Goodbye, Amnesty!
Amnesty International war mal eine glaubwürdige und wichtige Institution der politischen Öffentlichkeit. Jetzt hat sie sich selbst gerichtet und dem allgemeinen Populismus Vorschub geleistet.
Als vor kurzem Amnesty International ein aggressives, antiisraelisches Kampagnenvideo veröffentlichte, musste ich mich an ein Interview aus dem Jahre 1987 erinnern, in dem Hans Magnus Enzensberger das Ende des öffentlichen Intellektuellen beschrieb, besser: ausrief. Es habe eine Vergesellschaftung solcher Rollen gegeben, stellte er fest. Und dann sagte er: „Wir haben Heinrich Böll verloren. Aber dafür haben wir Amnesty und Greenpeace.“
Um den Sprung von Böll zu Amnesty und die damit zusammenhängende Veränderung verstehen zu können, muss heute, über vier Jahrzehnte später, die besondere Bedeutung des Schriftstellers und Nobelpreisträgers Böll kurz an einem Beispiel erläutert werden.
EINE GEGEN-AUTORITÄT
Böll war in der Bundesrepublik über die Jahrzehnte nach dem Krieg eine Gegen-Autorität zu den verschiedenen Regierungen und so selbst zu einer Autorität in der an Bürgerinitiativen und Nichtregierungsorganisationen noch armen Zivilgesellschaft geworden. Als Schriftsteller hatte er Romane, Novellen, Kurzgeschichten, Hörspiele, Gedichte, Vorworte, Reden, Interviews und Kritiken veröffentlicht. Aber zum Inbegriff eines öffentlichen Intellektuellen wurde er durch seine unbändige Lust, sich zu allen möglichen Themen zu äußern: Steuer, Rente, Frieden, Freiheit, Kultur oder Katholizismus – er hatte zu allem etwas zu sagen, und er scheute sich nicht, dies auch zu tun. Auch auf die Gefahr hin, vielen mächtig auf die Nerven zu gehen.
Das war auch 1981 der Fall. Am 13. Dezember dieses Jahres wurde in Polen das Kriegsrecht verhängt. Ein Militärrat übernahm die Regierung und untersagte der Gewerkschaft Solidarnosc jedwede Aktivität. Gewerkschafter und Dissidenten wurden verhaftet. Die Bundesregierung unter Kanzler Helmut Schmidt hielt sich mit Kritik zurück, um die guten Beziehungen zur Sowjetunion nicht zu belasten. Aus Verärgerung über eben diese Zurückhaltung berief Heinrich Böll neun Tage später mit dem russischen Literaturwissenschaftler Efim Etkind und dem polnischen Historiker Juliusz Stroynowski (beide lebten in Westdeutschland) eine Pressekonferenz ein, um, in der Sache deutlich und im Ton gemäßigt, auf die Zustände in Polen aufmerksam zu machen und – sehr zum Verdruss von Schmidt – die Bundesregierung wegen ihrer Haltung zu kritisieren. Weil sich die Bundesregierung weiterhin weigerte, den Militärputsch in Polen zu thematisieren und sich für die Gewerkschafter einzusetzen, schrieb Böll kurze Zeit später mit seinen Schriftstellerkollegen Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt und Elias Canetti – alles Autoren von Weltrang – ein Telegramm an den polnischen General Jaruzelski, um sich nach dem Verbleib und dem Gesundheitszustand der Inhaftierten zu informieren. „Es geht nicht nur um Polen“, sagte Böll, „es geht um die Freiheit und Würde des Menschen.“ Und das war für ihn stets die größte Motivation, um sich für Dissidenten einzusetzen – auch jenseits des Eisernen Vorhangs und im Widerspruch zur bundesdeutschen Regierung.
Man muss sich das noch einmal vorstellen: Es gab mal eine Zeit, in der ein Schriftsteller, ein Universalintellektueller, dessen Reputation auf seinem literarischen Ruhm, seiner Lebenserfahrung und seinem Charakter beruhte, zu einer Pressekonferenz einladen konnte – und alle wichtigen Medien kamen. Wer mag, kann ja einmal die Namen von Künstlern durchgehen, die auf diese Weise eine solche Wirkung heute noch erzielen könnten. Aber machen Sie sich keine Mühe, Sie werden keinen Namen finden. Das hängt mit dem Strukturwandel der Öffentlichkeit zu tun, den Enzensberger zwei Jahre nach Bölls Tod zurecht konstatierte.
BLUBBERNDE ZORNBIOTOPE
Die politische Öffentlichkeit war damals schon eine andere als in der Nachkriegszeit, die Zahl der Bürgerinitiativen und Nichtregierungsorganisationen, die sich in Allgemeindingen einmischte, hatte seit den siebziger Jahren stark zugenommen, Expertentum die Lebenserfahrung ersetzt, schließlich hatten die Großintellektuellen das Zepter der Kritik an internationale Institutionen weitergereicht, global agierende „Zornbanken“, wie Peter Sloterdijk sie nannte. Doch deren Rang verblasste spätestens mit dem Aufkommen der digitalen Medien, die den Zorn sozialisierten, diversifizierten und bewirtschafteten. Während die Universalintellektuellen alten Schlags noch Korrektive sein wollten und konnten, sind die Plattformen wie TikTok, X, Facebook blubbernde Zornbiotope, in dem der Populus vielstimmig seinem Populismus frönen und von Populisten für die eigene Politik geerntet werden kann. Mit den sogenannten „sozialen Medien“ begann auch der Aufstieg der „Aktivisten“, einer etwas anderen Gestalt als die „Protestierer“ in den sechziger und siebziger Jahren. Der Aktivist versammelt sich hinter Hashtags und kann sich vorstellen, seinen Aktivismus für die gute Sache auf Dauer zu stellen. Alles Tun ist für ihn Kampagne, finanziert von schwerreichen philanthropischen Erben; oder er drängt gleich im Verbund mit anderen als NGO an die Fleischtöpfe des Staates, obwohl das eine freiwillige Korrumpierung als Vorfeldorganisation bestimmter Parteien bedeuten würde. Das ist dem Aktivismus schnuppe und dem Aktivisten sein zeitgenössischer Marsch durch die Institutionen als eigene – meist wirkungslose – Institution, in dem ihm keiner reinreden darf.
Die Heerscharen von Aktivisten (und die Influencer) haben dem öffentlichen Intellektuellen weitgehend den Garaus gemacht. Der Intellektuelle, eine verhärmte Gestalt, die Angst hat, den neuesten Trend zu verpassen, ist meist nur noch ein Mitläufer und reiht sich ein in die Aktivistenbataillone, die sich quasi identitätspolitisch formieren. Jeden Individualismus, jeden Nonkonformismus hat er abgelegt wie einen alten Anzug. Er vertraut noch dem Mittel des Offenen Briefs; im Ergebnis sind das in ihrer grobgeschnitzten ideologischen Einfachheit allerdings nur Vehikel, die die allgemeine Kultur des Populismus befördern. Das intellektuelle, differenzierte Gespräch gibt es noch mit Experten – und das ist nicht das schlechteste. Aber sie beißen bei jeder Gelegenheit Intellektuelle, die, selbst wenn sie ihr Urteil gut begründen können, jedoch nicht aus ihrer Fachrichtung kommen, als „inkompetent“ weg. So gibt es kaum mehr öffentliche Intellektuelle, jedenfalls keine mit größerer Wirkung, sondern nur noch Pressure Groups, Dampfplauderer und Spezialisten. So ist es halt, nostalgische Gefühle verbieten sich. Aber der Schaden muss betrachtet werden.
IDEOLOGISCHES KAMPAGNENTUM
Wenn es etwas gab, das alte öffentliche Intellektuelle wie Böll und Organisationen wie Amnesty verband, dann war das ihre Integrität. Daher rührte ihre Autorität. Deshalb hörte man ihnen auch zu, wenn sie etwas zu sagen hatten.
Im Strukturwandel der Öffentlichkeit der vergangenen vierzig Jahre ist die Bedeutung von Integrität hinweggefegt worden durch einen immer breiteren Wettbewerb des Aktivismus und seine inhärente ideologische Kampagnenwirtschaft. Die Kampagne kennt keine Zwischentöne, sie ist das Werkzeug, das seinen Inhalt schafft: die ideologische Überwältigung, bar jeder Aufrichtigkeit, Differenziertheit, Plausibilität. Die Dynamik der Kampagne entwickelt einen Sog, der das abwägende Gespräch in die publizistische Dachkammer verfrachtet. Die Kampagne ist das gängige Mittel des Kollektivs, der kritischen Masse, die zweihundertprozentig weiß, was getan werden muss. Sie ist das laute Organ des zivilgesellschaftlichen Lobbyismus. Das ist verständlich. Aber das hat eben auch die politische Kultur zu ihrem Nachteil verändert, ebenso die Dinosaurier des Protests: Amnesty, Greenpeace und Co. Dafür steht exemplarisch das anfangs erwähnte Video von Amnesty. Die Organisation war früher mal parteiisch für die Freiheit, eine glaubwürdige Institution der Zivilgesellschaft und der politischen Öffentlichkeit. Jetzt inszeniert sie sich selbst bildmächtig als Mob der Gerechtigkeit, betreibt Geschichtsklitterung, befördert den Hass auf den Staat Israel und spielt den Terroristen von Hamas und Hisbollah in die Hände. Der Vertrauensverlust, der damit einhergeht, ist immens. Aber so sehen Organisationen aus, die geführt werden von Kampagneros, Betriebswirten und selbstgerechten und -gefälligen Lebenszeitaktivisten. Jetzt werden sie durch ihren Mangel an Glaubwürdigkeit moralisch fragwürdig und letztlich politisch sklerotisch.
Timothy Snyder begründete seinen Rat, sich eine Institutionen zu suchen, für die man sich einsetzen will, damit, dass Institutionen uns helfen, den Anstand zu wahren. Was aber ist, wenn Institutionen jeden Anstand fahren lassen und sich somit selbst beschädigen und bei der Zersetzung der Öffentlichkeit mitwirken? Die Antwort ist unerfreulich und Besserung leider nicht in Sicht.