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Die Zeitenwende wird ohne einen Bewusstseinswandel in der Gesellschaft nicht funktionieren. Und nicht ohne Geld. Dabei lässt sich beides vorteilhaft verbinden.
Vor ein paar Jahren hat der Historiker Timothy Snyder einen kleinen Band mit zwanzig Lektionen für den Widerstand gegen Tyrannen veröffentlicht. Diese Empfehlungen waren anlässlich der Wahl Donald Trumps zum 45. US-Präsidenten geschrieben worden, reichten aber weit über die USA hinaus und waren eine Anleitung für den Kampf gegen Demokratiefeinde jeder Art, im Inneren wie im Äußeren. Jede Lektion hatte ihren ganz eigenen politischen Wert, doch insgesamt ergab es einen Band, der zurecht ein Bestseller wurde. Sehr beliebt waren solche allgemein-praktischen Ratschläge wie „Achte auf gefährliche Wörter“, „Übernimm Verantwortung für das Antlitz der Welt“ und „Lerne von Gleichgesinnten in anderen Ländern“. Sie kamen dem kosmopolitischen progressiven Aktivismus sehr entgegen und gaben jedem das Gefühl, dass der Kampf gegen Autokratien mit überschaubarem Aufwand zu leisten wäre. Das kam unter anderem daher, weil Snyder erst am Ende seines Vademecums jene zwei Lektionen nannte, die vielen als Zumutungen gelten und nicht gefallen durften: „Sei patriotisch“, hieß es da, und „Sei so mutig wie möglich“. Vor allem diese letzte Lektion – eine kaum getarnte Ermahnung – hatte es in sich, denn es hieß darin: „Wenn niemand von uns bereit ist, für die Freiheit zu sterben, dann werden wir alle unter der Tyrannei umkommen.“
Dieser Moment könnte jetzt gekommen sein. Was er bedeutet, erfahren die Ukrainer bereits seit drei Jahren. Ihre Opfer sind massiv. Aber es geht um die Existenz des Gemeinwesens, die Freiheit, den Wohlstand – und das pure Überleben. Dass das alles je infrage gestellt werden kann, das haben die Menschen in der Europäischen Union seit achtzig Jahren nicht erfahren müssen. Wir leben in Wohlstand, Sicherheit und Freiheit. Nun könnte sich das ändern.
Das Rumoren in den westlichen Gesellschaften ist nicht zu überhören, seit Donald Trump als 47. US-Präsident die Allianz mit den europäischen Partnern Stück für Stück aufkündigt und sich dem Neoimperialist Putin annähert. Während der Schlächter Putin freundliche Worte empfängt, müssen die Europäer verächtliche Standpauken über sich ergehen lassen. Dabei ist nicht alles falsch, was aus Trumps Regierung kommt. So hat der neue amerikanische Außenminister Rubio den Europäern eine Rechnung präsentiert, wonach sie über Jahrzehnte ein Sozialprogramm nach dem anderen ins Leben gerufen hätten, während sie unter dem Schutzschirm der USA preisgünstig in Frieden leben konnten. Europas Sicherheit wurde weitgehend outgesourced. Beispielsweise lagen die Wehretats während der Kanzlerschaft Angela Merkels nicht bei den in der NATO vereinbarten 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, sondern im Durchschnitt bei 1,2 Prozent, obwohl in den betreffenden 16 Jahren Russland Teile Georgiens und der Ukraine annektierte und Teile Syriens in Schutt und Asche legte. Es war eine Zeit, in der man den Unfrieden mithilfe der USA auf Abstand halten und sich als „Soft Power“ inszenieren konnte. Im blendenden Licht dieser Selbstbezeichnung genoss Europa lange Ansehen und übersah, das dies nicht mit Respekt verbunden war. Europa betonte in der Außenpolitik gerne seine idealistische Haltung und vergaß, dafür eine adäquate Handlungsfähigkeit zu entwickeln. Das hat auch der „Globale Süden“ schon vor Jahren gemerkt: dass die europäische Soft Power in Wahrheit so kraftvoll wie ein LKW mit Tuk-Tuk-Motor ist. Sie weigerten sich, bei Russlands Krieg gegen die Ukraine an die Seite der Europäer zu treten und machten deutlich, dass wir selbst damit klarkommen müssten.
VON WAFFEN UND SOLDATEN
Nun stehen wir da. Die USA ziehen sich aus Europa zurück. Und trotz der Aggression Russlands, das keinen Hehl daraus macht, dass es nach der Ukraine nicht Halt machen würde, haben es die meisten Staaten wie auch Deutschland versäumt aufzurüsten, zügig die Munitions- und Waffenbestände aufzufüllen, die eigene Industrie zu einer Kriegsproduktion zu ermächtigen und eine atomare Abschreckung zu installieren. So kann Putin mit teuflischer Lust anschauen, wie seine Armee die Ukraine zermürbt und Europa mit Hilfe Donald Trumps bloßgestellt wird. In einem moralisch und technologisch weitgehend demilitarisierten Staat wie Deutschland reicht es mittlerweile, Politik und Öffentlichkeit mit ein paar im Internet verfügbaren Drohnen, mit Bauschaum, Eisenspänen und Schleppankern zu beschäftigen, ohne dass eines der Probleme, die Putins schleichender Krieg verursacht, gelöst werden kann.
Was fehlt, um Europa verteidigungs-, abschreckungs- und also handlungsfähig zu machen, das sind Waffen und Soldaten. Und da fangen die Probleme erst richtig an – bei den Soldaten. Die lange Phase des Wohlstands und Friedens hat träge gemacht und blind gegenüber Gefahren. Sicher, wer will auch schon in den Krieg? Herfried Münkler wird seit Jahren nicht müde, immer wieder klarzumachen, dass wir in einer postheroischen Zeit leben, in der der Einsatz bzw. der Kampf für das eigene Land aus der Mode gekommen sind. Schon der Gedanke eines verpflichtenden sozialen Jahres erregt in Deutschland die Gemüter heftig. Der libertäre Individualismus schottet sich – übrigens wie der identitäre Kollektivismus – gegen alle Forderungen des Gemeinwesens ab. Die Reserve gegenüber dem Staat ist von Misstrauen und Ablehnung geprägt. Und die Politik macht keine Anstalten, dies zu ändern. Denn es gibt bislang keine Mehrheiten für auch nur irgendetwas, das mit Zumutungen und Risiken für unsere Verteidigung behaftet ist. Eine Wiedereinführung der verhassten Wehrpflicht ist nicht in Sicht. Verteidigungsminister Pistorius, der einmal laut über einen Bewusstseinswandel hin zu einer unvermeidlichen „Kriegstüchtigkeit“ nachdachte und konsequenterweise eine Wehrpflicht oder ein der Wehrpflicht ähnliches Konstrukt auf die Agenda setzen wollte, wurde von seiner Partei, der SPD, schnell zurückgepfiffen. Mit welcher Partei die CDU/CSU eine Wehrpflicht in Deutschland installieren will, bleibt ein Rätsel. Die einschlägigen Parteien links wie rechts würden das wieder als Provokation gegenüber Russland verkaufen, als Militarisierung der Gesellschaft oder gleich als Beginn des Dritten Weltkriegs. Aber so ganz anders würde es aus den Mitte-Parteien auch nicht klingen. SPD, Grüne und FDP sind unsichere Kantonisten, wenn es um diese Art von Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft ginge. Denn die ganzen Egos und Communities in ihren Milieus würden ganz bestimmt nicht auf einmal den überlebensnotwendigen Gemeinsinn entdecken und lieber die Spaltung der Gesellschaft folgenlos beklagen.
WIE MAN AUFRÜSTUNG FINANZIEREN KÖNNTE
Bleibt noch das Problem neuer Waffen bzw. einer zügigen Aufrüstung. Da ist die Lage günstiger, wenngleich Zeit mit der Hoffnung auf ewige US-Unterstützung und falscher Besonnenheit sträflich vergeudet wurde. Aber einen echten Vorteil hat Europa: Es hat immer noch Geld, sehr viel Geld. Trump will rund 300 Mrd. in den nächsten fünf Jahren beim amerikanischen Militär einsparen. (Mal schauen, was der militärisch-industrielle Komplex dazu sagen wird.) Den gleichen Betrag beispielsweise könnten die Länder der Europäischen Union locker für die notwendige Aufrüstung in den nächsten fünf Jahren aufbringen, zusätzlich zu den bestehenden Wehretats. Betrachtet man Deutschland, so ergeben sich dort gleich mehrere Möglichkeiten, um die Aufrüstung zu finanzieren. (Wer jetzt bei der Aufzählung gleich brüllt, dass dies oder das nicht gehe, dem würde ich zurufen: „Erkenne die Lage!“)
Nun, es könnten, erstens, die Milliarden auf eingefrorenen russischen Konten freigegeben und an die Ukraine transferiert werden, damit diese jede verfügbare, nützliche Waffe auf der Welt kaufen könnte. Jede Wette, Lockheed Martin und General Dynamics würden sofort Verbindungsbüros in der Ukraine eröffnen (wenn es die nicht schon gibt).
Zweitens könnten alle Schuldenbremsen und Stabilitätspakte gelockert und Kredite aufgenommen werden, um eine europäisch abgestimmte Aufrüstung zu ermöglichen. Wie einfach das geht, hat die Präsidentin der Europäischen Kommission gerade bewiesen.
Drittens könnten Steuerhöhungen oder Solidaritätszuschläge die Finanzierung der Verteidigungsfähigkeit und die Unterstützung der Ukraine sicherstellen. Beliebt wäre das nicht. Aber russische Raketen über dem Haus können eigentlich auch nicht beliebt sein.
Viertens könnte man staatlicherseits kapitalaffinen Gemeinsinnverweigerern Wehranleihen mit einer Laufzeit von 10 bis 15 Jahren anbieten, quasi als Ablasshandel. Denn wer kann das ausschlagen, wenn dadurch die Chance steigt, niemals einen Helm aufsetzen zu müssen?
Fünftens, wenn jetzt die Kapitalbranche endlich aufwachen würde und sich was traute und Investmentfonds allein mit kleinen und großen Rüstungsbetrieben emittierte, statt sie nicht mehr in ihren globalen Fonds neben den bösen Pharmariesen zu verstecken; wenn die Zeitenwende nun also wirklich überall in Kopf und Portemonnaie ankäme und man sein Geld in die wirklich wichtige Sache stecken möchte, nämlich den Sieg eines Oberfossilen wie Putin zu verhindern, der nur darauf wartet, seine Pipelines wieder zu öffnen und die Seltenen Erden aus der Ukraine an sich zu reißen; wenn die Doppelverdiener, die sich immer gegen Bundeswehrwerbung in Schulen oder die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Wehrtechnik engagierten, jetzt von der Zeitenwende doch noch gepackt werden und ihre Ethikfonds nicht mehr darauf absuchen, ob da vielleicht 0,1 Prozent eines Betriebs im Portfolio liegen, der winzige Spezialschrauben für den Leo herstellt und man sogar die nie erwartete Tat tut und sich einen Stoß Aktien von – beispielsweise – Rheinmetall kauft, um diesen Rüstungsbetrieb in seinen Investitionen zu stärken, weil man gehört hat, dass er auch noch Dividende zahlt, und wenn sich dann herausstellt, dass dies eine echte Friedensdividende wäre – dann, ja dann hätten Deutschland und Europa die Zeitenwende durch einen überfälligen Bewusstseinswandel verstanden und auch in Zukunft eine sehr gute Chance auf Frieden und Freiheit.