Die deutsche Energiewende ist technologisch auf Erneuerbare Energien festgelegt. Dabei geraten Versorgungssicherheit, Klimasicherheit und Erschwinglichkeit in einen Zielkonflikt. Energieintensive Industrien stehen auf dem Spiel. Eine neue Studie von Quantified Carbon im Auftrag der NGO WePlanet modelliert nun erstmals einen klimafreundlichen Pfad für die deutsche Energiewirtschaft, bei dem auch die Kernenergienutzung zulässig ist. Das Ergebnis ist überraschend eindeutig: Demnach wäre ein komplementäres erneuerbar-nukleares System mit einem Kernenergie-Anteil von rund 40 % der Energiewende überlegen. Hier wird die Studie vorgestellt und in die heutige energiepolitische Situation der Bundesrepublik eingebettet. Wenn die zukünftige Bundesregierung eine Energiereform einleiten möchte, wäre dieser komplementäre Ansatz am besten geeignet. 

Zumindest in einem Punkt sind sich alle Akteure des kurzen Wahlkampfs 2025 einig: die Energie- und Industriepolitik wird ein zentrales Thema dieser Bundestagswahl sein. Trotz globaler ökonomischer Erholung befindet sich die deutsche Wirtschaft in einer Rezession, allenfalls Stagnation. Dafür sind neben Fachkräftemangel, Abgabenlast und Bürokratiegestrüpp vor allem die Energiekosten und die abnehmende Energiesicherheit verantwortlich. 

Lageanalyse: Unsere Stromversorgung 2025

Deutschlands Energiewirtschaft wird durch den Gesetzgeber dazu verpflichtet, bis zum Jahr 2045 einen Netto-Null-Treibhausgasausstoß zu erreichen. Dieses Ziel soll mit „Sektorenkopplung“ erreicht werden: Wärme, Mobilität, Industrie und Dienstleistungen sollen auf strombasierte Technologien mit sehr geringen CO2-Emissionen umgestellt werden. Daher steht im Zentrum jeder Energiestrategie die Stromversorgung. Doch deutsche Haushalte und Industrie zahlen im europäischen Vergleich sehr hohe Strompreise, Tendenz steigend. Der Treiber ist der Ausbau der volatilen Erneuerbaren Energien. Als Anlagen sind Solarkraftwerke und Windturbinen günstig zu haben – nicht aber als System; das wird in der Debatte sehr oft verwechselt. Man könnte von einer one installation fallacy sprechen, d.h. einem Fehlschluss von den Charakteristika der Einzelanlage auf die Systemcharakteristik. 

Die Einzelanlagen in unseren Windparks und auf unseren Dächern sind simpel, der Zugang zu ihrer Errichtung niedrigschwellig – das ist ihr großer Vorteil bei der Ersetzung fossiler Energieträger. Doch leider speisen Sonne und Wind ihren Strom tageszeit-, jahreszeit- und wetterabhängig variabel ein und produzieren daher häufig nicht bedarfsgerecht. Auch liefern sie keine gesicherte Leistung

Daher muss ein komplexes technisches Ökosystem um sie herumgebaut werden, damit sie in die Lage versetzt werden, sicher verfügbaren Strom zu produzieren. Diese Mehrfach-Infrastruktur ist sehr teuer und langwierig im Bau: Nicht nur müssen für Ausfallzeiten der EE Backup und/oder Speicher bereitgestellt werden, sondern Windkraft und Photovoltaik – insbesondere Offshore-Windkraft – erzeugen auch hohe Netzausbau- und Digitalisierungskosten. Die Windkraft-Produktionsschwerpunkte befinden sich weit weg von den industriellen Ballungsräumen, was den Bau langer Höchstspannungs-Übertragungsleitungen erforderlich macht. Photovoltaik und Windkraft speisen ins Mittel- und Niederspannungs-Verteilnetz ein. Letzteres ist aber bereits durch die neuen Verbrauchsprofile der Wärmepumpen und E-Autos überlastet. In Zukunft müssten die Verteilnetze, die heute nur auf Strombezug ausgelegt sind, nicht nur höhere Ströme an die Kunden liefern, sondern auch hohe Ströme in das Verbundnetz zurückspeisen. Sie schieben heute einen riesigen Ausbaustau vor sich her. Die Volatilität der EE-Produktion erfordert neue Formen digitaler Lastverteilung und Bedarfssteuerung. 

All diese Belastungen landen auf der deutschen Stromrechnung. Unsere Stromversorgung wird wegen des Atomausstiegs und des sukzessiven Abschieds von der Kohleverstromung immer abhängiger von volatiler Leistung aus Sonne und Wind, die 2024 rund 47 % der öffentlichen Stromproduktion und 44,6% des deutschen Stromverbrauchs ausmachten. Für die inländische Absicherung der Erneuerbaren während der Dunkelflauten sorgen aktuell hauptsächlich Kohle- und Gaskraftwerke (2024: 33,4% des Verbrauchs). Sie werden durch den steigenden CO2-Preis immer teurer. Gaskraftwerke wurden wegen ihrer ohnehin hohen Brennstoffkosten früher vor allem im Spitzenlastbereich eingesetzt; nach Willen des grünen Wirtschaftsministers Robert Habeck und seiner Kraftwerksstrategie werden sie in Zukunft aber auch Kohlekraftwerke ersetzen müssen. Auch das ist sehr teuer. Erneuerbare gesicherte Leistung kommt in Deutschland aus Wasserkraft und Biomasse (2024 5% bzw. 8,9% der öffentlichen Stromerzeugung) die aufgrund ökologischer Bedenken nicht weiter ausbaubar sind.

In der Summe aller dieser Effekte ist unser aktueller Strommix nicht nur verhältnismäßig teuer, sondern auch relativ dreckig: Obwohl der Treibhausgas-Ausstoß der deutschen Elektrizitätswirtschaft langsam sinkt, ist er im europäischen Vergleich hoch. 2024 betrug der CO2-Ausstoß pro Kilowattstunde in Deutschland 333 Gramm, in Frankreich 33 Gramm. Auch ist unsere Stromversorgung weniger sicher als früher: Laut Bundesnetzagentur kann Deutschland seine Netzreserve nicht mehr aus Kapazitäten im eigenen Land bestreiten. Die steigende Anzahl an Redispatch-Eingriffen für die Sicherheit macht die Stromversorgung ebenfalls teurer: alleine im ersten Halbjahr 2024 betrugen die Kosten des Netzengpass-Managements rund 1,1 Milliarden Euro. Die häufiger als früher auftretenden Frequenzschwankungen sind überdies ein Risikofaktor für die Netzstabilität im europäischen Verbundnetz. Deutschland ist vom Stromexporteur zum Stromimporteur geworden: Wenn Sonne und Windkraftwerke nicht genügend Strom produzieren, importieren wir Strom aus Wasser- und Kernkraftwerken in Skandinavien, Frankreich und der Schweiz. Hydro- und Atomstrom liefern gesicherte Leistung und planbare Erzeugung – und vor allem ist dieser Strom häufig billiger zu haben als unserer. 

Der häufige Wechsel von Über- und Unterproduktion der Erneuerbaren induziert eine hohe Schwankungsbreite der Strompreise. Bei Überproduktion sinkt der Strompreis stark, phasenweise bis in den negativen Bereich. Liegt der Marktpreis häufig unter der garantierten Einspeisevergütung, treibt dies die steuerfinanzierten EEG-Umlagekosten nach oben. Allein 2024 mussten rund 19 Milliarden Euro EEG-Umlage an die Betreiber von Wind- und Sonnenkraftwerken bezahlt werden, in den nächsten Jahren werden ähnliche Summen erwartet. In Knappheitsphasen ist das Risiko von Preisexplosionen und Marktmanipulationen, wie zuletzt im November 2024, als eine Dunkelflaute den Stromhandelspreis auf über 900 Euro pro Megawattstunde hochschnellen ließ, was sich nicht ausschließlich mit der Knappheit von Reservekraftwerken erklären lässt. Auch das ist ein zusätzlicher Unsicherheitsfaktor und Kostentreiber, der Vertrauen zerstört und Investitionen in unsere Industrie hemmt.

Das Atom-Tabu kommt auf den Tisch

Hohe Kosten und sinkende Verlässlichkeit sind also Gift für unsere Wirtschaft. Und nicht nur Industrielle, sondern auch Energie-Fachleute und Bürger stellen vor diesem Hintergrund die bis vor kurzem tabuisierte Frage: Wenn solche Entwicklungen absehbar waren – und das waren sie – warum hat Deutschland nie seinen Atomausstieg überdacht? Strom aus Kernenergie hat eine ähnliche CO2-Bilanz wie Windenergie – und es handelt sich um eine hochzuverlässige und planbare Stromerzeugung. Der kumulative Lastfaktor der letzten sechs deutschen Kernkraftwerke für ihre gesamte Betriebsdauer liegt zwischen 82 und 92 % (zum Vergleich: europäischer Durchschnitt Windkraft an Land 24 %, auf See 34 %, Photovoltaik in Deutschland 11 %). Kernkraftwerke fallen nur sehr selten aus, und ihre Anlagenstillstände zur Revision sind langfristig planbar. Die deutschen Kernkraftwerke produzierten ihren Strom zudem zu sehr günstigen Kosten, da es sich um abgeschriebene Anlagen im Bestand handelte. Neubauten von Kernkraftwerken haben wesentlich höhere Stromgestehungskosten als die Anlagen im Bestand.

2011, nach Fukushima, wurde unser Land von einer Welle der Atomhysterie überrollt, der sich auch die eigentlich atomfreundliche CDU-Kanzlerin Merkel beugte. Doch wie sich bald herausstellte, war der Unfallpfad von Fukushima auf die deutschen Kernkraftwerke überhaupt nicht übertragbar. Doch wurde der Atomausstiegs-Konsens trotz wachsender Zweifel bis zur großen Kriegs-Energiekrise 2022/23 nie in Frage gestellt. Als dann nach der russischen Totalinvasion in der Ukraine im Februar 2022, die auch unsere Gasversorgung kappte, die Atomdiskussion in Fahrt kam, versprach Wirtschaftsminister Habeck eine ergebnisoffene Prüfung dieser Frage. Doch in den darauffolgenden Monaten setzten grüne Politiker und Ministerialbeamte alles daran, die Debatte über eine Laufzeitverlängerung zu ersticken und schreckten dabei auch vor Falschaussagen nicht zurück. Dies wiederum wurde 2024 zum Gegenstand eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses

Verpasste Chancen der Ampel

Auch wenn Anhänger von Grünen und SPD gerne behaupten, die Ampel habe nur implementiert, was CDU und FDP 2011 eingefädelt hätten, bleibt festzuhalten: Der Atomausstieg war ein über zwanzig Jahre währender Prozess, der unter der rot-grünen Regierung Schröder-Fischer eingeleitet wurde und in dessen Verlauf Deutschland ausgerechnet jenen Teil seiner Stromerzeugung verlor, der bereits vor dem Hochlauf der Erneuerbaren klimafreundlich war. Im Jahr 2000 betrug der Atomstrom-Anteil in Deutschland noch rund ein Drittel der Jahresstromerzeugung. Doch auch die Ampel-Regierung trägt Mitverantwortung: In ihrer Amtszeit wurden sechs Kernkraftwerke abgeschaltet (Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen C am 31.12. 2021; Emsland, Neckarwestheim 2 und Isar 2 am 15.04. 2023), deren Rettung in der Hand Habecks und Scholz‘ gelegen hätte. Diese Bestandsanlagen mit 8,4 Gigawatt Leistung hätten rund 10 % der deutschen Stromversorgung stemmen können und klimafreundlichen Industriestrom zu für die Industrie sehr auskömmlichen Kosten von rund 6 Cent pro Kilowattstunde liefern können.

Planbar verfügbarer, klimafreundlicher und vor allem günstiger Strom ist Mangelware für unsere energieintensive Industrie, die derzeit einen Hilferuf nach dem anderen ausstößt. Zuletzt war es die niedersächsische Georgs-Marien-Hütte (GMH), ein Elektrostahlwerk, dass sich der klimafreundlichen Stahlproduktion verschrieben hat. Ein Vertrag mit den niedersächsischen AKW Emsland und Grohnde hätte der GMH helfen können – aber diese Anlagen werden mit einem Maß an teutonischer Beharrlichkeit, Gehorsamkeit und Perfektion zurückgebaut, die man sich für den Aufbau, nicht für die Zerstörung von Infrastruktur wünschen würde. 

Deutsche Energiestudien: Nie ergebnisoffen und immer ohne Plan B 

Inzwischen gibt es „kontrafaktische“ Studien nichtdeutscher Autoren, die besagen, dass sich eine teilweise oder völlige Absage an den Atomausstieg insgesamt positiv auf Deutschlands CO2-Emissionen und Wohlstand ausgewirkt hätte. Doch diese Studien befassen sich zu großen Teilen mit irreversiblen Prozessen der Vergangenheit; bis auf die wenigen genannten Anlagen, die man noch mit einem Refurbishment retten könnte, lassen sich die deutschen AKW nicht mehr zurückholen. 

Daher ist es jetzt an der Zeit, nach vorne zu blicken. Wir können konstatieren, dass die derzeitige Energie(wende)politik grünen Stils angesichts der geänderten Randbedingungen nicht mehr krisenfest und auch nicht zukunftsfähig ist – jedenfalls dann, wenn wir die Marke NetZero als Industrieland erreichen wollen und nicht als Industrieruine. Da am 23. Februar 2025 Bundestagswahlen anstehen, die von vielen als Richtungsentscheidung wahrgenommen werden, schlägt nun die Stunde, über Alternativen zum Weiter so nachzudenken. Wir brauchen also einen Plan B für die Energie-Transformation in Deutschland statt der herkömmlichen Energiewende. 

In einem evidenzbasierten Suchprozess nach einem solchen Plan B sollte man zuerst die Frage stellen, ob ein solcher Plan für Deutschland vielleicht schon einmal durch die Forschung diskutiert, aber verworfen wurde, weil er sich als mängelbehaftet erwies. Das wäre immerhin ein Beleg, dass die deutsche Energiewende die beste Variante mehrerer in einem Vergleich geprüfter Szenarien ist. Doch leider sucht man eine solche Diskussion in deutschen Energiewendestudien vergebens. Diese haben sich von vornherein dem Ziel 100% Erneuerbare Energien verschrieben und die staatlichen Vorgaben zum EE-Ausbau als Mindestwert gesetzt – also Werte, sie ja eigentlich zuerst einmal als Optimum hätten ermitteln müssen. Dieses Ziel wird von der Politik vorgegeben, es spiegelt aber auch eigene Überzeugungen vieler Wissenschaftler.

Keine einzige der wichtigsten deutschen Großstudien, ob die des genannten Fraunhofer ISE , die Ariadne-Studie, die von mehreren Organisationen gemeinsam erforschten „Langfristszenarien“, die ESYS-Studien der deutschen Akademien der Wissenschaften oder die KSG2045-Studie des Forschungszentrum Jülich, arbeitete mit einem ergebnisoffenen Ansatz. Statt technologieblind die Frage zu stellen, welche Kombination von Technologien das günstigste, versorgungssicherste und klimafreundlichste Energiesystem für Deutschland ergebe und daraus sodann Empfehlungen für die politischen Entscheider abzuleiten, macht man es genau andersherum: Einer schon entschiedenen politischen Vorgabe folgend, versucht man, die Machbarkeit eines zu 100 % auf Erneuerbaren basierenden Systems aufzuzeigen und die Instrumente zu identifizieren, die man benötigt, um dieses Ziel bis 2045 zu erreichen, koste es was es wolle. Die ökonomische Machbarkeit oder technologische Risiken spielen in allen Studien eine untergeordnete Rolle.

Der Energieforscher Matthias Huber kommentierte diesen Ansatz wie folgt: „Das würde ich nicht den Studienteams anlasten. Wenn der Auftrag heißt, es gilt der AKW-Ausstiegsplan, dann ist das eine Randbedingung, die der Auftraggeber setzt. Wer zahlt, schafft an.“ Und wer zahlt, sind vor allem staatliche Drittmittelgeber, die Ausbauziele von Erneuerbaren wie in einer Planwirtschaft festlegen und die Zielvorgabe 100% Erneuerbare bestellen. Folglich ließ keine der Energiestudien die Frage zu, ob nicht auch eine Rückkehr zur Kernenergie, die ja dank ihres geringen CO2-Ausstoßes auch als Klimaschutztechnologie angesehen werden kann, Teil einer NetZero-Strategie für Deutschland sein könne. In Deutschland waren nicht die politischen Entscheidungen forschungsbasiert, sondern die Forschung basierte auf politischen Entscheidungen. Dieser Weg ist nicht empfehlenswert, wenn man gute, evidenzbasierte Entscheidungen will.

Technologie-pluralistische Energieforschung

Außerhalb Deutschlands sind Energiesystemstudien nicht auf Erneuerbare Energien als einzige zulässige Technologie festgelegt, sondern auf die Optimierung eines Systems unter Emissions- und Kostengesichtspunkten. Internationale Studien untersuchen daher auch Mischsysteme aus Kernenergie und Erneuerbaren Energien, d.h. aus allen treibhausgasarmen Technologien. Ihre Schlussfolgerung ist, dass die CO2-Vermeidungskosten und auch die Gesamtkosten eines solchen komplementären Systems geringer seien, je höher der Atomstromanteil sei, insbesondere in tief dekarbonisierten Systemen.

Erst, wenn man auch für Deutschland solche Szenarien untersucht hat, kann man sie auch als untauglich aussortieren. Bis heute wurde in Deutschland die Untauglichkeit eines technologie-inklusiven Pfades mit Kernenergie aber nie auf seriösem wissenschaftlichen Wege begründet, sondern mit system-externen Argumenten: dies sei nun mal beschlossene Sache; die Menschen und die AKW-Betreiber wollten es nicht; die Politiker trauten sich nicht; oder, wie in einen Papier der Scientists for Future, das Ziel sei ja schließlich 100% EE, was bedeute, dass der Aufbau der Kernenergie Kapital vom Aufbau der EE abziehe und schon von daher abzulehnen sei. Diese Selbstzweck- oder Nullsummenspiel-Argumentation haben leider auch die nicht-aktivistischen deutschen Energiestudien implizit übernommen. 

Eine Deutschland-Studie bricht das Atomtabu 

Inzwischen haben sich die externen Begründungen modifiziert oder erledigt. Die Krise von 2022 hat gezeigt, wie schnell Gesetze, die vorher in Stein gemeißelt schienen, geändert werden können; auch das Atomgesetz übrigens, das ja für den zehnwöchigen zusätzlichen Streckbetrieb dreier KKW geändert wurde. Die Umfragedaten zeigen, dass die Deutschen der Kernenergie viel aufgeschlossener gegenüberstehen als früher. Auch die Betreiber betonten im November 2024 bei ihrer Befragung im Bundestag nicht ihre Ablehnung der Kernenergie, sondern ihre Erfahrung, dass man ohne eine von der Politik garantierte langfristige Planungssicherheit keine Kernkraftwerke betreiben könne. Auch etliche Politiker aus CDU/CSU und FDP sprechen sich wieder für Kernenergie oder zumindest für eine Debatte über sie aus; und die Nullsummenspieler sind in der Defensive, da die Performance der deutschen Energiewende zu wünschen übriglässt. 

Daher ist es eine gute Botschaft für das Jahr 2025 und für die Versorgung der Energiedebatte mit besseren Argumenten, dass nun eine neue Studie vorgelegt wird, die zum ersten Mal für Deutschland ein komplementäres System aus Erneuerbaren und Kernenergie modelliert und im Vergleich zu einem auf 100% EE beruhenden System untersucht. Diese Studie mit dem Titel The Role of Nuclear in Germany’s Decarbonisation wurde von der ökomodernistischen Umwelt-NGO WePlanet in Auftrag gegeben, deren deutschem Zweig ich angehöre. Auftragnehmerin ist das Beratungsunternehmen Quantified Carbon (QC), das sich auf die Energiesystem- und Strommarktmodellierung spezialisiert hat und unter anderem nationale Studien für Polen und Schweden angefertigt hat. 

Das Vorgehen der WePlanet-Studie

Auch die WePlanet-Studie setzt als Zielpunkt ihrer Modellierungen das Jahr 2045, in dem nach dem deutschen Klimaschutzgesetz eine 100%ige Reduktion des Treibhausgasausstoßes gegenüber 1990 erreicht sein soll. Doch sie unterscheidet sich von den herkömmlichen deutschen Energiewendestudien in zwei wesentlichen Punkten: in ihrem Technologiepluralismus und in ihrem Realismus. Anders als die deutschen Studien legt sie als Randbedingung nicht die politisch gesetzten Ausbauziele bestimmter Technologien fest, sondern sie sucht nach kostenoptimierten Szenarien, die gleichzeitig ein Maximum an Emissionsreduktion zulassen, um daraus Empfehlungen für politisches Handeln abzuleiten. Aus diesem Grund sind in der Studie alle CO2-armenTechnologien (also auch die Kernenergie) sowie – analog zur deutschen Energiewende – die Erdgasverstromung als Übergangslösung zugelassen. 

Die Methodik der WePlanet-Studie ist vergleichend und zweistufig. Zunächst werden zwei kostenoptimierte Szenarien gebildet: ein technologie-inklusives Szenario, in dem alle CO2-armen Technologien, d.h. EE, Wasserstoffsysteme und auch Kernenergie zugelassen sind, außerdem Erdgas als Übergangstechnologie. Dieses Szenario heißt NUCLEAR. In einem zweiten Szenario ist die Kernenergie nicht zugelassen, die Dekarbonisierung muss in ihm also durch Erneuerbare Energien alleine bewerkstelligt werden, weswegen es VRE100 genannt wird, von englisch variable renewable energy. Auch dieses Szenario lässt die Nutzung von Erdgas zu und ähnelt Robert Habecks EE-Ausbauplänen samt Gaskraftwerksstrategie. Von diesem zweiten Basisszenario wird noch ein drittes Szenario unter dem Namen VRE100clean abgeleitet, dem die Aufgabe gegeben wird, mindestens das Emissionsreduktionziel des NUCLEAR-Szenarios zu erreichen. Das wird mit einem höheren Anteil von H2-fähigen Gasturbinenkraftwerken und von Offshore-Windkraft erreicht. 

Mit diesen erlaubten Randbedingungen und weiteren kostenrelevanten Informationen, so das für 2045 angestrebte Lastprofil, der erwartbare CO2-Preis, die erwartbaren Kosten für Kernkraftwerksbau, Batteriespeicher und H2-Systeme sowie die erwartbaren Kapitalkosten und Zinssätze, wird das Modellierungs-Tool GenX gefüttert, das aus den jeweils zugelassenen Technologien ein kostenoptimiertes Stromerzeugungsystem „baut“. Der Fokus liegt dabei auf der Minimierung von Systemkosten (= Investitions- und Betriebskosten). 

Als Strombedarf für 2045 legt die Studie rund 1000 TWh im Jahr zugrunde, den man aus einer Ember-Studie von 2022 abgeleitet hat. Das liegt nahe der Berechnung der ESYS-Studie von 2023 (Abb. 11), aber unterhalb der Annahmen anderer deutscher Studien, zum Beispiel der neuesten Studie des Fraunhofer ISE (Abb. 7), oder der Langfristszenarien (Folie 18) sowie der Jülicher KSG2045 (Abb. 5.9). Diese nehmen für 2045 einen deutschen Strombedarf von rund 1500 TWh/a bzw. rund 1200 TWh/a an. Die Differenzen liegen vor allem an unterschiedlichen Annahmen über den Strombedarf zur Erzeugung von Wasserstoff und synthetischen Kraftstoffen.

Die Errichtungskosten (overnight capital costs) für neue Kernkraftwerke werden konservativ auf 7000 Euro pro Kilowatt installierte Leistung veranschlagt. Dieser Wert gleicht dem überteuerten EPR-Bau im finnischen Olkiluoto (6900 EUR/kW). Allerdings besagt die Erfahrung, dass bei einer seriellen Errichtung standardisierter Blöcke mit Kostensenkungen zu rechnen ist, wie im Falle von Kernkraftwerken chinesischer und koreanischer Hersteller. 

In einem zweiten Schritt werden die beiden kostenoptimierten Basis-Systeme NUCLEAR und VRE100 mit CGrid evaluiert, einem von QC entwickelten Strommarktmodellierungs-Tool. So kann man herausfinden, wie sich die unterschiedlichen Systeme in einem volatilen realen Strommarkt verhalten, wie hoch ihre Versorgungssicherheit ist, wie hoch der mittlere Strompreis ausfällt und wie groß die Strompreisvolatilität ist. Auch können mit diesem Tool Feintunings an den unterschiedlichen Szenarien vorgenommen werden, um sie weiter zu optimieren. cGrid arbeitet mit realen Strommarktdaten aus Deutschland und den Strommärkten, mit denen Deutschland handelt, und mit den Wetterdaten von 33 repräsentativen Wetterjahren. 

So sähe ein optimales EE-nukleares System aus

Im Resultat erhalten wir zwei kosten- und emissionsoptimierte Stromsysteme unter realistischen deutschen Wetter- und Strommarktbedingungen. Das von EE dominierte VRE100-System enthält als Ergebnis der Kostenoptimierung immer noch einen fünfprozentigen Anteil an Erdgas-befeuerten Kraftwerken. Das kostenoptimale komplementäre NUCLEAR-System hat einen Anteil von 43 % Kernenergie an der Stromproduktion. Das bedeutet für die Energiesystemplanung einen Zubau von 57 GW AKW-Kapazität in Deutschland, wobei rund 8 GW aus der Modernisierung von noch rettbaren Bestandsanlagen stammen könnten. 30 europäische Druckwasserreaktoren vom Typ EPR mit 1600 Megawatt Leistung oder 40 koreanische APR-1400-Blöcke müsste man neu errichten, um die nötige Kapazität zu erreichen. Das würde bedeuten, nicht nur an etablierten Atomstandorten neue Blöcke zu errichten, sondern auch Standorte in West- wie Ostdeutschland zu nutzen, die einst für die Errichtung von Kernkraftwerken vorgesehen, aber nie verwirklicht wurden. Auch die Standorte von Kohlekraftwerken könnten bei geologischer Eignung für den Kernkraftwerksbau genutzt werden. 

46% des Stroms würden im NUCLEAR-System von Solarenergie (120 GW) und Onshore-Windkraft (143 GW) bestritten. Das derzeit geltende Windkraft-Ausbauziel von 2% der deutschen Fläche würde also auch im NUCLEAR-System ausgeschöpft, während die teure Offshore-Windkraft in diesem Szenario nicht weiter ausgebaut würde. Die großen Unterschiede zum VRE100-System bestehen sowohl in diesem Fehlen des Offshore-Wind-Ausbaubedarfs, als auch in einem weit geringeren Anteil an Photovoltaik. Auch der Anteil an Gaskraftwerken (21 zu 50 GW) und H2-Turbinenkraftwerken (12 zu 28 GW) zur Deckung der Spitzenlastbedarfe kann im NUCLEAR-System stark reduziert werden. 

Abb. 1: Anteile der Stromerzeugungstechnologien in den Energiesystemen NUCLEAR und VRE100 und Übersicht der Systeme im Vergleich

Das System mit Kernenergie ist überlegen

Die beiden kostenoptimierten Systeme können sodann auf ihre Performance hin verglichen werden. Unter der Maßgabe des deutschen Klimaschutzgesetzes müsste sich man dann für das System entscheiden, das einen geringeren CO2-Ausstoß verspricht. Für diesen Vergleich werden folgende Werte abgefragt: 

  • Gesamtsystemkosten (jährliche Investitionen, feste und variable Betriebskosten, Strom-Importkosten)
  • Stromübertragungskosten (=Netzausbaukosten)
  • durchschnittlicher Strompreis
  • Strompreis-Volatilität (als Indikator für Planungssicherheit)
  • Energiesicherheit (indiziert durch Höhe der Importkosten und durch Höhe der Erdgasverbrauchs)
  • CO2-Intensität (als Lebenszyklus-Wert in Kilogramm CO2-Äquivalenten pro Megawattstunde und als Direkt-Emissions-Wert in % der deutschen Emissionen von 1990, die als Richtwert der deutschen Klimaziele dienen)
  • Flächenverbrauch
  • Verbrauch an kritischen Materialien. 

In fast allen Vergleichskategorien schneidet das komplementäre System aus EE und Kernenergie gegenüber dem System VRE100 bzw. VRE100clean besser ab – signifikant besser aber bei den System- und Netzausbaukosten. Seine Systemkosten betragen mit 80 Milliarden Euro pro Jahr 80% des VRE100-Systems, weil weniger in EE-Expansion, Speicherung und Flexibilisierung investiert werden muss. Die Netzausbaukosten machen sogar nur rund 8% des VRE100-Szenarios aus, weil der Netzausbau-Treiber Windkraft auf See im NUCLEAR-Szenario nicht ausgebaut werden muss. Der Durchschnitts-Strompreis liegt im NUCLEAR-System bei 82 Euro pro Megawattstunde, im VRE100 bei 105 EUR/MWh. Auch zeichnet sich das System mit Kernenergie durch geringere Volatilität des Strompreises und geringere Importkosten aus, was ein Indikator für höhere Systemsicherheit ist. 

Treibhausgas-Emissionen, Landnutzung und Kritische Rohstoffe

Da es sich in der WePlanet-Studie um kostenoptimierte Szenarien handelt, ist keines der Systeme ein absolutes NetZero-System. Doch kommt das NUCLEAR-System diesem Ziel weit näher als das VRE100-System. Gemessen an den deutschen Emissionen von 1990 erreicht das Kernenergie-System eine Minderung um 97% gegenüber einer Minderung um 91% beim VRE100-System, das aus Gründen der Kostenoptimierung mit einem größeren Anteil Gaskraft-Backup arbeitet. Das bedeutet: im Wettbewerb kostenoptimierter Systeme um die geringsten Emissionen schneidet das System mit Kernenergie besser ab als das VRE100-System – es stößt nur 62% von dessen Lebenszyklus-Emissionen aus. 

Würde man das NUCLEAR-System gemäß dem deutschen Klimaschutzgesetz auf 100% Reduktionsminderung gegenüber 1990 bringen, müsste man mehr Kernenergie einsetzen – das wäre aber dann nicht mehr das kostenoptimale System. 

Abb. 2: Treibhausgasemissionen der Systeme NUCLEAR und VRE100 im Vergleich

Dasselbe gilt für das VRE100-System. In einer zusätzlichen Modellierung zwangen die QC-Forscher das VRE100-System, wenigstens dieselbe Emissionsreduktion zu 1990 zu erreichen wie das System NUCLEAR; dieses abgeleitete System heißt VRE100clean. Hier erhöhen sich mehrere Kosten-Parameter so deutlich, dass es nicht mehr konkurrenzfähig wird: Die Systemkosten steigen dann gegenüber dem stärker erdgas-gestützten VRE100-System um 18%, die Importkosten für Strom um 60%, die Netzausbaukosten um 39%, weil dann weit mehr Offshore-Windkraft gebaut werden müsste. Das ist ein ziemlich deutlicher Indikator, dass der Versuch, ausschließlich mit Erneuerbaren wenigstens in die Nähe von NetZero, ganz zu schweigen zu einem puren NetZero zu kommen, den Industriestandort Deutschland gefährden würde. 

Diese Einschränkung ist wichtig für die Debatte um die Bezahlbarkeit der Energiewende, aber auch für die Transparenz der hier vorgestellten Modelle: der Anspruch NetZero 2045, der in Deutschland Gesetzeskraft hat, wäre mit erheblichen Mehrkosten verbunden, die im NUCLEAR-System aufs Konto eines höheren Anteils von Kernenergie gehen würden, im VRE100 -System aufs Konto eines höheren Zubaus von Windkraft auf See. Das deutsche Klimaschutzgesetz fordert aber bekanntlich noch mehr: Nach 2045 sollen sogar Negativemissionen angestrebt werden, was bedeutet, neben Aufforstung und Wiedervernässung von Mooren als CO2-Senke zusätzliche Technologien zu installieren, um der Atmosphäre CO2 wieder zu entziehen. Das würde also weitere Kosten verursachen.

Der Flächenverbrauch mindert sich beim NUCLEAR-System nur unwesentlich gegenüber dem VRE100-System, weil beide Systeme das Maximum an Windkraftausbau an Land (2 % der Bundesfläche) ausschöpfen würden. Das lässt den Schluss zu, dass ein System mit minimiertem Landverbrauch den Kernenergieanteil noch über die 43 % im NUCLEAR-Szenario steigern müsste, um so auf Windkraft an Land verzichten zu können. Der Verbrauch an kritischen Rohstoffen (das sind z.B. Kupfer, Nickel, Lithium oder Seltene Erden) spricht wiederum deutlich für das Kernenergie-System: 2600 Kilotonnen bei NUCLEAR gegenüber 4300 Kilotonnen bei VRE100. Zum Vergleich: Deutschlands Import an raffiniertem Kupfer betrug 2020 rund 607 Kilotonnen, an Nickel 2023 rund 68 Kilotonnen

Zusammenfassend kann also konstatieren: there is no free lunch in climate action, aber das Essen kommt mit Kernenergie klimafreundlicher auf den Tisch und ist deutlich billiger als im von Erneuerbaren dominierten Szenario.

Aussagegrenzen

Bestimmte Fragen kann die neue Studie allerdings nicht beantworten, weil das Budget der WePlanet-Gruppe eine solche Untersuchung nicht zuließ. Das betrifft vor allem die Untersuchung der Systemsicherheit hinsichtlich der Redundanzen im Kraftwerkspark und im Leitungsnetz (n-minus-1-Kriterium), die Schwarzstartfähigkeit nach einem Blackout und die Frequenzstabilität. Die vorhandene Daten- und Literaturlage lässt aber vermuten, dass ein System mit einem hohen Anteil nuklearer gesicherter Leistung sich auch auf die Systemstabilität positiv auswirken würde. Die großen Turbogeneratoren von Kernkraftwerken tragen mit der in ihren rotierenden Massen gespeicherten Energie zur Frequenzstabilisierung bei. Zum Wiederanfahren nach einem Blackout werden Kernkraftwerke mit privilegierten Schaltungen an schwarzstartfähige Wasserkraftwerke ausgestattet, um ihren relativ hohen Eigenbedarf zu decken: eine 1400-Megawatt-Druckwasserreaktoranlage vom Typ Isar-2 benötigt zum Anfahren ca. 70 Megawatt für ihre eigenen elektrischen Aggregate. Nach einem Blackout würde das Netz dann um die Wasser- und Kernkraftwerke herum stufenweise wiederaufgebaut. 

Was tun? Soziotechnische Empfehlungen für eine Generalrevision der Energiewende

Aus der Studie ergeben sich eine Reihe von Handlungsempfehlungen für politische Entscheider, Wissenschaft und Gesellschaft: 

Erstens sollte die deutsche Energiestrategie technologie-inklusiv gestaltet werden. Geschieht das nicht, droht Deutschland wegen der selbstzweckhaften, monokulturellen Ausrichtung seiner Stromversorgung auf volatile Erneuerbare Energien ein Scheitern bei der Erreichung von Klimazielen, weil das System viel zu aufwendig und komplex ist, um mit ihm binnen 20 Jahren das Ziel der Treibhausgasneutralität zu erreichen. Vor allem aber droht wegen der damit verbundenen Kosten ein Verlust unserer internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Die deutsche Gesetzgebung, aber auch die sie begleitende Energiesystemforschung sollte nicht die Technologien vorgeben, sondern sich auf ein Optimum an Treibhausgas- und Kostenreduktion konzentrieren. Dieser Realismus und Pragmatismus fehlt den heutigen Ansätzen.

Zweitens sollte Deutschland einen Wiedereinstieg in die Kernenergie zulassen und dafür die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen schaffen. Als erster Schritt sollte ein Rückbau-Moratorium für die noch rettbaren Kernkraftwerke und eine Bestandsaufnahme zwecks ihrer Reaktivierung angestrebt werden. Vor allem muss das Atomgesetz geändert werden, das aktuell die kommerzielle Kernenergienutzung nicht gestattet.

Drittens sollte der Kernkraftwerks-Neubau in Deutschland wieder gestattet und von der Politik unterstützt werden.

Viertens müssen auch die Erneuerbaren Energien weiter ausgebaut werden. Der heutige Anteil mit ca. 60% Stromerzeugung aus regenerativen Quellen muss gehalten und dem steigenden Strombedarf angepasst werden, . Gleichzeitig wartet im EE-Sektor die erste große Austausch- und Modernisierungswelle von Onshore-Windparks, die in den nächsten Jahren das Ende ihres Lebenszyklus erreichen. Das bedeutet: der EE-Industrie wird die Arbeit nicht ausgehen, auch wenn ein Atomprogramm an die Seite des EE-Ausbaus tritt.

Die QC-Studie, auf der weitere Untersuchungen aufbauen müssten, gibt uns nun ein Argument an die Hand, dass auch der nukleare Pfad seriös durchgerechnet wurde, anstatt ihn nur in sozialen Netzwerken zu diskutieren. Eine offene Flanke der pro-Atom-Seite ist damit ohne Zweifel nun besser gedeckt als vorher. Doch sind die Handlungsanweisungen nicht voraussetzungslos, sondern sie treffen auf eine Gesellschaft, ihre Normsysteme und ihre Kultur, die sich in der Vergangenheit über die Frage der richtigen Energiestrategie tief zerstritten hat. Es ist daher von großer Wichtigkeit zu erkennen, dass die Energiereform nicht nur ein technisch-finanzielles, sondern auch ein soziotechnisches Vorhaben ist. 

Ich habe über die soziotechnischen Grundvoraussetzungen eines Wiedereinstiegs in die Kernenergie vor einem Jahr einen Aufsatz geschrieben, dessen Aussagen heute nicht wesentlich abgeändert werden müssen. Wenn staatliche Akteure, Investoren oder Betreiberfirmen diesen Weg gehen wollen, müssen sie wissen, dass es sich um einen Marathon und nicht um einen Sprint handelt. Dies gilt unabhängig von der Ordnung der zukünftigen Energiewirtschaft, d.h. unabhängig davon, ob sie in staatlicher Regie betrieben wird oder ob sie in privater Hand ist. Die Politik, die für die Herstellung allgemeinverbindlicher Entscheidungen zuständig ist, muss sich darüber im Klaren sein, dass ein in einer Modellierung erfolgreiches System in der Realität nur dann zum Erfolg gebracht werden kann, wenn die Unternehmen Planungssicherheit haben und die Bevölkerung Vertrauen in das geplante System hat. Diese social licence to operate umfasst im günstigsten Falle auch eine Identifikation der umgebenden Gesellschaft mit dem Vorhaben, d.h. auch eine affektive und emotionale Komponente. 

Sind diese Voraussetzungen erfüllt, kann man, Planungs- und Bauzeit inklusive, in den 2040er Jahren tatsächlich das Ziel erreichen, rund 30 Reaktorblöcke hoch serialisiert und standardisiert ans Netz zu bringen. Die generelle Einstellung der Deutschen zu komplexen technischen Systemen und zu großen Infrastruktur-Vorhaben mit langen Zeithorizonten müsste sich allerdings ändern. Die Gründe für Kostenexplosionen bei Großprojekten im nuklearen wie nichtnuklearen Bereich sind inzwischen gut erforscht; umgekehrt gibt es best-practice-Beispiele für im Zeit- und Kostenplan gebliebene Projekte. Möge die von der Deutschen Bahn gerade ohne Verzögerungen abgeschlossene Generalsanierung der Riedbahn als erster Lichtblick dienen. Kernkraftwerke können in standardisierter und serialisierter Weise gebaut werden und müssen ihre Planziele bei Kosten und Bauzeit nicht überschreiten, wie aktuell der südkoreanische Hersteller KHNP zeigt. Auch die in Deutschland errichteten Kernkraftwerke der Konvoi-Baulinie können als gelungene Großprojekte gelten. 

Zu den soziotechnischen Voraussetzungen gehört des Weiteren, wie die QC-Studienautoren auch selbst sagen, der Wiederaufbau einer starken europäischen kerntechnischen Industrie, der allerdings von einem deutschen Wiedereinstieg befeuert werden könnte. Sollen in Europa bis Ende der 2040er Jahre dutzende neue Reaktoren gebaut werden, muss ja auch die Produktion von Großkomponenten wie Reaktordruckbehältern, Dampferzeugern und Dampfturbinen aufgerüstet werden; derzeit beherrscht nur eine Handvoll Hersteller weltweit die nötigen Verfahren. 

Die deutschen Hochschulen müssten wieder dazu übergehen, auch kerntechnischen Nachwuchs auszubilden – ein Feld, das in 20 Jahren Energiewende-Deutschland kläglich abgewirtschaftet wurde. Die Endlagerplanung und die Endlager-Standortsuche muss auf einen deutlichen Zuwachs an Kapazität abgestimmt werden. Allerdings sind wir unter den Bedingungen der EU-Integration nicht mehr ausschließlich auf im Lande ausgebildete Fachkräfte angewiesen, und wir können bei der Endlagerplanung und -errichtung von der Erfahrung unserer weiter fortgeschrittenen Nachbarn in der Schweiz und in Finnland profitieren. Die deutsche kerntechnische Industrie, die Endlagersuche und die Betriebskulturen der Kernkraftwerke würden auf jeden Fall internationaler.

Erfordernisse wie Reduzierung der Bürokratie, Planungssicherheit für Betreiber und Hersteller und die social licence to operate betreffen allerdings genauso den massiven Ausbau der Erneuerbaren Energien und die galoppierende Verteuerung des Gesamtsystems, sollte man an der Energiewende in ihrer jetzigen Form festhalten. Auch der Windpark- und Stromtrassenbau trifft auf Widerstand in den betroffenen Gemeinden. Vor allem aber hat die vorgestellte QC-Studie offengelegt, was keine der um Größenordnungen teureren und komplexeren deutschen Energiestudien anzusprechen wagte: der Plan B, also ein deutsches Energiesystem mit einem hohen Anteil an Kernenergie, ist zwar nicht billig, könnte sich am Ende aber als weit weniger komplex und kostenträchtig erweisen als die deutsche Energiewende. Denn diese hat eine wichtige Erkenntnis der erfolgreichen Großprojektplanung eben nicht beherzigt, nämlich die richtige Definition des Ziels. Das Ziel unseres großen Umbaus ist ja eigentlich, Deutschland mit sicher verfügbarem, günstigem und klimafreundlichem Strom zu versorgen – doch Politiker und Begleitforschung haben daraus das Ziel gemacht, Erneuerbare Energien als Selbstzweck zu installieren. Dieser Technologiezwang erzeugt teure und eigentlich überflüssige Mehrfachstrukturen. Die deutsche Energiewende dürfte in Komplexität und Vielzahl an Akteuren und Erfordernissen, vor allem im Bereich des Netzausbaus und der Digitalisierung, den Bau von dreißig oder vierzig Kernkraftwerken weit übersteigen.

Wer dies anerkennt, ist vielleicht auch offener für den weniger komplexen und daher günstigeren komplementären Ansatz der Ökomodernisten, der dank der Studie nun an Überzeugungskraft gewinnt. Dieser Ansatz nutzt die Potenziale aller Technologien und macht sich weder mit Anti-Atom-Aktivisten noch mit EE-Verächtern gemein, die dazu tendieren, ihr jeweiliges Mittel zum Zweck zu erheben. So bietet sich die einzigartige Chance, unsere Anstrengungen zur Treibhausgas-Reduktion mit unseren Ansprüchen, ein Industrieland zu bleiben, in Einklang zu bringen. 

Das Ende des Energie-Kulturkampfes 

Aus den vier Empfehlungen und den damit zusammenhängenden soziotechnischen Erfordernissen folgt nichts weniger als eine Totalrevision der deutschen Energiewende in Geist und Praxis. Die bisherige Nullsummenspiel-Doktrin, der zufolge gut für die Erneuerbaren sei, was schlecht für die Kernenergie ist, und dass Klimaschutz nur sei, was mit Erneuerbaren bewerkstelligt würde, ist obsolet. An ihre Stelle sollte ein pluralistisches kooperatives Mindset treten. EE-Ausbau und Kernkraftwerks-Neubau dürfen nicht als konkurrierende, sondern müssen als komplementäre Aufgaben aufgefasst werden. Förderinstrumente (oder auch der Verzicht auf Förderung!), z.B. durch steuergeldfinanzierte Einspeisevergütungen, müssten streng auf alle Technologien gleichermaßen angewendet werden. 

Auch die gute Performance des Systems mit Kernenergie in der Modellierung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Generalrevision der deutschen Energiestrategie hohe kommunikative Hürden nehmen müsste. Das politische System reagiert sehr träge. Eine Denkstil-Änderung kommt nicht über Nacht. Viele meinen, dass wir jetzt, wo wir so viele Hunderte Milliarden Euro in die Erneuerbaren gesteckt haben, nicht noch einmal vom einmal beschlossenen Pfad abweichen sollten; sie empfinden den Atomausstieg als irreversibel. Ein Kurswechsel gefährdet die Hegemonie all jener, die sich in der vorgeblichen Alternativlosigkeit der Energiewende eingerichtet haben. Es ist weit über grüne Milieus hinaus mit Widerständen von Akteuren in den Behörden, den Medien, aber auch von Seiten der vielen Wissenschaftler, Unternehmer und Berater zu rechnen, die ihre Karrieren und vor allem ihre sozialen Identitäten auf der EE-zentrierten Energiewende aufgebaut haben. Anders als die Grünen-Kritiker polemisieren, wird die Energiewende nicht nur von Sozialwissenschaftlerinnen und Kinderbuchautoren gemacht, sondern auch von einem Heer von Technikern, Ingenieuren, Juristen und Wirtschaftsfachleuten, die man davon überzeugen müsste, dass auch in einem System mit Kernenergie ihre Welt nicht untergeht, sondern diverser wird.

Wenn auch die QC-Studie das Argument entkräftet, ein System mit Kernenergie sei viel zu teuer, so gibt es nach wie vor viele Deutsche, die es für gefährlich halten. Sie haben vor ionisierender Strahlung mehr Angst als vor dem real existierenden EE-Fossil-System, das aber wegen seines relativ hohen Schadstoffausstoßes nachweislich mehr vorzeitige Todesfälle erzeugen würde als die Kernenergienutzung. Vor allem aber denken sie nach wie vor, die Kernenergie sei entbehrlich. Erst die Kombination von Angstbotschaft und Entbehrlichkeitsglaube aber hat Verhinderungskraft. Soll also die Kernenergie wieder nach Deutschland kommen, so sind die Menschen nicht nur zu überzeugen, dass sie vor ihr keine Angst zu haben brauchen, sondern auch davon, dass sie unentbehrlich für die Zielerreichung ist. 

Leider ist die Angewohnheit, die jeweiligen politischen Visionen von einer zukünftigen Wunschgesellschaft an bestimmte Technologien zu hängen, in Deutschland überaus ausgeprägt. Das birgt die Gefahr, dass wichtige Erkenntnisse über die mögliche und fruchtbringende Koexistenz von Kernenergie und Erneuerbaren totgeschwiegen oder denunziert werden. Die notwendige Reformdebatte über unsere Energiestrategie droht zu einem Kulturkampf verkommen, in dem Windenergieanlage und Leistungskernreaktor, Wärmepumpe oder E-Auto nicht mehr als technische Tatsachen diskutiert und kritisiert werden, sondern als unantastbare Symbole für den Gruppenzusammenhalt der Eigengruppe dienen. Daher werden auch gerne die Techno-Symbole attackiert, wenn man den politischen Gegner meint. Alice Weidels Parteitags-Kampfansage gegen die „Windmühlen der Schande“ oder die vielen Abfälligkeiten deutscher Linker gegen Kernenergie als angeblich „rechte“ Technologie belegen das. Die Charakteristik der deutschen Energiedebatte, der auf allen Seiten wahrnehmbare Hang zum Polemisieren, gegenseitigen Diffamieren und zur Verbreitung von Angstkommunikation und Falschaussagen lässt vermuten, dass ein steiniger diskursiver Transformationsweg die Voraussetzung für eine Energiewende-Revision ist. 

Jeder, der sich öffentlich für eine Zukunftsstrategie mit Kernenergie stark macht, wird also konfliktfähig sein müssen. Er oder sie wird sich mit dem von Grünen und SPD intonierten Vorwurf auseinandersetzen müssen, das Nachdenken über Kernenergie sei ein Schritt „zurück“, ein „totes Pferd“ von „Ewiggestrigen“ oder schlechthin ein AfD-Projekt. Dass solche Narrative sich erfolgreich in den Köpfen auch der Konservativen festsetzen, kann man an der defensiven Energieprogrammatik der CDU/CSU für die bevorstehende Bundestagswahl recht gut ablesen. Obwohl sich Christdemokraten immer wieder als (häufig nicht sehr qualifizierte) Kritiker der Erneuerbaren Energien hervortun, ist ihr Wahlprogramm ein uninspiriertes Weiter so, keine Ansage einer großen Reform. Dies widerspiegelt die inneren Verhältnisse in der post-Merkel-CDU, wo es viele Sympathisanten für eine schwarz-grüne Koalition gibt. Es ist aber auch ein Indiz dafür, dass ein nukleares Bekenntnis über die Phrasen von „Technologieoffenheit“ und „mehr Forschung“ hinaus den CDU-Politikern immer noch als risikobehaftet erscheint. Ein neues Gaskraftwerk oder eine Verzögerung des Kohleausstiegs, so ihr Kalkül, mobilisiert allenfalls einige auswärtige Klimaaktivisten, deren Proteste man abwettern kann. Windenergie-NIMBYs kann man mit Geld ködern. Aber ein Kernkraftwerksprojekt oder gar das Endlager im eigenen Wahlkreis? Das lässt bei CDU-Politikern alte Ängste vor einer konservativ-ökologischen Mobilisierung aufsteigen.

Raus aus der Defensive

Es wird also bei der Kommunikation über die neue Kernenergie in Deutschland wesentlich darum gehen müssen, diese depressiv-defensive Haltung zu durchbrechen. Das wiederum gelingt nur, wenn die Befürworter einer nuklear-erneuerbaren Energiewende die Kontroverse nicht scheuen und nicht kleinreden, was auf dem Spiel steht: es geht hier um unsere Existenz als Industriestandort und um den gesellschaftlichen Wohlstand. Was wir außerdem dringend brauchen, ist möglichst viel nuclear literacy in der Debatte, also Diskussions- und Lernangebote über moderne kerntechnische Lösungen, die Planung, den Bau und die Versicherung von Atomanlagen, die Endlagersuche und Endlagertechnologie. Dieses Wissen muss ins Netz, aber auch in die Dorfkneipe. Gleichzeitig müssen unsere Behörden wieder auf strenge Sachlichkeit und Fachlichkeit bei ihrer Kommunikation über die Kernenergie verpflichtet werden, was bislang leider nicht immer gewährleistet ist. Zu hoffen ist, dass so erstmals auch ein Brückenschlag zu jenen Bürgern gelingt, die allen Klimaschutzmaßnahmen bisher skeptisch gegenüberstanden, sich aber für Kernenergie aussprechen. Ein Atomprogramm könnte Wähler von der AfD zurück in die Mitte holen. An den Standorten künftiger Atomanlagen gilt: die lokale Verantwortung für ein Energieprojekt kann eine Bürde sein – sie kann aber auch die Ehre der Verantwortungsübernahme für ein ganzes Land sein, das seine Klimaziele nicht mehr gegen seine Versorgungssicherheit ausspielen will. So gesehen wäre die nukleare Reform der Energiewende tatsächlich ein Gemeinschaftswerk – viel mehr, als es die Energiewende je war.