„Der Dieter“ wurde in einem Text kürzlich zur Personifikation von Reaktion und Mief. Wer so platt vorgeht, hat selbst ein Psychogramm verdient.

Die Lena – wir reden hier von einer Durchschnitts-Lena – fährt jedes Jahr an Weihnachten zu ihrer Familie ins Ländle. Dort hilft sie dem Vater bei der Kehrwoche, packt mit Onkel Dieter Geschenke ein und begleitet die Mama zum Gottesdienst. Lena ist eigentlich eine ganz Liebe. 

Dennoch holt sie am Esstisch immer wieder ihr Handy aus der Hosentasche und postet auf Twitter, was für rassistische Spießer ihre Verwandten sind. Das neue MacBook Pro, das unterm Weihnachtsbaum lag, konnte sie dann aber trotzdem irgendwie nicht ablehnen.

Lena hat ein Problem mit ihrer Herkunft. Ihre Familie findet sie zu kleingeistig, zu borniert, zu „rechts“. Deswegen zog Lena nach Berlin, trainierte sich den schwäbischen Akzent ab und studiert jetzt einen interdisziplinären Masterstudiengang, der zwar keine Jobaussichten bringt, aber dafür unfassbar intelligent klingt.

Der Kapitalismus ist schuld

Lenas Weltbild ist einfach. Das Böse: Das ist der Westen, der aus reiner Profitgier die Umwelt zerstört, Afrika ausbeutet, Frauen unterdrückt und Migranten ausgrenzt. Das Gute: Das sind die Theorien, die Lena an der Uni gelernt hat und fast alle mit „post“ anfangen: Poststrukturalismus, Postkolonialismus, Postmodernismus. Seitdem Lena diese komplizierten Trends aus den USA verstanden hat, steht sie nicht nur über ihrer Herkunft, sondern auch über den Dingen. Lena weiß jetzt, was in der Gesellschaft schiefläuft.

Deswegen kennt sich Lena auch richtig gut mit Politik aus. „Liberale sind eigentlich Faschisten“, weiß sie etwa, „weil neulich hat doch ein FDPler das Gleiche getweetet wie ein AfDler“. Ausgebeutete Arbeiter, die NSU-Morde und vergewaltigte Frauen – das hängt auch alles mit der Marktwirtschaft zusammen. Wie genau – das kann Lena jetzt auch nicht so gut erklären. Aber eines ist sicher: „Der Kapitalismus ist an allem schuld“, resümiert Lena stolz, während sie mit dem neuem MacBook den Kroatien-Urlaub auf EasyJet bucht.

Richtig wohl fühlt sich Lena, wenn ihre Freunde sie in der Berliner WG besuchen. Denn da denken alle gleich. Da ist man sich einig. Meistens schimpft Lena dann mit Lasse und Lisa über die gierigen Investoren, die den Berliner Wohnungsmarkt zerstören und mittellose Migranten an den Stadtrand drängen. Während Lasse das Kokain auspackt, überschlägt Lena im Kopf nochmal ihren Kontostand: 1000 Euro von den Eltern und die 600 Euro von der Oma – damit lässt sich nicht nur die Miete über 700 Euro für ihr 15qm2-Zimmer in Neukölln (kernsaniert, Stuck, abgezogene Dielen) bezahlen, sondern auch das Shirt für 180 Euro aus dem fancy Acne-Store. „Teuer ist das schon“, gibt Lena zu, „aber hey – das Semester war echt anstrengend. Da kann man sich schon mal was gönnen“, beruhigt sie sich, bevor sie sich eine Line Koks durch die Nase zieht.

Wer rettet die Welt?

Lena ist stolz darauf, ein besserer Mensch zu sein. Sie positioniert sich nicht nur, indem sie ihre Tweets mit Sternchen versieht und fremde Menschen auf der Straße anpöbelt, wenn sie ihre Kippen auf den Boden werfen. Lena spürt auch jeden Tag den Schmerz der gesamten Welt in ihrer Brust. Sie ist überzeugt, dass nur ihr individuelles Handeln den Planeten retten wird. Also verzichtet Lena auf Fleisch, kauft nur noch bei Alnatura ein und bestellt sich via Instagram einen niedlichen Badeanzug, der aus recycelten Plastikmüll hergestellt wurde.

„Eigentlich sollte auch jeder einen Geflüchteten zu Hause aufnehmen“, erzählte Lena neulich, „einen in jeden Haushalt“. Dem könne man dann Deutsch beibringen und mit auf die Blockupy-Demos nehmen. „Das würde denen bestimmt gefallen. Denn der Westen ist doch mit seiner ‚White Supremacy‘ auch irgendwie verantwortlich für den Krieg in Irak … äh … Syrien!“, fachsimpelt Lena und zupft sich den Dutt zurecht.

Ach, wären nur alle so reflektiert wie Lena. Dann würde das Elend auf der Welt bald ausgemerzt sein. Lena fühlt sich nicht nur besser. Sie ist es einfach.

Weißsein ist Sünde

Das war nicht immer so, erinnert sich Lena wehmütig. Noch vor ein paar Jahren kamen ihr fast die Tränen, als sie der Coach bei ihrem ersten Social-Justice-Seminar beleidigte und sie aufforderte, sich auf den Boden zu setzen. „So fühlen sich schwarze Menschen jeden Tag!“, fuhr der Coach sie an, als sie die Demütigungen nicht mehr aushielt und das Seminar verlassen wollte. „Willst du deine ‚weißen Privilegien‘ etwa nicht ablegen?“, fauchte er.

Ohjeh, wie schlimm das war! Und wie sich Lena schämte! Aber dafür ist sie jetzt von ihrer Ur-Sünde, die sie als weiße „Cis-Frau“ immer in sich tragen wird, geläutert. Demut, Schmerz und Reue haben sie von ihrem Rassismus geheilt. Es war wie eine Erweckung. Lena ist jetzt einfach „aware“. Sie ist „woke“.

Seitdem hat Lena eine Mission: Sie will auch den Rest der Bevölkerung aus ihrer Ignoranz befreien. Und wenn man selbst die absolute Wahrheit erkannt hat, darf es dabei ruhig etwas brutaler zugehen.

Manche haben es einfach verdient …

Also feiert Lena Journalisten ab, die Menschen wie den Dieter verhöhnen oder weiße Menschen des Rassismus bezichtigen, wenn sie nicht mit schwarzen Menschen ins Bett gehen. Für den guten Zweck fordert Lena auch die Zensur von Literatur und Kunst, wünscht Springer-Journalisten den Tod und lebt auf Social Media ihren Hass auf „alte, weiße Männer“ aus. 

Neulich war Lena besonders mutig – und sprengte eine Diskussionsrunde in Frankfurt, weil dort eine Autorin das Kopftuch kritisieren wollte. Argumente für ihre totalitären Forderungen hat Lena nie gehabt. Stattdessen trägt sie bei jeder Konfrontation auswendig gelernte Phrasen von Judith Butler vor, die so inhaltsleer sind, dass Lena sie selbst nicht richtig versteht.

Abends, wenn die Studentin im Bett liegt, träumt sie von der Revolution. Denn obwohl sie sich täglich bemüht, ein guter Mensch zu sein, gräbt sich der Weltschmerz jeden Tag etwas tiefer in ihre Brust. Dieses schreckliche Gefühl muss endlich aufhören, denkt sich Lena, das System endlich umgestürzt werden. Notfalls eben durch eine Naturkatastrophe, einen Atomkrieg – oder ein neuartiges Coronavirus.

Religiöser als der Papst

Lena merkt nicht, dass sie die Vielfalt, Freiheit und Widersprüchlichkeit einer offenen Gesellschaft, die sie selbst so vehement einfordert, gar nicht ertragen kann. Denn im Geiste hat Lena die Vorgärten ihrer schwäbischen Kleinstadt nie verlassen.

Lena gibt sich also nur open minded. In Wirklichkeit hat sie vor anderen Weltbildern mehr Angst als Onkel Dieter vor Flüchtlingen. Zwar betont Lena immer wieder, wie progressiv sie sei. Dabei stempelt sie Menschen radikaler nach Hautfarbe und Herkunft ab, als es ihrer Familie jemals in den Sinn kommen würde. Lena verachtet die Frömmigkeit ihrer Mutter. Dabei unterwirft sie sich selbst der autoritären Ideologie ihrer Community und bettelt so lustvoll um Vergebung, Buße und Läuterung, dass sogar der Papst irritiert wäre.

Arme Lena. Denn trotz des mühsam antrainierten Gender-Jargons, trotz der Lifestyle-Codes und der besseren Moral bleibt Lena das, was sie schon immer war: ein reaktionärer Kleingeist.