurtschitsch. 

Erwin Jurtschitsch war Mitgründer und Redakteur der taz und bis 1999 Journalist, zuletzt Chefredakteur von Stern Online und zugleich Ressortleiter Wissenschaft, Medizin, Computer des Magazins Der Stern. Heute ist er Chef der Unternehmensberatung Consigliere.