Er wusste früher als alle anderen, was auf uns zukommt
Der Publizist Richard Herzinger ist im Alter on 69 Jahren gestorben. Unser Autor Hannes Stein hat mit ihm eng zusammengearbeitet und viel vom Mann „mit der Rasierklinge im Kopf“ gelernt.
Richard Herzinger habe ich vor mehr als dreißig Jahren auf einer germanistischen Tagung in der Nähe von Bonn kennengelernt. Daran war Marko Martin schuld: Er hatte mir gesagt, ich solle mich dort einfinden, und wenn Marko mir etwas befiehlt, gehorche ich natürlich. Es muss 1991 oder 1992 gewesen sein, das Thema der Tagung lautete: “Haben die Intellektuellen versagt?” Ich dachte, es würde um die Reaktion deutscher Intellektueller zum ersten Golfkrieg gehen. Aus meiner Sicht hatten sie damals beinahe alle versagt: In einem Augenblick, in dem ein tollwütiger Diktator, der sowohl an Hitler als auch an Stalin erinnerte, sein Nachbarland überfiel und annektierte und drohte, er werde Israel “mit Giftgas verbrennen” bzw. “in ein Krematorium verwandeln”, hatten die meisten deutschen Dichter und Denker mit einem beinahe reflexartigen Antiamerikanismus reagiert.
Es ging bei der Tagung in der Nähe von Bonn dann aber um die ostdeutschen Intellektuellen. Großes inneres Gähnen; das ging mich wenig an. Allerdings passierte bei jener Tagung dann doch etwas Interessantes. Irgendeiner der anwesenden Germanisten verbreitete in einem Redebeitrag die abenteuerliche Verschwörungstheorie, Wolf Biermann sei 1976 gar nicht gegen seinen Willen ausgebürgert worden; vielmehr habe er seine Ausbürgerung mit den Funktionären der SED abgesprochen, ehe er sich auf seine Konzerttournee nach Westdeutschland begab. Wie bitte? Zum Glück musste ich gar nicht widersprechen: Ein Typ mit großer Nase stand auf und erklärte, hier handle es sich schon deshalb um Quatsch, weil Biermann bei seinem berühmten Kölner Konzert im November 1976 doch noch ungeheuer loyal gegenüber der DDR gewesen sei. Hätte er hinausgeworfen werden wollen, warum hätte er sich dann diese Mühe machen sollen?
“Wer ist das?”, flüsterte ich Marko zu.
“Richard Herzinger”, flüsterte Marko zurück. “Der hat ein Buch über Heiner Müller geschrieben, das du dir bitte kaufen musst. Es heißt Masken der Lebensrevolution. Herzinger weist dort nach, dass die DDR-Intellektuellen, als ihnen der Glaube an den Sozialismus abhanden kam, an alte Denkfiguren der radikalen Rechten angeschlossen haben. Als sie merkten, dass Marx und Bloch versagt hatten, fingen sie an, sich an Ernst Jünger und Carl Schmitt zu halten.”
Ich hatte damals einen Essay mit dem Titel “Westler gegen Antiwestler” verfasst, den kein Mensch publizieren wollte. Während des Golfkriegs war mir nämlich aufgefallen, dass radikale Rechte und radikale Linke sich desselben Vokabulars bedienten: hier wie dort derselbe Hass auf große Städte, den Kapitalismus und die liberale Moderne. Von Ernst Jünger hatte ich damals noch wenig, von Carl Schmitt nichts gelesen. Richard Herzingers Buch über Heiner Müller war für mich wie ein Schlüssel. Als ich es intus hatte, bat ich Marko um Richards Adresse und schickte ihm meinen Essay mit meiner Telefonnummer.
Das Resultat war ein vier- oder fünfstündiges Ferngespräch zwischen Hamburg und Berlin, das in dem Plan mündete, gemeinsam eine Anthologie mit Texten über das alte und neue Antiwestlertum herauszugeben. Wir schrieben ein Konzept und schickten es an den Rowohlt-Verlag.
Wenig später bekamen wir beide einen Brief von Frank Strickstrock und Rüdiger Dammann, zwei Rowohlt-Lektoren: Sie seien “elektrisiert” und würden sich gern mit uns unterhalten. Also kam Richard zu mir nach Hamburg, und gemeinsam unternahmen wir die Weltreise nach Reinbek. Die beiden Lektoren überraschten uns mit einem Angebot: Sie wollten von uns keine Anthologie, das würde sich nicht verkaufen. Statt dessen sollten wir das Buch selber schreiben. Wir machten “Hm” und “Na ja”. Dann setzten wir uns hin (die Carl-Schmitt-Lektüre hatte ich mittlerweile nachgeholt) und schrieben das Buch.
Antiquarisch ist es immer noch zu haben, es heißt “Endzeit-Propheten oder die Offensive der Antiwestler”. Erscheinungsjahr: 1995.
Ich kann berichten, dass es ungeheuren Spaß machte, dieses Buch zu verfassen. Richard und ich faxten Kapitel hin und her, wir telefonierten stundenlang, trafen uns in Berlin und lachten laut, während wir unser Werk — halb polemischer Essay, halb gelehrte Abhandlung — aufs Papier pfefferten. Ich glaube (ich hoffe), man merkt das dem Produkt an: Es geht um sehr ernste Themen, aber wir behandelten sie mit leichter Hand. Kern des Buches ist ein Vergleich zweier Comic-Welten: hier Asterix und das uns allen wohlbekannte, kleine gallische Dorf, dort Entenhausen. Asterix war für uns der antiwestliche Comic Strip: eine ethnisch homogene Gemeinschaft, in der Magie und Häuptlinge regieren und der Sänger nicht singen darf. Bei Entenhausen dagegen handelt es sich um eine Großstadt, in der verschiedene Tiere friedlich zusammenleben, während Daniel Düsentrieb die erstaunlichsten Erfindungen macht.
Von manchen Rezensenten wurde das Buch freundlich aufgenommen. Viele reagierten allerdings unwirsch, was vielleicht damit zusammenhing, dass Richard Herziger und ich in keine ideologische Nische passten. Wir verabscheuten die intellektuelle Neue Rechte, die sich damals in Deutschland breitmachte, aber wir waren keine Linken. Wir weinten dem Sozialismus keine Träne nach. Wir hatten die Frechheit, uns klar zu Amerika zu bekennen. Wir waren ganz offenkundig keine Pazifisten. Wir waren für die Spaßgesellschaft. Manche Rezensenten fanden, dass wir übertrieben: Herzinger und Stein sind hysterisch, hieß es. Was die beiden da beschreiben, sind doch Randerscheinungen; es gibt brennendere Probleme. Wir verkauften 9000 Exemplare des Buches, dann verschwand es. Allerdings scheint mir, dass es bis heute ein Leben im Untergrund führt.
Zufällig habe ich unser Buch vor ein paar Jahren wieder zur Hand genommen und darin herumgeblättert. Ich staunte, wie viel wir vorausgesehen haben. Unser Buch kam leider dreißig Jahre zu früh.
Besonders stolz bin ich, dass wir Putin voraussahen, als es noch keinen Putin gab. Schon 1995 ahnten Richard Herziger und ich, dass sich in Russland etwas sehr Finsteres zusammenbraut, das Europa noch sehr beschäftigen wird. Hellsichtig auch unsere Anmerkungen zum islamischen Fundamentalismus — sechs Jahre vor dem Massaker in Manhattan, dem 11. September 2001. Unser Bekenntnis zur Europäischen Union — und zwar zu einer Zeit, als sich außer Helmut Kohl noch kein Mensch für dieses Thema erwärmte — war von vorne bis hinten richtig. Schön auch unser Bekenntnis zum multiethnischen Imperium Romanum. Außerdem ahnten wir, dass der Osten Deutschlands ein riesiges Mistbeet war, das nur auf rechtsradikale Samen wartete: Schließlich war die DDR ein weitgehend ethnisch reiner Staat gewesen, der mit antizionistischer und antiamerikanischer Propaganda gedüngt und von einem geradezu preußischen Militarismus geprägt worden war.
Manches sehe ich heute anders als damals. 1995 war ich noch der Ansicht, die ökologische Bewegung sei insgesamt antiliberal, verdeckt totalitär; die Angst vor dem menschgemachten Klimawandel hielt ich deshalb für übertrieben. Heute denke ich: Der menschgemachte Klimawandel ist ein Problem, das den Weiterbestand unserer Zivilisation bedroht. Aus diesem Grund bin ich heute ein entschiedener Kernkraftbefürworter.
Dann gab es jene Dinge, die Richard Herzinger und ich 1995 nicht vorausgesehen haben. Wir waren selber eben gerade keine Endzeit-Propheten! Dass die Vereinigten Staaten ihr universalistisches Erbe verraten, dass sie sich dem Antilberalismus in die Arme werfen würden; dass Fans von Carl Schmitt einst in Washington an die Macht kommen würden — nein, das hätten wir beide nicht für möglich gehalten. Nie hätten wir gedacht, dass Amerikas Konservative, die doch eine eher libertäre, staatsfeindliche Tradition haben, sich einer autoritären Bewegung anschließen. Nie hätten wir uns träumen lassen, dass unser multikulturelles Entenhausen eines Tages von amerikanischen Soldaten besetzt werden würde.
Nach den “Endzeit-Propheten” haben Richard Herzinger und ich noch einmal zusammengearbeitet — wir schrieben einen Artikel für den “Spiegel”, in dem wir davor warnten, Auschwitz und Hiroschima in einem Atemzug zu nennen. Wir haben uns später für Bosnien-Hercegowina eingesetzt, als es von Serben und Kroaten gemeinsam von der Landkarte gelöscht werden sollten: Wir plädierten für Luftschläge der NATO, um Sarajevo zu retten, als man damit in gewissen Kreisen noch den sozialen Tod riskierte. Ich erinnere mich an eine gemeinsame Veranstaltung, bei der eine vom Ideal des Friedens beseelte Frau mir buchstäblich ins Gesicht spuckte.
Danach gingen wir getrennte Wege. Es war kein Zerwürfnis; ich wanderte aus. 1998 versuchte ich, Israeli zu werden, und scheiterte kläglich. Am Ende wurde ich stattdessen Amerikaner, Richard blieb in Berlin. Manchmal tauschten wir E-Mails aus, und natürlich las ich alles, was er für die “Neue Zürcher Zeitung”, die “Zeit”, die “Welt”, die “WamS”, am Ende für seinen eigenen Blog schrieb, meistens mit großer Zustimmung. Richard war immer der Klügere von uns beiden. Er hatte eine Rasierklinge im Kopf. Er war ein scharfer Analytiker, während für mich die Welt in bunte Anekdoten zerfiel.
Richard hat früher als beinahe alle anderen erkannt, wie wichtig der Freiheitskampf der Ukraine war. Er kapierte, dass die Ukraine zugleich mit ihrer nationalen Unabhängigkeit auch die Freiheit Europas verteidigte. (Dass er seiner Zeit oft weit voraus war, wurde ihm natürlich nie verziehen.) Mit zunehmender Verzweiflung erkannte mein Freund Herzinger, dass das, wofür wir in unserem gemeinsamen Buch eingetreten waren, brüchig war; dass die liberale Moderne, in der jeder nach seiner Fasson unglücklich werden darf, vielleicht nicht überleben würde.
Jetzt erreicht mich die Nachricht, dass Richard Herzinger, der tapfere Liberale, am Mittwoch in Berlin gestorben ist. So richtig fassen kann ich es noch nicht. Ave atque vale!







