Deutschlands Grüne stehen unvermittelt vor einer Zerreißprobe, denn es bahnt sich ein Generationswechsel an. Die Parteiführung hat jetzt die einmalige Chance, zu zeigen, dass sie es mit dem Kernthema der Grünen Partei, dem Schutz der Umwelt, ernst meint und dafür auch bereit ist, auf überkommene Ideologien zu verzichten.

Seit Jahren sehen die Grünen sich als Triebkraft des „ökologischen Umbaus“ der Gesellschaft. Historisch besteht ihr Verdienst darin, das Thema Umweltschutz in die Politik getragen zu haben. Vor allem seit die Partei sich beim Thema Klima auf den wissenschaftlichen Konsens beruft, dass nämlich die Menschheit zu viel CO2 und andere Gase in die Atmosphäre einträgt und damit einen Treibhauseffekt erzeugt, sind ihr viele Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler zugeströmt, darunter viele junge Menschen, die die Behauptung der Partei ernst nehmen, sie sei die einzige, die auf die Wissenschaft höre.

Nun sind die Grünen seit langem allerdings auch die Partei der „so ne Wissenschaft und so ne Wissenschaft“, wie Claudia Roth es in ihrer für viele Altgrüne typischen Mischung aus Verbohrtheit und Arroganz zum besten gibt. Zur Wissenschaft zählen für viele Grüne auch Homöopathie, die magischen Praktiken der „biodynamischen“ Landwirtschaft und die vielen Außenseiter, die behaupten, Impfen verursache Autismus oder doch zumindest Entwicklungsverzögerungen beim Kind, „Fremdgene“ im Mais führten zu Krebs, man könne Wasser „feinstofflich-energetisch beleben“ und die „Natur“ könne zwischen „natürlichen“ und „chemisch-synthetischen“ Stoffen unterscheiden. Die Beispiele für derlei Alternativ-„Wissenschaft“ sind Legion.

Das geht nun nicht mehr zusammen – Wissenschaft, das müssen viele Altgrüne jetzt schmerzhaft lernen, ist kein Wunschkonzert und es gibt keine alternativen Fakten. Es passt nicht, in Sachen Klima eine Orientierung an der Wissenschaft einzufordern, eine solche Orientierung auf anderen Gebieten jedoch abzulehnen oder sich, wie die AfD in Sachen Klimaforschung, auf Außenseiter zu berufen und alle anderen als bezahlte Lobbyisten zu diffamieren.

Homöopathie

Beim Thema Homöopathie – es ging um die Frage, ob homöopathische Behandlungsmethoden weiter durch die gesetzlichen Krankenkassen erstattet werden und weiterhin Zulassungsbedingungen nach dem Binnenkonsens gelten sollen – hat die Parteiführung es im letzten Jahr noch geschafft, das heiße Eisen erkalten zu lassen – wie man das eben so macht: erst aussitzen, dann wortreich eine intensive Debatte ankündigen, das Ganze sodann in eine Kommission vertagen und die schließlich sang- und klanglos einstellen. Das mag den Altgrünen als Erfolg erscheinen, denn die Homöopathie-Anhänger wurden nicht brüskiert, aber in Wahrheit hat die Partei eine erste wichtige Chance vertan, sich als echte Reformpartei zu positionieren. Sie hätte die Gelegenheit nutzen können, der Frage nachzugehen, warum die Homöopathie, die nicht über den Plazeboeffekt hinaus wirkt (auch dies ein überwältigender Konsens in der Wissenschaft), dennoch so beliebt ist. Davon ausgehend hätte sie darüber debattieren können, was sich daraus für eine Reform von Medizin und Gesundheitswesen lernen lässt: mehr zuhörende und sprechende Medizin etwa und ein Gesundheitswesen, das die psychischen Komponenten von Krankheiten, zumal chronischen, ernster nimmt.

Grüne Gentechnik

Der nächste Konflikt: grüne Gentechnik. Das grüne Dogma steht seit Jahrzehnten fest. Gentechnik in der Landwirtschaft gilt in altgrünen Kreisen als gefährlich, überflüssig und der falsche Weg. Die Argumente sind die gleichen, die die Partei vor zwanzig Jahren auch gegen Gentechnik in der Medizin vorgebracht hat; sie sind hohl und vielfach widerlegt, aber jeder Einwand wurde bislang von den Altgrünen mit dem Lobbyismus-Vorwurf abgebügelt. Das geht nicht mehr, seit innerhalb der Partei mehr und mehr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler darauf pochen, wie in der Klimaforschung den wissenschaftlichen Konsens ernst zu nehmen. Und der lautet nun einmal: Pflanzen, bei deren Zucht Gentechnik im Spiel ist – zumal die neue, wesentlich präzisere Technik des Genome Editing – sind weder für Mensch noch Umwelt gefährlich, bieten aber viele Vorteile, denn sie ermöglichen eine klimaschonende Landwirtschaft, weniger Einsatz von Pflanzenschutzmitteln und Dünger und führen zu gesünderen Produkten und weniger Ernteverlusten. Auch die gezielte Bekämpfung von invasiven Arten und Epidemien, die derzeit in Afrika und Asien Verheerungen in der Landwirtschaft anrichten, könnte mittels Gentechnik einfacher werden, denn der Biolandbau hat diesen Katastrophen nichts entgegenzusetzen. Dabei böte gerade das Genome Editing sogar die Chance, Gentechnik zu „demokratisieren“, denn die Technik ist so einfach und preiswert, dass sie eben nicht nur von Großkonzernen, sondern auch in kleinen und mittelständischen Unternehmen und sogar akademischen und staatlichen Forschungseinrichtungen in Afrika und Asien angewandt werden kann, und zwar um rasch lokale und für den Weltmarkt unbedeutende Sorten an klimatische Veränderungen anpassen und sie vor neuen Krankheiten und Schädlingen zu schützen.

Das Plädoyer von immer mehr Expertinnen und Experten auch aus dem Biolandbau lautet denn auch: Weg mit dem kategorischen Nein zur Gentechnik und den Unvereinbarkeitsbeschlüssen – wir brauchen grüne Gentechnik angesichts der drohenden Veränderungen des Klimas dringend und wir sollten sie auch für den Biolandbau nutzen. Beispiele gibt es hierhierhier und hier.

Die Reaktion der alten Generation: Papiere, die wie eine Enzyklika klingen und ein ums andere Mal mit Allgemeinplätzen, Spitzfindigkeit, Unterstellungen und wissenschaftlich unhaltbaren Thesen versuchen, die Bündnispartner in der „Zivilgesellschaft“, vulgo Greenpeace & Co., zu beruhigen und die Abweichler als Minderheit darzustellen, die sich aus Unkenntnis oder Verblendung zum Büttel der bösen globalen Agrarindustrie macht. Die Kernaussage lautet in etwa: Unser Nein zur Gentechnik steht so fest wie das Nein zur Abschaffung des Zölibats in der katholischen Kirche. Es ist zentraler Bestandteil unseres Glaubens und unserer Lehre und wird sich niemals ändern. Keine neue Erkenntnis wird uns je davon abbringen.

Parteiintern wird geholzt: gesteuerte Kampagnen gegen die Abweichler, Intrigen, Verleumdungen und Versuche, die Abtrünnigen von Listen und Posten zu entfernen. In Baden-Württemberg kam es zu einem Eklat: Die grüne Forschungsministerin Theresia Bauer, eine Mitinitiatorin des als ketzerisch angesehenen Pro-Gentechnik-Aufrufswurde von der grünen Landtagsfraktion gezwungen, eine Ausschreibung für ein Forschungsprojekt von der Homepage des Ministeriums zu entfernen. Das Vergehen der Ministerin: Ihr Ministerium wollte fünf Millionen Euro für ein Förderprogramm für interdisziplinäre Forschungsprojekte zum Genome Editing bereitstellen, um an Hochschulen fachübergreifend gesundheitliche, ökologische, soziale und wirtschaftliche Aspekte der Nutzung zu untersuchen. Bis Ende November 2020 könne das Geld beantragt werden, hieß es, ausdrücklich auch für „Freisetzungsversuche“. Besonders in Rage brachte zahlreiche grüne Abgeordnete die Formulierung, dass sich die Fachwelt weitgehend einig sei, dass Gentechnik die Landwirtschaft „produktiver, weniger pestizidintensiv und auch klimaangepasster“ machen könne.*

Von wissenschaftlichem Konsens möchten altgediente Grüne auch in diesem Zusammenhang nichts hören. Insider sprechen davon, es krache „gewaltig“ in der baden-württembergischen Grünen-Fraktion und es sei „ein Zustand erreicht, der besorgniserregend ist“.

Atomausstieg

Das nächste Feld ist die Energiewende, genauer gesagt, der Atomausstieg. Angesichts der ungelösten Speicher-Probleme der Energiewende, des schleppenden Kohleausstiegs und der noch immer ungebremst steigenden CO2-Emissionen besinnen sich immer mehr Klimaschützer auf die Kernenergie, in Großbritannien etwa die Umweltaktivistin Zion Lights, die bis vor kurzem Sprecherin und Gesicht der „Extinction Rebellion“-Bewegung war. Sie spricht sich für die Nutzung der Kernenergie aus, um den CO2-Ausstoß schneller begrenzen bzw. reduzieren zu können.

In Deutschland sind es Anna Veronika Wendland und Rainer Moormann, die sich beide seit Jahren beruflich mit der Kernenergie beschäftigen und beide lange Jahre engagierte Atomkraftgegner waren. Wendland, die allerdings schon länger und als Salonkolumnistin auch auf diesen Seiten für die Nutzung von Kernkraft plädiert und Moormann, bis vor kurzem als strikter Kernkraftgegner bekannt, lieferten sich auf Twitter einen wochenlangen Streit, in dem sich beide Seiten wenig schenkten, der aber in der Genauigkeit und Unterfütterung der jeweiligen Argumentation einzigartig war.

Er gipfelte nun in der „Zeit“ in dem gemeinsamen Aufruf „Stoppt den Atomausstieg!“. Ein sehenswertes Interview der beiden ist hier zu sehen und ihr gemeinsames Gutachten hier nachzulesen. Ihre übereinstimmende Begründung:

Im Grunde hat Deutschland es mit einem Doppelnotstand zu tun. Wir kämpfen mit dem Klimanotstand, doch es droht zugleich ein Versorgungsnotstand unserer Industrielandschaft, der schlicht der Saft ausgehen könnte – jedenfalls wenn dieser nahezu CO₂-neutral erzeugt werden soll.

Der Atomausstieg muss deshalb gestoppt werden, und die verbliebenen Kernkraftwerke sollten noch etwa zehn Jahre weiterlaufen dürfen. Das ist sowohl sicherheitstechnisch als auch mit Blick auf das geringe zusätzliche Atommüllvolumen verantwortbar. Notfalls muss dies in Staatsregie geschehen, da die Betreiberkonzerne dazu nach dem jahrelangen Hin und Her um die Laufzeitverlängerung nicht mehr bereit sein dürften. 

Die ZEIT 30/2020, 16.7.2020

Die beiden wissen aus zahlreichen Gesprächen, dass viele Wissenschaftler und Politiker, auch aus grünen Kreisen, das ähnlich sehen. Noch ist die Debatte bei den Grünen nicht offen ausgebrochen, aber es ist absehbar, dass die wissenschaftsorientierten und an raschem Klimaschutz orientierten jüngeren grünen Mitglieder, denen die Anti-AKW-Kriegserinnerungen der grünen Altvorderen fremd vorkommen, auch diese Frage auf die Tagesordnung setzen werden.

Alle drei Punkte – Homöopathie, grüne Gentechnik und Atomausstieg – bieten der grünen Partei eine historisch einmalige Gelegenheit, sich als unerschrockene Modernisierer zu zeigen, denen es wirklich Ernst ist mit konstruktiven Lösungen zur Bewältigung der anstehenden Krisen. Dazu müsste sie allerdings bereit sein, sich mit dem Stand der Wissenschaft auseinanderzusetzen und dann kritisch-konstruktiv und ergebnisoffen zu diskutieren, um zu politischen Vorschlägen zu kommen (die die Wissenschaft selbst weder liefern kann noch soll).

Bislang hört man dazu von der Parteiführung nichts. Der in den Medien hochgelobte und als überaus dialogbereit, nachdenklich, belesen und intellektuell gepriesene Parteivorsitzende Robert Habeck geht stattdessen medienwirksam spazieren und legt sich auf eine Wiese, um sich von Pferden beschnuppern zu lassen und von „Magie“ und „Natur“ zu raunen. Seiner Kollegin Annalena Baerbock gehen die Worte „Mut“, „führen“ und „gestalten“ locker über die Lippen, aber sie ist nach der Präsentation des neuen und wenig konkreten Grundsatzprogramms der Partei auf Tauchstation gegangen. Zu den drei Themen haben beide seit Monaten nichts verlauten lassen.

So sieht es ganz danach aus, dass die Partei die Chance verpasst und sich einzelne Flügel stattdessen zermürbende Grabenkämpfe liefern. Dabei stehen den Grünen ohnehin schwere Zeiten bevor: SPD und CDU/CSU haben längst viele grüne Kernthemen kopiert und selbst die AfD besetzt zunehmend grüne Themen und gibt sich vor allem in Ostdeutschland rechtsesoterisch-biodynamisch. Sich von grün klingenden Gemeinplätzen und bloßen „Nein, danke“-Slogans abzusetzen, sich nüchtern den Fakten zu stellen und Lösungen jenseits überkommener Ideologien und Glaubenssätze zu präsentieren, wäre ein Alleinstellungsmerkmal.

Doch noch überwiegt die Ideologie, die die Debatten bislang derart vergiftet hat, dass eine Verständigung kaum möglich erscheint. Wie es gehen könnte, zeigt die Debatte zwischen Wendland und Moormann. Rainer Moormann fasst den Ansatz am Ende des gemeinsamen Interviews auf dem Youtube-Kanal des Umweltschützers und Ex-Atomkraftgegners Simeon Preuß zusammen. Er sagt, es wäre gut, „wenn man sich so an einem breiten Konsens auch der internationalen Wissenschaft orientiert würde in dieser Frage und es ähnlich machen würde wie bei Corona, d.h. weg von Ideologien und hin zu einer wissenschaftsbasierten Entscheidung.“ Genau darum geht es: Komplexe Probleme löst man wissensbasiert, nicht ideologisch. Mit Ideologie wurden Probleme noch nie gelöst, sondern sie wurden im Gegenteil potenziert. Jetzt liegt es an der Parteiführung, zu entscheiden. 

*Nachtrag 22.7.20: In einem beispiellosen Schritt hat der grüne baden-württembergische Ministerpräsident Kretschmann interveniert und das geplante Forschungsprogramm untersagt. Die diplomatische Formulierung lautet, er habe mit der Ministerin „besprochen“, das Programm „auf Eis zu legen“.