Der virtuelle Dienst Blinkist verspricht, hundertseitige Bücher in knappe Form zu bringen. Die daraus folgende Verflachung intellektueller Erfahrung fügt sich tadellos in die immer beliebtere Tendenz zur Selbstoptimierung ein.

Getrieben von Zeitdruck und Terminstress scheint es heute immer schwieriger zu werden, sich ausgiebig mit einem Sachverhalt zu beschäftigen. Gehetzt von Aufgabe zu Aufgabe bleibt wenig Raum für Besinnung, Reflexion und Muße. Anstatt sich jedoch gegen diese Entwicklung zu wehren, wird gemeinhin versucht, sich dem Gang der Dinge möglichst wirksam anzupassen: Wenn man schon aus der Eile nicht entfliehen kann, dann soll wenigstens möglichst viel auf einmal gemacht werden, um mindestens das gute Gefühl dauerhaften Engagiert-Seins auskosten zu können. Eine Auseinandersetzung mit vielschichtigen Inhalten ist nur schwer möglich, wenn permanent an der Aufhübschung des Lebenslaufs gearbeitet werden muss und die oberflächliche Beschäftigung mit dutzenden Informationsbergen wichtiger erscheint, als überhaupt erst einmal eine vorsichtige Durchdringung unbekannter Theorien und Themen. Nicht den Anschluss zu verlieren, ist das folgenschwere Dogma einer Zeit, die Versunkenheit in den zu ergründenden Stoff als nutzlos brandmarkt und Halbwissen den Vorschub leistet.

Symptom dieser Entwicklung im Bereich der Literatur war von jeher die Verbreitung von Zusammenfassungen sperriger Texte in Form von Sekundärliteratur, die im besten Fall einen ersten Einstieg in neue Gebiete, im schlechtesten Fall eine Verkürzung des dargebotenen Gegenstands bereithielten.

Da Zeit tendenziell jedoch immer knapper wird und gut verwaltet werden will, machen sich virtuelle Dienste immer größere Mühen, bei den ohnehin eingekürzten Zusammenfassungen, noch stärker zu sparen.

Exemplarisch für diesen Prozess im Zeichen von Effizienz und Produktivität steht der Service Blinkist. Dieser sowohl im Internet, als auch als App verfügbare Dienst, hat es sich zur Aufgabe gesetzt, Sachbücher aus breit gefächerten Bereichen inhaltlich zu konzentrieren und sie den Nutzern so zur Verfügung stellen zu können, dass der Inhalt innerhalb von rund 15 Minuten gelesen oder gleich angehört werden kann. Die marktgerechten Stückchen aus über 2500 Büchern werden dann liebevoll „Blinks“genannt.

Geworben wird mit der Erweiterung des eigenen Horizonts, mit entgrenzter Inspiration und der Fähigkeit, überall mitreden zu können. Die penetrant herzliche Begrüßung am Anfang der Registrierung des Start-up-Dienstes (»Schön, dass du da bist!«) dient so gleichzeitig als Blaupause für das hippe, fortschrittliche Image, dass das Unternehmen sich selbst gibt.

Leistungsorientierte Auswahl

Spezialisiert hat man sich bei Blinkist auf Gebiete, die dem Best-Of moderner Ratgeberliteratur entspringen: In Unternehmertum & Small Business möchte man kurze Tipps zum Aufbau des eigenen Start-up-Unternehmens anbieten, Achtsamkeit & Glück sollen zu schnell erlernbaren Attributen werden, und mithilfe von Ratschlägen zu Gesundheit, Fitness & Ernährung wird der garantiert ausgewogene Weg zum besseren Lifestyle geebnet.

Die Aufbesserung von Kommunikation oder Motivation soll ebenfalls der besseren Bewältigung alltäglicher Monotonie dienen: „Innerhalb von nur 15 Minuten kannst du dir die Kernaussagen des neuesten Produktivitätsbestellers [sic!] anhören und direkt anwenden.“

Das eben Gelernte muss also schleunigst in die Tat umgesetzt werden, wenn man es sich in komprimierter Form einverleibt hat. Praktischer soll der Alltag so von der Hand gehen. Gefallen lassen muss sich diese Form der Wissensanhäufung allerdings schon die Frage, ob denn kümmerliche Theoriehäppchen wirklich das Fundament für jene Optimierung sein können.

Wer jedoch glaubt, Blinkistwürde sich immerhin in anderen Kategorien fernab der Beratungsliteratur, wie Philosophie oder Politik, vor allem bekannten Klassikern widmen, irrt gewaltig. Zwar finden sich u.a. Platons „Staat“, Hobbes‘ „Leviathan“ oder das „Manifest der Kommunistischen Partei“ in den Reihen des Service, jedoch weisen diese recht selten mehr als Nutzerzahlen im unteren vierstelligen Bereich auf, was für den 7 Millionen Nutzer beherbergenden Dienst kaum erwähnenswert ist.

Auch erschöpft sich die Auswahl an bewährten Werken schnell: Kant findet man beispielsweise höchstens in populärer Sekundärliteratur wieder, wogegen Blinkist Philosophie sonst einfach nur als ein Synonym für besonders ausgeklügelte, spirituell angehauchte Lebenshilfe zu benutzen scheint. Das gründet wohl weniger auf einem Missverständnis seitens des Unternehmens, sondern vielmehr auf einem gesellschaftlichen Bedürfnis nach harmlosen und wohlklingenden Weisheiten, die wahlweise auf Kalenderblättern oder in als Gurus fungierenden Büchern stehen. Wahlweise liefern diese Traktate dann Trost, Motivation oder Plattitüden, aber definitiv nichts, was ansatzweise Erkenntnis genannt werden könnte.

In seiner freien Zeit begreift das Individuum, reduziert auf seine Rolle als Arbeitskraftbehälter, das Lesen von Sachbüchern also anscheinend nicht mehr als intellektuell anregende Erfahrung, die die triste Wirklichkeit auch aufgrund des positiv fordernden Nachvollzugs komplexer Zusammenhänge und Begründungen stets transzendiert, sondern als Aneignung sogenannter Soft Skills, die vorrangig dem effektiveren Funktionieren in der Arbeitswelt dienen. Lesen verkommt so zum bloßen Selbstoptimierungs-Training.

Diese Internet-Phänomene stehen durchaus in der Tradition des seit Jahren erprobten Speed Readings, das dazu dienen soll, längere Texte innerhalb kürzester Zeit zu verinnerlichen. Gemeinsam haben beide Methoden, dass durch die Verengung anspruchsvoller Texte zwangsläufig ein tiefergehendes Verstehen des Stoffes verunmöglicht wird. Dem Speed Reading ist jedoch noch zu Gute zu halten, dass es überwiegend noch das (nicht erreichbare) Ziel hat, ebenjene kultivierten Texte überhaupt zu erfassen. Bei Blinkist wird dieses Moment endgültig exorziert, indem man sich damit zufrieden gibt, nur einen (im Zweifel sinnentfremdeten) Teil zu lesen, solange man sich dadurch als belesener Experte fühlen kann. Wenn man schließlich den Inhalt ganzer Bücher auf Wortgruppen herunter gewirtschaftet hat, können zwar alle mitreden, aber verstanden hat niemand etwas.

Allseits beschäftigt und informiert

In leichter Sprache, den Leser möchte man schließlich nicht aus der Komfortzone holen, soll möglichst schnell möglichst viel verschlungen werden – immer mit dem sicheren Bewusstsein, dass hier ja sowieso nur das Wichtige von unwichtigem Beiwerk getrennt wurde, also »große Ideen auf den Punkt gebracht« werden. Da mag es konsequent sein, entbehrt aber nicht einer gewissen Ironie, dass auch der Inhalt von Büchern mit Titeln wie „Time is honey – Vom klugen Umgang mit der Zeit“ oder „Schluss mit Prokrastination – Wie man aufhört zu verschieben und anfängt zu leben“ in leicht konsumierbare Größen eingekürzt wird, damit man endlich mit dem Leben anfängt und sich in kreativer Art und Weise von Allgemeinplatz zu Allgemeinplatz hangeln kann.

Ginge es nach der „Welt“, dann würde man durch Blinkist innerhalb von kürzester Zeit »ein universal informierter Mensch« werden. Bei „Zeit Online“ brach man in dem Artikel „Nachhilfe für Leserättchen“ ebenfalls sofort in euphorisch-affirmative Lobreden aus:

„Blinkist ist die perfekte Lösung für die Generation der gestressten Smartphone-Großstädter, die jeden Moment des Leerlaufs nutzen wollen, um sich ein paar Minuten zu verbessern.“

Dass Blinkist den Leerlauf jedoch nicht nutzbar macht, was zuallererst die Fähigkeit zur tiefergehenden Beschäftigung voraussetzen würde, sondern ihn so zum Dauerzustand erhebt, fällt gar nicht mehr auf.

Besprechungen wie diese zeigen in erster Linie, dass Blinkist perfekt zum gegenwärtigen der Selbstoptimierung verschriebenen Zeitalter passt.

Vor allem bei jüngeren Leuten erfreut man sich an dem Angebot, welches Lernen ohne Aufwand, Wissen ohne Nachvollzug und Expertise ohne Denken verspricht. Und weil man sich auf nichts mehr ganz einlassen und alle Türen offen halten will, dienen Dienste wie Blinkist in erster Linie der Simulation von permanenter, versessener Beschäftigung, die trotz des kreativen und allseits bewanderten Anstrichs letztlich nur bunte Leere bereithalten. Erfahrung, die einmal essentieller Bestandteil des Lesens war, verkommt und wird zum reinen Mittel für den Zweck der angeblichen Selbstverwirklichung. Genuss, der wiederum aus der Lektüre eines Buches folgen könnte, wird so a priori eine Absage erteilt. Ein Phänomen, das sich analog in den Selbstoptimierungs-Variationen anderer Bereiche finden lässt: ob nun beim mehr an Arbeit als an Vergnügen erinnernden Workouts im Fitnessstudio, der peinlich strengen Diät, oder der populären Selbstzurichtung namens Positives Denken. Selbstoptimierung ist hier wie dort nicht nur eine selbstquälerische Angelegenheit, sondern scheitert oft auch an ihrem eigenen Anspruch, weil das Image engagierten Beschäftigt-Seins im Mittelpunkt steht.

Unser Gastautor Nico Hoppe arbeitet als freier Journalist in Leipzig und beschäftigt sich insbesondere mit Ideologiekritik, postmodernem Irrsinn und popkulturellen Phänomenen. Auf Twitter ist er unter @nihops zu finden.