Warum geht es im deutschen Wahlkampf nie darum, dass ein großer europäischer Krieg ins Haus steht?

In Europa tobt der größte Landkrieg seit 1945, der Aggressor verwüstet ganze Landstriche und bombardiert pausenlos Großstädte, Frauen werden massenhaft vergewaltigt, Kinder verschleppt, Zivilisten in Lager gepfercht und in Gruben hinuntergeschossen. Der Diktator, der für all dies verantwortlich ist, lässt keinen Zweifel daran, dass seine Eroberungshunger noch nicht gestillt ist und er schon morgen weitere Länder angreifen wird. In den Vereinigten Staaten ist soeben ein Präsident an die Macht gekommen, dessen erste politische Lebensäußerung eine von ihm bezahlte Zeitungsanzeige war, in der forderte, die Vereinigten Staaten sollten sich sofort aus der NATO zurückziehen. (Das Jahr war 1987, an der Mauer wurden noch Menschen erschossen.) Der neue amerikanische Vizepräsident zeigt sich offen feindselig gegenüber der Ukraine, überhaupt gehören Hass und Verachtung gegenüber Wolodymyr Selenskyi zu den Kernmerkmalen des Trumpismus. Der nächste Chef des Pentagon, Peter Hegseth, hält das westliche Verteidigungsbündnis für so überflüssig wie einen Kropf. Die Frau, die Amerikas nächste Geheimdienstchefin werden soll, Tulsi Gabbard, himmelt den russischen Diktator an. Sie hat außerdem Sympathien für die BDS-Bewegung, die Israel das Existenzrecht bestreitet. 

Der amerikanische Präsident könnte am nächsten Dienstagmorgen mit einer simplen Nachricht auf Truth Social den atomaren Schutzschirm über Europa zuklappen: “Die Vereinigten Staaten fühlen sich nicht mehr an Artikel fünf des NATO-Vertrages gebunden.” Schluss und Ende! In Artikel fünf steht bekanntlich, dass die NATO-Staaten im Falle eines Ernstfalles füreinander einstehen werden; dass ein Angriff auf ein NATO-Land als Angriff auf die gesamte NATO gewertet wird.

Nichts von alldem ist geheim; und ginge es auf der Welt vernünftig zu, müsste dies das bestimmende Thema im diesjährigen deutschen Bundestagswahlkampf sein. Bundeskanzler Scholz stünde in der Kritik, weil auf seine große Rede von der “Zeitenwende” nichts gefolgt ist. Die Opposition würde verlangen, die Verteidigungsausgaben auf zehn Prozent oder mehr zu erhöhen, kluge Köpfe dächten darüber nach, ob die Europäer sich nicht eine gemeinsame Atombombe zulegen sollten, junge Leute im wehrfähigen Alter würden sich zu Tausenden zum Wehrdienst verpflichten, um die Demokratie vor dem russischen Faschismus zu schützen. Statt dessen geht es im deutschen Wahlkampf um … Flüchtlinge?

Gewiss doch, Messerattacken sind grauenhaft; und in den vergangenen Jahren sind viele Menschen, nicht nur gute Menschen, nach Deutschland geströmt. Aber ist den Deutschen nicht klar, dass noch einmal Millionen – viele Millionen – flüchten werden, wenn die Ukraine zusammenbricht? Dass die weltpolitische Gleichung sich radikal ändert, wenn die Vereinigten Staaten nicht mehr Gegner, sondern Verbündete Russlands sind? Dass ein Geheimdienst, der brenzlige Informationen mit Washington teilt, künftig davon ausgehen muss, dass sie eine Zehntelsekunde später in Moskau landen? Dass die paar verbliebenen liberalen Demokratien Europas schon jetzt allein dastehen und ziemlich wehrlos sind? Denkt in Deutschland überhaupt noch jemand über die eigenen Landesgrenzen hinaus? Ist den Deutschen zum Beispiel bewusst, dass China gerade eben die Landungsboote baut und zu Wasser lässt, die es ca. 2027 brauchen wird, um Taiwan heim ins Reich der Mitte zu holen? Und woher kommt es, dass die “Grünen”, die als einzige deutsche Partei laut über solche Fragen nachdenken, so inständig gehasst werden wie keine andere Partei?

Kollektive Übersprungshandlung

Weite Teile der deutschen Öffentlichkeit verhalten sich wie ein Kind, das sich die Patschhändchen vor die Augen hält und sagt: “Huhu, keiner sieht mich.” Ist dieses kindische Verhalten darin begründet, dass die Deutschen innerlich längst kapituliert haben? Hoffen sie klammheimlich, dass sie einen Status wie Finnland nach dem Zweiten Weltkrieg erlangen? Formal waren die Finnen nach 1945 neutral, in der Praxis war es verboten, die Sowjetunion zu kritisieren. Das galt nicht nur für Politiker. Finnische Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehstationen erlegten sich eine strenge Selbstzensur auf, Bücher, die als antisowjetisch galten, wurden aus öffentlichen Bibliotheken entfernt, und Filme, die den Apparatschiks in Moskau nicht gefielen, durften in finnischen Kinos nicht gezeigt werden. Es gab eine freie Marktwirtschaft und freie Wahlen, aber gleichzeitig sorgten die Sowjets dafür, dass der ihnen treu ergebene Urho Kekkonen 26 Jahre lang Präsident blieb. Kann sein, dass dies vielen Finnen seinerzeit als erträgliche Regelung erschien: Wen kümmerte es, dass man kein Wort gegen Schweinereien wie den Einmarsch in Ungarn und der Tschechoslowakei sagen durfte, wenn einen die Sowjets ansonsten in Ruhe ließen? Und vielleicht erscheint dies auch manchen Deutschen wie ein Zustand, mit dem man sich recht gut arrangieren könne. Keine Kritik mehr an Wladimir Putin im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, keine Solidarität mit den von den Russen überfallenen Völkern; eingeschränkte Souveränität, im Übrigen geht alles seinen Gang. 

Ja, vielleicht ist dies die Zukunftsvision, die den Deutschen vorschwebt. Wenn es so ist, verwechseln sie eine freundliche Fata Morgana mit der Wirklichkeit.

Die Finnlandisierung war nur deshalb möglich, weil stabile Machtblöcke existierten. Die Finnen genossen deshalb relativ viel Freiheit, weil die NATO ein Gegengewicht zum sowjetischen Riesenreich schuf. Deshalb hielten die Russen sich an gewisse Regeln: Auf finnischem Territorium wurden keine Leute umgebracht, die denn Sowjets nicht passten, niemand verschwand in der Dunkelheit und wurde vom KGB über die Grenze gebracht. Der Glaube, dass es anno 2025 in Europa Stabilität geben wird, ist aber eine fromme Illusion. Die NATO wird sich entweder bald ganz auflösen, oder sie wird als Schatten ihrer selbst weiter existieren, sobald Washington sich aus dem Bündnis zurückzieht. Die Europäische Union wird sich vielleicht schon nach der nächsten Wahl in Frankreich zerlegen. Und die Russen halten sich schon seit mehr als einem Jahrzehnt an keine Regeln mehr. Warum sollten sie? Bisher sind sie mit jeder Verletzung des internationalen Rechts davongekommen.

Vielleicht hat es aber auch einen ganz anderen Grund, dass die russische Aggression im Wahlkampf zu einem Nullthema geworden ist. Die Journalistin Amanda Ripley hat einen Bestseller darüber geschrieben (“The Unthinkable”), wie sich Menschen in einer Katastrophe verhalten; es tritt dann so ziemlich das Gegenteil dessen ein, was man in Hollywoodfilmen zu sehen bekommt. Die von der Katastrophe Betroffenen werden nicht laut, sondern ruhig. Sie fangen nicht an, wie aufgescheuchte Hühner durcheinander zu laufen, sondern werden langsamer. Häufig lenken sie sich mit Übersprungshandlungen von der Katastrophe ab. Das menschliche Gehirn ist offenbar großartig darin, Normalität zu simulieren, um sich mit dem Undenkbaren nicht beschäftigen zu müssen. Amanda Ripley beschreibt eine Szene in einer Bar, in der eine Feuer ausbrach: Die Gäste tranken seelenruhig weiter, während schon die Rauchschwaden hinter der Theke emporstiegen, und reagierten höchst ungehalten, als die Feuerwehr auftauchte, um sie zu retten; sie wollten erst ihre Drinks leeren. Amanda Ripley schreibt in ihrem Buch, dass nur Anführer mit festen Kommandos und freundlicher Stimme – ohne jede autoritäre Attitüde – die Menschen aus ihrem Katastrophen-Stupor reißen können. Häufig sind solche Anführer ehemalige Soldaten oder Angehörige helfender Berufe: Ärztinnen, Krankenpfleger. Gibt es in Deutschland Politikerinnen oder Politiker, die fähig sind, den Deutschen das Notwendige ins Gesicht zu sagen?   

Das Undenkbare, das mit der Wiederwahl von Donald Trump eingetreten ist, besteht darin, dass sich die liberale Nachkriegsordnung, die siebzig Jahre lang einen größeren Krieg in Europa verhindert hat, in Luft aufgelöst hat. Die Deutschen simulieren in ihrem Wahlkampf Normalität; sie beschäftigen sich mit Übersprungshandlungen (der Flüchtlingsfrage), um die erschreckende Realität nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen. Wer sich aber im Lala-Land zur Ruhe legt, der wacht im Gulag oder auf dem Schlachtfeld wieder auf.