Friedensengel aus der Hölle
Westeuropa wurde vor 80 Jahren mit Gewalt vom Nationalsozialismus befreit. Heute stellt sich immer mehr die Frage, wie Europa gegen den russischen Gewaltherrscher verteidigt werden kann. Woran liegt das? Der Versuch einer Antwort.
Seit geraumer Zeit muss ich immer wieder an eine Veranstaltung Anfang der achtziger Jahre denken. Es war ein Parteitag der SPD, ich war nur Zuschauer, und ich sah, wie eine große Gruppe von Mitgliedern und parteilosen Aktivisten die vom damaligen Kanzler Helmut Schmidt favorisierte NATO-Nachrüstung aus atomaren Mittelstreckenraketen heftig kritisierte – auch immer gerne mit dem Hinweis, dass man Pazifist sei. Es ist natürlich ehrenwert und konsequent, wenn man als Pazifist alles Militärische ablehnt, ebenso grundsätzlich Gewalt, und wenn man im Konfliktfall, dem man sich nicht entziehen kann oder mag, beispielsweise auf der Straße nach einem Schlag auch noch die andere Wange hinhält. Es ist eine individuelle Entscheidung, die man respektieren kann. Die Folgen sind zunächst auch individuell. Zunächst. Etwas Anderes ist es, wenn man diese Haltung und dieses Verhalten als allgemeinverbindlich fordert, als politisches Petitum, mit dem die ganze Gesellschaft, das Gemeinwesen, der Staat offensichtlichen Gewalttätern und Feinden entgegentreten soll: nämlich nachgebend. Das, was zunächst von Glauben oder Gewissen dem Individuum als Pflicht diktiert wird, soll nun für alle gelten: als Rezept für den ewigen Frieden.
Immer wieder, damals wie heute, werden zwei Beispiele angeführt, wenn man die Forderung zur Gewaltfreiheit und der Ablehnung von Militärdienst bei Kritik mithilfe besserer Argumente durchsetzen will: Mahatma Ghandi und die Amischen (Amish People). Nur konnte Ghandi mit seinem gewaltlosen Konzept aus Ungehorsam und Nichtzusammenarbeit deshalb reüssieren, weil das British Empire längst im Begriff war unterzugehen; und die protestantischen Amischen leben seit Jahrhunderten in den USA in abgeschiedenen ruralen Gemeinden mit wenig Kontakt zur Außenwelt. Man könnte als missionierender Pazifist auch die Zeugen Jehovas anführen, die wie die Amischen den Kriegsdienst konsequent verweigern, aber sie wurden in der Nazizeit genau wegen dieser tief im Glauben verankerten Unbedingtheit – keinesfalls eine Waffe in die Hand zu nehmen und sich eher töten zu lassen – zu Tausenden hingerichtet. Das ist natürlich eine Haltung, die ein säkularer Pazifist nicht gerne nutzt, um für sein Anliegen zu werben. Denn solch eine Konsequenz taugt nicht recht als Argument für die politische Friedenssache, weil sie zu viel fordert. Denn man will zwar nicht töten, aber auch nicht selbst getötet werden oder zuschauen, wie anderen Menschen Leid zugefügt wird. Wie soll das aber gehen?
In der Zeit bis 1983, als der Wehrdienst in Deutschland noch existierte (er wurde erst 2011 ausgesetzt), zeigte die Bundesrepublik für diesen Gewissenskonflikt viel Verständnis, der allerdings schriftlich und in umfassenden Anhörungen geprüft wurde. Der deutsche Staat erwartete nicht, dass man Pazifist im Sinne eines unabweisbaren religiös grundierten „Du sollst nicht töten!“ und „Liebe Deine Feinde!“ ist. Es genügte schon die innere Zerrissenheit nachvollziehbar zu begründen und zu belegen, dass das Individuum bei einem Zwang zum Kriegsdienst wider seinen Überzeugungen Schaden nehmen könnte. Auch das war eine Lehre aus dem Nationalsozialismus, denn der hatte keinerlei individuellen Gewissenskonflikt akzeptiert, sondern totalen Gehorsam selbst bei bestialischsten Taten verlangt.
IDEOLOGISCHER PAZIFISMUS
Bei geburtenstarken Jahrgängen stellte die Kriegsdienstverweigerung kein Problem für die Kampfstärke der Bundeswehr dar, die – man stelle sich das heute vor – bis zum Ende des Kalten Krieges eine Soll-Stärke von fast einer halben Million hatte; die Nationale Volksarmee der DDR lag bei rund 160.000 Soldaten. Heute bekommt die gesamtdeutsche Bundeswehr nicht einmal die aktuell geplanten 200.000 zusammen. Deshalb und wegen der realen Bedrohung durch Russland wird nun seit einiger Zeit auch über eine Wiedereinführung des Wehrdienstes nachgedacht. Das ruft natürlich alte und neue Antagonisten auf den Plan, die in den Medien ihren ideologischen Pazifismus ausbreiten, denn auf einen Gewissenskonflikt können sie sich kaum berufen. Gewissensfragen sind schlichtweg aus der Mode gekommen, ja, das Wort Gewissen überhaupt ist kaum noch in Gebrauch. Es wurde ersetzt durch einen Moral-Begriff, der dich zum besseren Menschen macht und Zweifel ob der Richtigkeit und Wirkmächtigkeit des Tuns außen vorlässt!
Dazu gehört auch das eigenartige Verhalten, dass viele Kämpfer für den Pazifismus schon Anfang der achtziger Jahre an den Tag legten: Sie kämpften gegen die NATO-Nachrüstung aus Pershing 2 und Cruise Missiles, hatten aber kein Problem mit den SS 20, die hinter dem damals noch stabilen Eisernen Vorhang von der Sowjetunion in Richtung Westeuropa stationiert worden waren. Zu dieser nur scheinbar dissonanten Denkart gehörte damals auch, dass auf sozialdemokratischen und grünen Parteitagen von den gleichen Leuten für die linke Guerilla in El Salvador Geld gesammelt wurde, die davon sicher nicht nur Verpflegung, Medikamente und Tarnuniformen angeschafft haben. Der Pazifismus in Deutschland – aber nicht nur in Deutschland – hatte schon immer diese ideologische Schlagseite, die den einen erlaubte, was den anderen nicht zugebilligt wurde. Man kann auch als Pazifist auf einem Auge blind sein.
Und so wundert es auch nicht, wenn diese Friedensengel aus der Hölle heute sehr viel Verständnis für Putins Krieg, seine Lügen, sein Foltern und Morden aufbringen. Sie drücken einfach die Gewaltfrage – Wer hat wem was angetan? – weg wie ein störendes Fernsehprogramm. Manche erklären diese Haltung mit der Prägung durch eine Art Traditionspflege in deutsch-russischer Freundschaft oder mit der für das atomstrotzende Russland bedrohlichen NATO oder mit einer korrupten Ukraine, die für das friedens- und freiheitsliebende Russland eine Gefahr darstelle und vom Faschismus befreit werden müsse. Aber letztlich ist es doch wohl eher so, dass man auch in Deutschland in nicht unerheblichem Umfang Sympathien für das Handeln eines Autokraten wie Putin und seine hohlen ideologischen Versatzstücke aus Militär, Religion, Familie und Vaterland aufbringt. Irgendwoher müssen die Wähler gewisser Parteien ja herkommen: Die AfD macht gar keinen Hehl daraus, wie nah sie politisch bei Putin steht. Die Linke will sich mittlerweile davon absetzen. Sie behauptet auch nicht mehr, pazifistisch zu sein, man sei aber für Abrüstung. Auch mit dieser Haltung kann Putin gewiss gut leben.
DER ANFANG VON ALLEM
Wenn man die Milieus, Wähler und Anhängerschaften der beiden genannten Parteien addiert, dann versteht man, warum dieser strukturelle Pazifismus in Deutschland so stark ist und sich hinter einem „Nie wieder Krieg“ als Alleinstellungsmerkmal und Argumentationsentlastung versteckt. Aber das allein kann die Stärke des strukturellen Pazifismus nicht erklären. Es sind zwei weitere Gruppen, die, indem sie konstant auf Distanz zu Staat und Gemeinwesen leben, den Pazifismus in Deutschland zu einer Gefahr für das Land machen.
Da ist zunächst jener libertäre Individualismus, für den das Land nichts weiter ist als ein Industriegebiet mit Autobahnen und ein paar Sternerestaurants, die man im Zweifelsfall auch schnell hinter sich lassen kann, denn familiäre oder kulturelle Bindungen braucht man als Ego Power Blower nicht. Sie lehnen jede Pflicht gegenüber dem Staat ab, weil er ihnen zu viel fordert – zum Beispiel hohe Steuern –; außerdem perhorreszieren sie jede Art von Dienst, möge er Friedens-, Freiheits-, Zivil- oder Wehrdienst heißen. Es sind alles eingebildete Insulaner, die von Zeit zu Zeit mit Entsetzen feststellen, dass ihre glückliche Robinsonade von den Sorgen und Ängsten einfacher Menschen tangiert wird.
Und dann sind da noch als weitere ideologische Stütze des strukturellen Pazifismus jene Identitäre, die nur noch die eigene Community als Bezugsrahmen akzeptieren. Alles darüber hinaus ist zu toxisch, zu unrein, zu ungerecht. Auch hier steht der Staat unter Vorbehalt, aber nicht, weil er zu viel fordert, sondern weil er zu wenig liefert von dem, was auf der jeweiligen Wunschliste steht. Ist dieser Staat also nur dann verteidigenswert, wenn er ein bedingungsloses Grundeinkommen, Veganismus, offene Grenzen und Tempo 100 schafft? Reicht das dann oder müssen weitere Leistungen von der Allgemeinheit erbracht werden? Und warum genügen nicht Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, also die Grundlagen, die uns ein selbstbestimmtes, freiheitliches und sicheres Leben ermöglichen?
Die Antwort liegt auch sprichwörtlich in dem lange gepflegten deutschen Nationalpazifismus begraben, der als die schamvolle Konsequenz daraus gepflegt wird, dass Deutschland sich nicht selbst befreit hat von der Nazipest und so kein heroischer, republikanischer Gründungsmythos existiert, in dem die Idee der Freiheit, die es zu beschützen gilt, wie eine Fackel von Generation zu Generation getragen wird. „Aber alle diese Erklärungen können nicht vollständig befriedigen. Jeder Staat braucht physische Gewaltmittel zur Anwendung – und das heißt vor allem: zur Einhegung der bedrohlichen Gewalt von innen wie außen. Eigentlich eine Binsenweisheit. Warum muss man sie dann immer wiederholen? Und wieso hat sie so wenig Widerhall? Weil jahrzehntelang das Gegenteil behauptet wurde. Es galt lange unhinterfragt: ‚Wir sind nur noch von Freunden umgeben.’ Und darum brauchen wir immer weniger Polizei, immer weniger Militär. Der Frieden ist da, ohne dass eine Kugel abgefeuert werden musste und jemals wieder abgefeuert werden muss. Wer das anders sieht, der ist ein Kriegstreiber, ein Säbelrassler, ein Ewiggestriger“ (siehe hier).
Der Glaube an den hohen Wert von Demokratie, Freiheit, Rechtsstaat, den man auf die eine oder andere Art und Weise als Lebensform verteidigen würde: militärisch, zivil, diskursiv – er ist in einem strukturellen deutschen Pazifismus nur noch residual vorhanden.
Dieser Verlust geht auch über das hinaus, was Herfried Münkler schon vor Jahrzehnten als „Postheroismus“ diagnostiziert hat: dass westliche Gesellschaften wegen des demographischen Wandels nicht willens sind, hohe militärische Verluste in Kauf zu nehmen bzw. durch eine hohe individuelle Opferbereitschaft zu kompensieren. Tatsächlich wurde die deutsche Gesellschaft in der Zeit nach 1990 trotz Post-Jugoslawien-Kriege oder Afghanistan-Einsatz letztlich praktisch nie vor die Wahl gestellt. Das ändert sich gerade durch ein aggressives, imperiales Russland, das die europäischen Länder heute und in den kommenden Jahren auf die Probe stellen wird.
Die Verteidigungsschwäche der europäischen Länder im Allgemeinen und Deutschlands im Besonderen liegt aber noch tiefer und geht über den Postheroismus hinaus: Die soziale, politische und kulturelle Bindungskraft geht immer mehr verloren, wenn die Menschen keine Phantasie, keinen Traum, keinen Glauben an eine gemeinsame Nation entwickeln, die nicht nur auf Verfassung und Institutionen, sondern auch auf einem Heer aus Citoyens beruht, das das Land nach innen wie außen und egal auf welche Art verteidigen will. Die tiefe innere Überzeugung, dieses Gemeinwesen, dieses Land, diese Republik für verteidigenswert zu halten, ist der Anfang von allem.