Blinde Wut und wüste Attacken sind das Ergebnis der „Spiegel“-Recherche zur Causa Seibert. Aber nicht etwa gegen den Betrüger, der skrupellos Auschwitz und die Schoah für sein Fortkommen ausnutzte – nein, die Autoren stehen im Fokus der Empörung. Dass der liebste „linke“ und „jüdische“ Kronzeuge ein Betrüger sein soll, das können die Waffenbrüder schlicht nicht durchgehen lassen.

Der Fall Wolfgang Seibert, jene Kostümjuden-Posse aus Pinneberg in Schleswig-Holstein könnte nach dem „Spiegel“-Artikel eigentlich ausgestanden sein – mit seinem heutigen Rücktritt sowie der von Seibert angekündigten Erklärung, klärenden Worten der Allgemeinen Rabbinerkonferenz und einer Richtigstellung des Zentralrats der Juden in Deutschland, dass man leider einem Hochstapler aufgesessen sei. Und einem vernehmbaren Bedauern der „taz“, über Jahre ausgerechnet Seibert zum politischen Kronzeugen in Sachen Judentum gemacht zu haben. Doch stattdessen versuchen eilfertige Sekundanten nun zu retten, was nicht zu retten ist. 

Seiberts Ghostwriterin bei der taz, Petra Schellen, wurde nach jahrelangem huldvollem Dienst an dem Pinneberger Vorzeige-„Juden“ zwar vom Thema abgezogen, doch legte die Zeitung gleichwohl nach. Mit tendenziösen Zwischenüberschriften wie „Generalabrechnung mit Seibert“ und verstümmelten beziehungsweise aus dem Kontext gerissenen Kurz-Zitaten wird die immerhin fast 26.000 Zeichen lange, so aufwändig wie sorgfältig recherchierte „Spiegel“-Story zu einer Anklageschrift gegen die Autoren Gerlach und Doerry und deren vorgeblich rassistische und antisemitische Klischees umgedeutet. taz-Autor Jean-Philipp Baeck setzt lautstark Begriffe wie „raffiniert“ und „Seibert verfügt also über viel Geld“ in einen Kontext, der für den unbedarften Leser nur in der Erkenntnis münden kann, hier verwende „Der Spiegel“ die antisemitischen Klischees von Durchtriebenheit und Raffgier. Unredlicher und ignoranter geht es in diesem Kontext nicht.

Und so marschieren dann natürlich auch Seiberts treue Vasallen vom Hamburger Linksfunk „FSK“ sowie der Historiker Johannes Spohr auf, der 2017 ein Buch über Antisemitismus mit Seibert veröffentlicht hatte und nun natürlich nicht auf dieser Makulatur sitzen bleiben möchte. Keinem der Sekundanten Seiberts, dem Darling einer israelkritischen Linken, der zwischendurch auch mal den Israelfreunden der Antideutschen den Kopf verdreht zu haben schien, auch denen nicht, die sich mit Antisemitismus-Anschuldigungen gegen Moritz Gerlach und Martin Doerry – ausgerechnet – in den sozialen Netzen austobten, ist allerdings Seiberts größte Perversion aufgestoßen: Aus purer Geltungssucht das Gedenken von Abermillionen in Auschwitz dahin geschlachteten Menschen zu besudeln, indem er dreist eine seiner Großmütter ins Lager lügt. Das ist eine antisemitische Ungeheuerlichkeit der gleichen Kategorie wie jener verschwiemelte Kneipenwitz der 1960er und 1970er Jahre, den sich rot-gesichtige Säufer im Halbrausch zurülpsten: „Stimmt es eigentlich, dass Dein Vater in Auschwitz umgekommen ist? Ja, er ist besoffen vom Wachturm gefallen.“ Es steckt dieselbe Landser-Perfidie in Seiberts Lebenslüge.

Trumpsche Medienverachtung

Da hilft es auch nicht, dass der Pinneberger an jeder vermeintlich progressiven Front der alten Westrepublik sein Beinchen hob, um das vorgeblich linke Revier zu markieren. Auschwitz als Mäntelchen für eigene Eitelkeiten – das ist genau das, was die „Spiegel“-Autoren meinten, als sie von der Ungeheuerlichkeit schrieben, sich mit einer jüdischen Vita in der deutschen Demokratie unangreifbar zu machen. Niemand der vorlauten Seibert-Verteidiger stört sich an dieser Tatsache. Stattdessen wird die Investigativ-Arbeit der „Spiegel“-Kollegen zum Versuch umgedeutet, ein „linkes“ Lebenswerk durch „rechte“ Machenschaften zu zerstören. Da schwingt schon eine Menge Trumpscher Medienverachtung in den Deutungen der Seibert-Adepten mit.

Den Vogel schießt aber Rosa Fava im Belltower ab, dem Watchblog der Amadeo-Antonio-Stiftung. Was diese honorige Institution antreibt, den infamsten aller Beiträge über den „Spiegel“-Artikel zu publizieren, bleibt ein Rätsel. Der „Spiegel“-Text, so eine völlig entfesselte Autorin, „strotzt“ vor Antisemitismus. Auch die „Diskreditierung von Antifaschismus“ wird lautstark beklagt, das Ganze sei eine „nichtjüdische Selbstermächtigung“. Zitat aus jenem kruden Quark gefällig?

„Der Spiegel betreibt mit dem Artikel eine Selbstermächtigung nichtjüdischer Deutscher gegenüber einer gefühlten jüdischen Autorität als Widerstand gegen Handlungsmaxime, die sich aus der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik ergeben würden und als Unfreiheit empfunden werden.“

Und weiter geht’s: Im Furor blinden Komplizentums fallen die letzten Schranken – St. Seibert als Säulenheiliger der selbst ernannten Antifa. Und selbst die ärgsten Gegner der Totalitarismus-Theorie müssen sich eingedenk dieses Textes eingestehen, dass wohl etwas dran sein muss an der Behauptung, die politischen Extreme berührten einander.

Rühmliche Ausnahme in Sachen Beißreflexe ist einzig „Die Zeit“. Sie entschuldigt sich in einem Artikel glaubwürdig dafür, Seibert auf den Leim gegangen zu sein.

Rücktritt pünktlich zum Schabbat

Seibert selbst übrigens erklärte sich zwar nicht mehr, trat aber am Freitag nach Angaben der „Hamburger Morgenpost“ von seinem Amt zurück „um weiteren Schaden abzuwenden“. Immerhin noch rechtzeitig vor dem Schabbat.