Wir stecken fest, aber nicht nur wegen der Ausgangsbeschränkung infolge der Corona-Pandemie. Trotz des Zwangs zur intensiven Hausarbeit gäbe es in den verbleibenden Momenten der Besinnung die Chance, sich ganz neue Gedanken zu machen. Hier ein Vorschlag, wie das ginge.

Man könnte glücklich sein, wenn man Zeit hätte. Aber jener Schauspieler, der nach der Schließung seines Theaters frohlockte, jetzt (!) habe er endlich Zeit, Thomas Manns  Zauberberg zu lesen, hat uns alle auf die falsche Fährte gelockt. Tatsächlich sind die allermeisten, die durch die Ausgangsbeschränkungen und die Schul- und Kitaschließungen weitgehend ans Heim gebunden sind, von morgens bis abends mit Bespaßung, Beschulung, Pflege, Homeoffice, Kochen und jetzt auch noch mit Frühjahrsputz beschäftigt. Unser reduziertes Dasein durch den vermaledeiten C-Virus ist durch und durch physisch, und in diesem Sinne sehr einnehmend und anstrengend. Ab und zu findet man zwischen diesen Verpflichtungen – vielleicht gerade erschöpft von zwei insektenaugenartigen Videokonferenzen, deren fahrige Langatmigkeit die Nerven noch mehr strapaziert als das analoge Pendant – einen schlaffen Moment vor dem Fernseher, wo ein Tierarzt die täglichen Opferzahlen durchgibt, gefolgt von der Podcast-Kanzlerin, die wie stets mehr Fragen offen lässt, als man als guter Citoyen in seinem politischen Leben haben muss. 

Hilfe für den Etui-Menschen

Und jeder Tag macht uns klar, dass wir trotz Mühen, Schufterei und quälender Gedanken in unserer streng verordneten Isolation systemirrelevant sind: Die echten Erwachsenen sind da draußen und dürfen den wichtigen Tätigkeiten nachgehen; wir großen Kinder hingegen sollen so tun, als wäre dauernd Sonntag und man dürfe den ganzen Tag im Schlafanzug rumlaufen. Und ja, die Erwachsenen wissen, dass wir eigentlich jetzt ganz viel lieber auf der Stelle raus zu den Freunden wollen, aber das gehe jetzt nicht, und wir mögen uns beherrschen. So entsteht die paradoxe, aber realpolitisch-demokratische Situation, dass der Souverän von der auf Zeit gewählten Regierung angeherrscht wird, er solle sich in Selbstbeherrschung üben.

So verwandeln wir uns – wenigstens für ein paar Wochen – in Walter Benjamins „Etui-Menschen“, der in seinem mit Samt ausgeschlagenen Gehäuse hockt. Denn tatsächlich sind die meisten in ihren eigenen vier Wänden gut aufgestellt mit all den Lebensmittelvorräten, selbst gebügelten Hemden und digitalen Diensten. 

Und doch: Irgendwann wird man wieder auf das größte aller Hindernisse zu einem bekömmlichen, selbstbeherrschten Dasein zurückgeworfen: sich selbst. Unruhe und Langeweile machen sich breit in unserem Samt-Etui, weil alle Sehnsüchte, Träume, Begierden und Bedürfnisse größer und stärker sind, als wir es trotz aller Verpflichtungen, Befriedigungen und Ablenkungen hienieden je sein könnten. Deshalb brauchen wir wirklich Hilfe. 

Ein Fest der Begeisterung

Ich hatte diesbezüglich ein wenig Glück, das ich hier mit Ihnen teilen will. Beim Abstauben der Regale fiel mir ein Buch auf, das ich schon lange nicht mehr in Händen gehabt hatte. Es ist 1795 erschienen, und geschrieben hat es der Lebemann und Offizier Xavier de Maistre. Seine  Reise um mein Zimmer ist weitgehend vergessen und uns dabei doch sehr nah. Hintergrund für diesen „Reisebericht“ ist ein 42-tägiger Hausarrest des Autors. Diese sechs Wochen kommen in etwa dem gleich, was wir wohl als Ausgangsbeschränkung gewärtigen dürfen. Xavier de Maistre hat als Mitbewohner nur seinen Hund und seinen Diener, und beiden kommt größere Bedeutung zu. In gewisser Weise ist die  Reise um mein Zimmer ein Lehrstück der Achtsamkeit. Denn der Autor pumpt mit Verve und Selbstbegeisterung seine „Expeditionen“ beispielsweise entlang der Porträtbilder und Stiche, die seine Wände zieren, mit aufmerksamen Beobachtungen und Gedanken auf, dass es eine – wenn auch manchmal eitle – Freude ist. Überall macht er Entdeckungen, die ihn zum Räsonnieren verleiten zwischen erbaulichem Kalenderspruch und tiefster moralischer Erkenntnis. Seine hohe Kunst der Achtsamkeit fußt auf Offenheit, Neugier und einer hemmungslosen Feier des wiederentdeckten Bekannten und Alltäglichen. Fast alles verleitet ihn zu einer Eloge, und man kann nur Staunen, was alles der Begeisterung wert sein kann, wenn man sich erst einmal zur Begeisterung entschlossen hat. Man kann davon halten was man will – aber das Leben wird definitiv einfacher, weil erträglicher. Xavier de Maistre unterscheidet sich damit gewaltig von den anderen großen Immobilen der Weltliteratur wie Hans Castorp und Ilja Oblomow, die Ennui oder Faulheit plagen. Er hat sich entschlossen, sich nicht plagen zu lassen – und so zieht er einfach aus seiner Situation Gewinn. Und schreibt ein Buch. Und stellt fest, dass er quasi im Luxus lebt mit seinen sechs Stühlen, zwei Tischen, einem Schreibtisch und einem bequemen Bett.

Die schönste Episode ist die, als sein Diener und sein Hund ihm Menschlichkeit lehren. Aber weil das alles auf engstem Raum großes Welttheater ist bzw. sein soll, überkommen ihn auch bald darauf Gedanken voller Blut- und Zerstörungslust. Doch auch das legt sich wieder.

Nun, wir haben wahrscheinlich noch rund drei Wochen, einen anderen Blick auf unser Dasein zu gewinnen. Ich weiß nicht, ob ich es kann. Aber Xavier de Maistre hat mich gelehrt, dass es möglich ist.