Finnlandisierung 2.0
Der Ukraine wird immer mal wieder eine Finnlandisierung empfohlen. Aus guten Gründen will sie das nicht. Aber in einem anderen Land liebäugelt man für sich selbst damit.
Viele Ratschläge hat sich die Ukraine in den vergangenen drei Kriegsjahren aus dem Westen anhören müssen. Sehr viele. Dabei wären dem Land Waffen lieber gewesen, Waffen in größerer Zahl, mit denen man sich besser hätte verteidigen, Menschen retten, Infrastruktur schützen und den Aggressor unter Druck setzen können. Viele Ratschläge klingen wie die europäische Variante eines „Deals“, den man um eines Diktatfriedens willen mit Mördern und Vergewaltigern glaubt eingehen zu müssen, ohne dass es nach einem Nachgeben, einem Unterwerfen, einem Kotau vor Verbrechern ausschaut. Das ist es, was man aus warmen und friedlichen Amtsstuben und Büros einem fremden Land empfiehlt, das sich gegen Usurpation und kulturelle Auslöschung stemmt.
Zu den vielen guten Ratschlägen für die Ukraine gehört auch der einer „Finnlandisierung“ des Landes. Gemeint ist genau jener Zustand, den das betreffende Finnland vor zwei Jahren aus Sorge vor dem imperialistischen Russland mit dem Beitritt zur NATO endgültig beendet hat. Und dieses Second-Hand-Kleid soll der Ukraine nun verkauft werden? Die hat schon abgewinkt. Das Land hat zwar viele Menschen verloren, aber nicht den Verstand. Und es weiß, dass Russland die Ukraine vollständig will, einverleibt und verdaut. Das soll der erste Schritt sein zum neuen russischen Imperium.
Damit hätte sich das mit der Finnlandisierung also erledigt? Nein. Denn es spielt ganz woanders sogar eine sehr große Rolle.
Was bedeutet das eigentlich – Finnlandisierung? Die finnische Autorin Sofi Oksanen sprach 2014 rückblickend von einem Zustand „verminderter Selbstständigkeit, angenagter Demokratie und abgewürgter Meinungsfreiheit“. Im Kern bedeutet es Folgendes: politische, militärische und kulturelle Rücksichtnahme auf einen Hegemon; intensiver, abhängigmachender Handel mit diesem; sogenannte „Bündnisneutralität“ und damit beispielsweise der Verzicht auf eine Mitgliedschaft in EU und NATO. Wie gesagt, die Ukraine hat abgewinkt. Sie weiß, dass diese Bedingungen für einen Frieden letztlich den Verzicht auf Souveränität und Existenz der Ukraine bedeuten würden. Aber für ein anderes Land scheint diese Finnlandisierung in Frage zu kommen. Nicht offiziell, nicht als explizit genanntes programmatisches Ziel oder als in Talkshows offen benannte Utopie. Nein. Aber als Konsequenz weit verbreiteter politischer Ansichten, Absichten und Forderungen. Dieses Land ist – Deutschland.
SCHRITT FÜR SCHRITT ZUR FINNLANDISIERUNG
Sie halten das für übertrieben? Es ist mitnichten so. Gehen wir die Merkmale der Finnlandisierung einmal durch.
Es war jahrzehntelang das Privileg der Partei DIE LINKE und ihrer Übergangs- und Vorfeldorganisationen, die deutsche NATO-Mitgliedschaft in Zweifel zu ziehen, ja, den Austritt aus der NATO zu fordern. Dies blieb erfolglos und war niemals ernstlich diskutabel. Doch nun ist diese LINKE längst nicht mehr allein, denn es haben sich die viel größeren AfD und BSW dieser Forderung angeschlossen, um einer europäischen „Sicherheitsarchitektur“ unter „Einbeziehung Russlands“ das Wort zu reden. Das ist letztlich als ernstgemeinter Versuch zu werten, die Westbindung Deutschlands zu beenden und das Land in den Herrschaftsbereich Russlands zu übertragen. Ähnlich ist es in Sachen EU-Mitgliedschaft: Ungeachtet der Tatsache, dass Deutschland ein großer Profiteur der Europäischen Union und der gemeinsamen Währung ist, denkt man in den genannten Parteien über einen „Dexit“ nach, einen Austritt aus der EU. Die Folgen wären verheerend für die deutsche Wirtschaft. Doch dahinter steckt kein Leichtsinn, sondern Kalkül.
Denn zur Finnlandisierung gehört ja ein intensiver, abhängigmachender Handel mit dem Hegemon. Auch wenn er, wie im Fall Russlands, nur Rohstoffe, aber nichts Zukunftsweisendes zu bieten hat. Auf die Abhängigkeit käme es an. Der Wohlstand, die Produktivität, die Innovation wären, wie wir in Russland sehen, zweitrangig. Für Deutschland wäre eine Abkehr vom Welthandel und der engen Zusammenarbeit mit den Staaten der EU und stattdessen eine wirtschaftliche Verflechtung mit Russland ein Weg in den Niedergang. Man muss kein Ökonom sein, um das zu erkennen, und trotzdem fordern die bereits genannten Parteien bei jeder Gelegenheit, die Sanktionen gegen Russland zu beenden, den Handel und den Bezug von Gas aus Russland wieder aufzunehmen. Dabei würde dies bedeuten, den Aggressor Russland zu stärken und die alte Abhängigkeit zu erneuern. Es macht die Sache nicht besser, dass solche Forderungen auch von Wirtschaftsvertretern kommen. Dessen ungeachtet, dass sie möglicherweise der AfD oder dem BSW nahestehen, scheint es sie ob der eigenen Profitinteressen einfach nicht zu interessieren, dass eine intensive Verflechtung mit der russischen Wirtschaft garantiert ein Abfließen technologischen Wissens in Richtung Russland bedeutet, weil eine unterentwickelte Autokratie immer ein vampirhaftes Interesse an Innovationen hat, um diese für Digital- und Militärtechnologie abgreifen zu können. Deshalb sind Ausfuhrverbote und Sanktionen, auch wenn sie möglicherweise umgangen werden, oftmals sinnvoll. (Wer an dieser Stelle die SPD und ihre Moskau-Connection vermisst – nun, dazu kommen wir gleich.)
EIN UNSICHERER KANTONIST
Beim dritten Element der Finnlandisierung – die politische, militärische und kulturelle Rücksichtnahme auf den Hegemon – spielen die Sozialdemokraten eine besondere Rolle, da sie nach Beginn des russischen Angriffskriegs zwar von einer „Zeitenwende“ sprachen, diese jedoch mit einer „Friedenspolitik“ verbanden, die sich als scheinbar staatsmännische Besonnenheit ausgab. Im Ergebnis bedeutete sie allerdings: aus Angst vor einem politischen Praecox auf militärische Prokrastination umzuschalten, die die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands wie auch der Ukraine nicht ausreichend stärkt. Dahinter steckt nicht weniger als Rücksichtnahme auf Putin, mit dem man glaubt, reden zu können, ohne ihn durch Waffen zu beeindrucken. Seit der sogenannten „Stalinnote“ Anfang der fünfziger Jahre glauben große Teile der SPD, ein bündnisfreies und Russland zugewandtes, also schwaches Deutschland könnte eine friedensstiftende Rolle in Europa spielen. Eine Illusion – die aber immer noch gepflegt wird, wenn man sich den SPD-Fraktionsvorsitzenden Mützenich anhört oder gar den stellvertretenden SPD-Vorsitzenden Ralf Stegner: „Das Problem ist doch nicht, dass wir einen Mangel an Waffen haben, sondern dass wir mit den Russen nicht reden.“
Dabei wurde diese Illusion von Abrüstung, Vertrauensbildung und Verflechtung durch Handel mit Russland bereits seit dem Mauerfall erfolglos ausprobiert, der Verteidigungsetat einer Ozempic-Kur unterzogen, während Russland große Waffenbestände in den Weiten Sibiriens versteckte. Warum dieser falsche Friede nach den Aggressionen Russlands gegen Tschetschenien, Georgien und Ukraine nicht als Potemkinsches Dorf und
offensichtliche Täuschung erkannt wurde, bleibt ein Geheimnis – und liegt doch offen zutage: Es war eine Mischung aus ökonomischer Gier, politischer Sentimentalität, moralischer Traumtänzerei, dummer Arroganz, skrupelloser Korruption, alberner Russlandliebe und naiver Kurzsichtigkeit, das in sechzehn Jahren Merkel-Kanzlerschaft und zwölf Jahren Großer Koalition Deutschland zu einem rücksichtslosen wie blinden Vorteilsnehmer gemacht hat. Wer den Charakter des Putin-Regimes durchschaut hatte und mehr Skepsis und Abschreckungsfähigkeiten anmahnte, der durfte sich ganze Salven aus Vorwürfen anhören: Bellizismus! Militarisierung der Gesellschaft! Kriegsgeheul! Säbelrasseln! Kanonenbootpolitik! – Der heutige Bundespräsident Steinmeier und damaliger Außenminister war ein Meister dieses Schimpfs gegen Russland-Kritiker.
Auch die schöne Autosuggestion, dass Deutschland nach der ersten Wahl Trumps zum US-Präsidenten nicht eigentlich ein unsicherer Kantonist, sondern nun das eigentliche Leuchtfeuer des freien Westens sei, konnte nicht ohne Wirkung bleiben. Dabei war damals schon die Verteidigungsfähigkeit bis zur Handlungsunfähigkeit geschrumpft, die Außenpolitik nur auf Bewahrung des Status quo fixiert – koste es andere, was es wolle –, und der Bau von Nordstream 2 als reines Wirtschaftsprojekt eine für jeden offensichtliche Lüge.
Seitdem ist Deutschlands innere Finnlandisierung, genannt „Friedenspolitik“, weit fortgeschritten. Nachdem, was man von AfD, BSW und Linke weiß, nimmt es nicht wunder, dass sie keine US-Mittelstreckenraketen in Deutschland wollen, obwohl diese die Verteidigungsfähigkeit gegenüber Russland erhöhen würden. Aber auch ein großer Teil der SPD will das nicht – womit es in Deutschland bald eine Mehrheit dafür gäbe, die Bedrohung aus Russland nicht zum Maßstab der Verteidigungsfähigkeit zu machen, sondern sich stattdessen an russischen Interessen und Forderungen zu orientieren.
Wie gesagt: Die innere Finnlandisierung Deutschlands ist weit fortgeschritten. Die äußere soll folgen. In dieses Bild passt auch, dass der Rüstungsbetrieb Rheinmetall in Sachsen zuletzt auf zwei Bauvorhaben verzichtete, nachdem Proteste aus der Bevölkerung vernehmbar wurden. In Brandenburg ist es durch das Bündnis der SPD mit dem BSW sogar Landespolitik geworden, die Notwendigkeit einer Stationierung von Raketenabwehrsystemen in einem brandenburgischen Bundeswehrstützpunkt in Zweifel zu ziehen. Damit wird auch der European Sky Shield infrage gestellt, mit dem u.a. weitreichende Raketen aus Russland abgefangen werden könnten.
Warum sollte uns deshalb noch die Meldung überraschen, dass zwar 56 Prozent der Deutschen den Einsatz einer internationalen Friedenstruppe in der Ukraine zur Sicherung eines möglichen Waffenstillstands befürworten, allerdings nur 23 Prozent eine Beteiligung deutscher Soldaten an einer solchen Truppe? Deutschland ist schon soweit finnlandisiert, dass es alles vermeiden will, was den Groll des Kreml-Herrschers auf sich ziehen könnte.
EIN FLY-OVER-COUNTRY MITTEN IN EUROPA
Das alles bleibt natürlich auch in der EU nicht unbemerkt. Als sich Vertreter europäischer Staaten vor einigen Wochen in Finnland trafen, um ein Zeichen gegen die von Russland instrumentalisierte Migration zu setzen und Gegenmaßnahmen zu erörtern, war Deutschland nicht dabei.
Als sich Donald Tusk und Emmanuel Macron Mitte Dezember in Warschau trafen, um das weitere Vorgehen in Sachen Ukraine, Sicherheit und Verteidigung zu besprechen, war Deutschland nicht vertreten. Stattdessen begrüßten Tusk und Macron einander so freundschaftlich vertrauend, als wollten sie selbstbewusst zeigen, dass das große Land zwischen ihren Staaten nur noch ein „Fly-over-Country“ ist.
Aber auch das alles kann uns nicht verwundern, wenn man sich vergegenwärtigt, wie Deutschland jahrzehntelang mit Osteuropa umgegangen ist. Polen, Tschechoslowakei, Ukraine, Ungarn – das waren Länder, die Deutschland als unabänderlich Gefangene der imperialen Sowjetunion verstand und über deren Köpfe hinweg man Politik mit Moskau machen konnte – selbst nach dem Ende der Sowjetunion: Die Länder Osteuropas blieben für Deutschland, als man nach dem Mauerfall von der Wiedervereinigung und der Öffnung weiterer Märkte profitierte, weiterhin zu oft „Fly-over-Countries“, die man als hinderlich bei den Gas-Geschäften erachtete und auf die man keine Rücksicht zu nehmen pflegte. Warum sollten diese Länder nun auf Deutschland setzen – diesen unsicheren Kantonisten in Europa-, Migrations- und Verteidigungsangelegenheiten?
In dieser Tradition der Rücksichtslosigkeit gegenüber osteuropäischen Nachbarn stehen vor allem AfD, BSW und Linke mit ihrer manifesten EU- und NATO-Feindlichkeit. Aber auch große Teile der SPD dürfen – wie gesagt – hier nicht vergessen werden. Wenn man die möglichen Wahlergebnisse der genannten Parteien addiert, hätte man schon in der kommenden Legislatur eine Sperrminorität, um eine verteidigungspolitisch notwendige Abschaffung der Schuldenbremse zu verhindern.
Deshalb ist die kommende Bundestagswahl tatsächlich eine Richtungswahl: Werden wir ein freies, wohlhabendes und nach Westen orientiertes Land bleiben oder nur ein Vasallenstaat eines repressiven, aggressiven und korrupten Russlands sein? Wir haben die Wahl.
Huhu, keiner sieht mich - Salonkolumnisten
2 Wochen ago[…] […]
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