Mit seiner „Kritik der vegetarischen Ethik“ schreibt Klaus Alfs gegen den Mainstream. Legen Sie das Buch unter den Weihnachtsbaum, wenn Vegetarier oder Veganer unter Ihren Verwandten sind und Sie die Feier ein bisschen aufmischen wollen.

Wer sich in die angesagten Cafés und Restaurants unserer Großstädte begibt, könnte den Eindruck gewinnen, Deutschland sei auf dem besten Weg, ein Land der Vegetarier oder gar der Veganer zu werden. Keine Speisekarte ohne vegetarische „Bowls“, in der Kühlvitrine steht veganer Kuchen neben der „Mandelmilch“ für vegane Shakes. Zwar ist der Verzehr von Fleisch und Milchprodukten in den vergangenen Jahren keineswegs rückläufig, unter dem Strich futtern die Deutschen unbeirrt und massenhaft tierische Produkte. Gesellschaftlich tonangebend ist aber etwas anderes.

Babies stillen, Kühe killen: Darf man das?

In den wohlbestallten Kreisen, die der Soziologe Andreas Reckwitz das „kulturelle Leitmilieu der Spätmoderne“ nennt, ist die fleischlose Ernährung schick geworden. Dem unreflektierten Allesesser wähnt man sich überlegen. Wer keine halben Sachen macht, so die subkutane Stimmung, wird gleich Veganer. Denn mit welchem Recht töten und essen wir das Rind und das Schwein, vergöttern aber den Labrador und die Perserkatze? Und ist es nicht schizophren, wenn wir unser Baby ins Tragetuch binden und es monatelang nach Bedarf stillen, die trauernde Mutterkuh aber vom Kalb trennen, um Milch und Quark konsumieren zu können?

Solche Vergleiche markieren einen Kulturwandel, der in der oberen Hälfte der Gesellschaft längst als diskussionswürdig gilt. Meist erreicht er Mittelschichtsfamilien über sinnsuchende Teenager, die sich von ihren Eltern abgrenzen wollen und dafür bessere Argumente brauchen, als dass ihnen die Alten einfach auf den Wecker gehen. Vegetarismus und Veganismus sind eine gute Sollbruchstelle zwischen den Generationen. Die Schnittmenge gemeinsam verzehrbarer Speisen wird klein, wenn jugendliche Veganer und traditionsverhaftete Mischköstler aufeinandertreffen.

Die Lufthoheit der tugendhaften Esser

Klaus Alfs ist die Rolle von Ernährung als Ersatzreligion und als Terrain gesellschaftlicher Distinktion bewusst, wie er auf seinem Blog mit dem vielsagenden Titel „Meinung Wahn Gesellschaft“ und in Interviews erkennen lässt. Trotzdem ignoriert er in seinem neuen Buch den „nach unten“ abgrenzenden Charakter von Essensmoden weitgehend. Vielleicht, weil es ihm wohlfeil erschien, gegen die heimliche oder unbewusste Motivation vieler Vegetarier und Veganer zu polemisieren. Vielleicht wollte er als gelernter Landwirt „bei seinen Leisten“ bleiben und die Ethik des Fleisch-Verzichts an ihren auf die Produktion bezogenen Argumenten messen. Das ist schade, weil das Phänomen des tugendhaften Essens ohne Distinktionsgewinn nicht die Lufthoheit besäße, die es heute besitzt.

Von diesem kleinen Mangel abgesehen, hat Alfs mit seiner „Kritik der vegetarischen Ethik“ ein Standardwerk gegen Vegetarismus und Veganismus vorgelegt. Mit Faktenwissen und Logik (Kants „Kritik der reinen Vernunft“ lässt grüßen) will der Sozialwissenschaftler beweisen, dass der Verzicht auf Fleisch oder auf tierische Produkte in toto nicht geeignet ist, die Probleme dieser Welt zu lösen. Das Buch ist eine prima Argumentationshilfe, um beim Weihnachtskrach mit vegan lebenden Verwandten endlich Oberwasser zu haben.

Dabei sind die fleischlosen Zeitgenossen weiterhin in der Unterzahl. De facto sind es nur sechs Prozent der Deutschen, die sich laut Umfragen selbst als Vegetarier bezeichnen. Über den Anteil derer, die fleischlos leben wollen, es im Alltag aber oft „nicht schaffen“, kann man nur spekulieren. Trotzdem habe hartnäckige Lobbyarbeit vor allem in der veröffentlichten Meinung „einen Begriffsrahmen gespannt“, in dem sich inzwischen auch die Argumente der Fleischesser bewegten, schreibt Alfs. Man muss ihm zustimmen: Ethische Prämissen des Vegetarismus und Veganismus werden kaum mehr hinterfragt. Wer gegen diesen gesellschaftlichen Trend argumentiert, gerät schnell in die Defensive. Dabei geht er auf überaus fragwürdige Vordenker zurück, die der Autor ebenso detailliert wie genüsslich vorstellt.

Ein Gang durch die Gruselgalerie der Tierrechtler

An der Spitze der Bewegung steht die -längst nicht von allen Vegetariern und Veganern geteilte- Ansicht, dass menschliches und tierisches Leben grundsätzlich den gleichen Wert haben. So sieht es zum Beispiel die Tierrechtlerin und PETA-Gründerin Ingrid Newkirk. Deren Credo „eine Ratte ist ein Schwein ist ein Hund ist ein Junge“ hat Berühmtheit erlangt. Danach wäre es ethisch gerechtfertigt, als Autofahrer einem Hund auszuweichen und dafür in Kauf zu nehmen, dass ein Kind verletzt oder getötet wird.

Um auf die Barbarei des Fleischkonsums hinzuweisen, hat die PR-begabte Newkirk in einem „Testament“ verfügt, dass ihre Leiche zu Leder, Fleisch und Innereien verarbeitet und, quasi als perverser letzter Gruß, auf die Tische der Fleischesser gebracht werden soll. Ihre Leber will sie als Foie gras in Frankreich serviert wissen. Der Popularität von PETA haben derlei Wahn und Grusel nicht geschadet.

Differenzierter, aber nicht weniger radikal argumentieren der australische Philosoph Peter Singer und sein US-amerikanischer Kollege Tom Regan, beide Nestoren der Tierrechts-Bewegung. Die Wissenschaftler machen die Fähigkeit, Schmerz zu empfinden, zum zentralen Kriterium bei der Frage, ob und zu welchem Zweck Tieren Leid zugefügt werden darf. Allein aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Spezies dürfe kein Lebewesen getötet oder „benutzt“ werden. Danach hätte ein schmerz- und bewusstseinsloser Mensch weniger Rechte als irgendein quicklebendiges Säugetier oder ein munteres Vögelchen.

Man nehme ein Kilo Retriever-Hack

Die Sozialpsychologin und vegane Aktivistin Melanie Joy steht vor allem bei jungen Menschen hoch im Kurs: In Anlehnung an den von Singer und Regan kritisierten „Speziesismus“ erfand die Amerikanerin den „Karnismus“. Dabei handelt es sich um das falsche Bewusstsein von Fleischessern, mit dem diese ihre Haltung gegenüber Nutztier einerseits und Haustier andererseits rechtfertigen. „Man nehme ein Kilo frisches Retriever-Welpen-Hack“ beginnt Joy ihren Vortrag und genießt das Raunen im Publikum, bevor sie fortfährt: „Das finden Sie eklig? Weshalb kochen Sie dann nach Rezepten mit Kalbfleisch? Sie sollten wissen, dass ein Kälbchen genauso rührend ist, wie ein Retriever-Welpe.“

Alfs argumentiert nicht, dass der Genuss von Fleisch gesund und deshalb geboten sei. Es geht ihm auch nicht um Menschen, die aus Geschmacksgründen oder wegen kindlicher Traumata einen Bogen ums Fleisch machen. Sein Ziel ist die Widerlegung von Vegetarismus und Veganismus als fundamentalistische Heilslehre. Denn anders als sie vorgebe, führe sie nicht zu einer besseren Welt, sondern zu einer Verachtung des Menschlichen: „Der klassische Humanismus lässt sich in dem Satz zusammenfassen, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei. Die vegetarischen Ethiker sind überzeugt, dass der er auf Vorurteilen beruht.“

Angriff auf Zivilisation und Humanismus

Man sollte es den Fleischlosen nicht vorwerfen, sondern ihnen zugutehalten, dass sie ihren Verzicht selten so konsequent leben, wie Alfs ihn idealtypisch vorexerziert. Den meisten Veganern ist nicht bewusst, dass „veganes Leben“ in entwickelten Ländern kaum möglich ist bzw. in Askese und Einsiedelei führen würde. Tierprodukte wie Knochenleim als Hemmstoff in Elektrogeräten (auch in Handys und Computern!) oder Schweinecholesterin für allerlei Werkstoffe einschließlich Plastik und Furnierholz sind gute Beispiele für die Allgegenwart tierischer Produkte. Aber ist das Problematisieren des Tieres als Nutz-Ding deshalb anti-zivilisatorisch?

Die Antwort lautet: Ja. Wer mit Newkirk denkt, dass eine Ratte ein Schwein ein Junge sei, zuckt nur mit den Schultern, wenn der in Deutschland neu heimische Wolf einen Säugling reißt, der im Kinderwagen in den Garten gestellt wurde. Solche Ansichten sind unter Tierrechtlern gang und gäbe, wie ein Blick in einschlägige Internet-Foren zeigt. Ein wichtiger Teil medizinischer Forschung würde nach deren Willen ebenso unmöglich wie wirksamer Seuchenschutz: Schließlich sind Ratten und Tauben Lebewesen, die Schmerz empfinden, über kognitive Fähigkeiten verfügen und sogar Schwarmintelligenz erkennen lassen.

Recht amüsant führt der Autor die Logik derer ad absurdum, die sich über die „Schizophrenie“ der Fleischesser erregen. Warum verhätschele ich meinen Hund und habe kein Mitleid mit dem Mastschwein? Weshalb wähle ich einen Menschen zum Lebenspartner und lasse mir die Einsamkeit von Millionen anderen herzlich egal sein, fragt er zurück.

Genauso „ungerecht“ sei es, mit Geranien zu sprechen und sie mit Musik zu verwöhnen, während der Blumenkohl zerstückelt im Kochtopf landet. Auch Veganer mit Freigänger-Katzen, die auf ihren Streifzügen massenhaft Singvögel töten, bekommen ihr Fett weg. Überhaupt: Weshalb haben tierliebe Menschen keine Augen dafür, dass ihre geliebten Vierbeiner Qualzucht sind und mit schweren Körperdefekten leben müssen- so wie die gerade angesagte französische Bulldogge oder der Mops?

Weideland in Vegetarierhand?

Stark ist das Buch immer dort, wo Alfs auf Fakten verweist, die Stadtmenschen nicht unbedingt geläufig sind. So ist der von Veganern favorisierte Bio-Landbau ohne Dünger aus Nutztierhaltung nicht möglich. Anders als uns die Veggie-Lobby glauben machen will, löst der Schlachtruf „Weideland in Vegetarierhand!“ das Hungerproblem dieser Welt nicht: Über die Hälfte des globalen Nutzviehbestandes weidet auf nährstoffarmem Grasland, das für Ackerbau ungeeignet ist. Dort ist Viehhaltung kein ressourcenzehrender Luxus, sondern effizient und wirtschaftlich: Wiederkäuer verwandeln das für Menschen ungenießbare Gras in hochwertiges Eiweiß.

Die einst bitterarmen Bergbauern in den Alpentälern wussten, weshalb sie auf Vieh und Milch setzten statt auf Roggen und Dinkel. Von steilen Hängen, die für Ackerbau ebenfalls nicht infrage kommen, ganz zu schweigen. Hat derlei Zusammenhänge jeder zur Kenntnis genommen, der den Verzehr von Milch und Käse geißelt, weil Hülsenfrüchte ebenfalls reichlich Eiweiß liefern?

Fleischesser sind für den Hunger in der Welt mit verantwortlich, weil Soja als Tierfutter statt Nahrung für Menschen angebaut wird? Aus Sicht des Autors ist auch diese Behauptung falsch: „Anhand realer Daten lässt sich zeigen, dass man mit höherer Fleischproduktion sehr viel mehr Menschen satt bekommen kann als mit geringerer.“ So sei laut UNO der Anteil der hungernden Bevölkerung weltweit von 900 Millionen im Jahr 2000 (Weltbevölkerung sechs Milliarden) auf 803 Millionen im Jahr 2017 (Weltbevölkerung 7,5 Milliarden) geschrumpft – bei gleichzeitiger Steigerung der Fleischproduktion von 230 Millionen Tonnen im Jahr 2000 auf 336 Millionen Tonnen im gleichen Zeitraum.

Legenden für die sensible Bioladen-Kundin

Dass Milchkühe tagelang verzweifelt nach ihren Kälbern „rufen“, hält der Autor für eine urbane Legende, die sensible Bioladen-Kundinnen zu teuren Milchersatz-Produkten verleiten soll. Würden die Kälber sofort von den Mutterkühen separiert, interessierten sich diese schon nach 12 Stunden nicht mehr für ihren Nachwuchs und ließen ihn auch nicht mehr trinken. In vielen Betrieben handhabe man die Sache ohnehin anders: „Milchkühe geben weit mehr Milch, als ein Kalb trinken kann. Viele Betriebe, und zwar gerade die großen, reichen ihren Kälbern Vollmilch ad libitum, es wird also kein ‚Mundraub‘ begangen.“

Dass Großbetriebe grundsätzlich „tierfeindlicher“ sind als kleine Bauernhöfe, gilt in der veröffentlichten Meinung als ausgemacht. Gegen den populären Kampfbegriff „Massentierhaltung“ zieht Alfs mit Inbrunst zu Felde. Er rechnet vor, dass es in Deutschland keine Versorgung etwa mit Schweinefleisch mehr gäbe, würden alle Mastbetriebe auf das Idyll setzten, wie es Bio-Vorzeigehöfe im Speckgürtel der Großstädte bevorzugt tun. Diese bedienten nicht nur eine surreal kleine Käuferschicht, sondern hätten auch die kränkeren Tiere: „Bioschweine weisen mehr Frakturen, Exzeme, verletzte Schwänze, Gelenkverletzungen, parasitäre Leberveränderungen und Lungenwürmer auf.“

Massentierhaltung: Ein Kampfbegriff ohne Substanz

Das Problem sei, dass viele sich bei „artgerechter Haltung“ nicht von Erkenntnissen der Verhaltensforschung leiten ließen, sondern ihre menschlichen Vorstellungen von gutem Leben in die Tiere hineinprojizierten. So „fühlten“ sich Menschen in Tiere „hinein“, über deren inneres Erleben man so gut wie nichts wisse. Es stimmt schon: Ein Mastschwein ist kein TUI-Tourist, dem die graue Bettenburg auf die Stimmung schlägt, weil er eigentlich Romantik gebucht hatte. Ob 20 oder 2000 Artgenossen mit ihm unter einem Dach leben, ist dem Tier egal, solange es die nicht mitbekommt, seine Umgebung stressarm ist und Raum für artgerechte Betätigung bietet. Dennoch gibt es zweifellos Formen der Tierhaltung, die zu überdenken sind.

„Wer weiter Fleisch konsumieren möchte, sollte wissen, dass er mit der Ablehnung der Massentierhaltung bereits einen Vertrag mit dem Veganismus unterschrieben hat“, warnt Alfs. Manchmal wünschte man ihm mehr Souveränität. Man kann sich vorstellen, dass der seit Jahren tapfer gegen den Zeitgeist anschreibende Autor heftigen Attacken ausgesetzt ist und sich eine entsprechende Schützengraben-Mentalität zugelegt hat. Bei allem Verständnis für ihn, der die undankbare Aufgabe übernommen hat, zwischen Landwirten und Konsumenten zu dolmetschen: Hier sieht er Feinde, wo unter Umständen Verbündete stehen. Mehr Tierwohl für Nutztiere in „konventioneller Haltung“ ist keine Esoterik und wäre nicht die schlechteste Stoßrichtung.

Klaus Alfs: Kritik der vegetarischen Ethik. Wie vernünftig ist der Verzicht? Eichelmändli-Verlag, Hofstetten 2019. 27 Euro.