Salman Rushdie hat ein Buch darüber geschrieben, wie er das Messerattentat auf ihn erlebt und überlebt hat. Es gibt einige gute Gründe, dieses Buch gerade jetzt zu lesen.

Das Attentat auf den Schriftsteller Salman Rushdie dauerte siebenundzwanzig Sekunden. Fünfzehnmal drang die Klinge des Attentäters tief in sein Opfer. Er brauchte nicht einmal zwei Sekunden für jeden Stich. Er traf in Brust, Kopf, Gesicht, Mund, Hals, Arm – kaum ein Körperteil blieb verschont. Am schlimmsten traf es das rechte Auge, das Rushdie verlor und aus einer Mischung aus Sarkasmus und Humor sein „Gekochtes-Ei-Auge“ nannte, weil es ihn, als es aus der Höhle hing, daran erinnerte. Aber er überlebte. Und schrieb ein Buch darüber.

Es war der 12. August 2022, als Salman Rushdie bei einer Veranstaltung in einer Erwachsenenbildungsstätte im Bundesstaat New York einen Vortrag darüber halten wollte, wie wichtig es sei, sich für die Sicherheit von Schriftstellern einzusetzen. Zu dieser Rede kam es nicht. Ein Attentäter kam unbemerkt auf die Bühne und attackierte den hilflosen Autor sofort mit seinem Messer. Manche der Besucher im Publikum hielten es für eine spektakuläre Performance – vielleicht wegen des Vortragsthemas und weil sie vergessen hatten, dass Rushdie selbst seit über dreißig Jahren auf Todeslisten stand, denn der iranische Revolutionsführer Chomeini hatte im Jahr 1989 wegen Rushdies Roman „Die Satanischen Verse“ einen Mordaufruf gegen ihn erlassen.

Vielleicht hatte Rushdie diese Fatwa in manchen Augenblicken sogar selbst fast vergessen. Nach dem islamistischen Messerattentat auf den ägyptischen Literaturnobelpreisträger Nagib Mahfuz im Jahre 1996 dachte er jedenfalls, so etwas könnte ihm selbst nicht passieren, obwohl britische Sicherheitskreise ihn stets informierten, wenn mal wieder im Vorfeld ein Attentat auf ihn vereitelt werden konnte. Tatsächlich schützten sie ihn lange und gut. Und weil die gedungenen oder inspirierten Mordbuben zunächst seiner nicht habhaft werden konnten, vergriffen sie sich – neben Mahfuz – an Übersetzer und Verleger seines Romans und töteten einige.

Zu dieser Geschichte, die unbedingt erzählt werden muss, immer wieder erzählt werden muss, weil sie bis heute reicht und weil sie nicht zu Ende ist, zu dieser Geschichte gehört, dass ein Rushdie Defence Committee gegründet und von den angesehensten Autorinnen und Autoren unterstützt wurde, um Rushdie ihre Solidarität zu bezeugen und die Meinungsfreiheit zu verteidigen. Zu dieser Geschichte gehört aber auch, dass viele Intellektuelle und Prominente Verständnis für die Fatwa äußerten – obwohl auch sie, wie Chomeini, das Buch wahrscheinlich gar nicht gelesen hatten: Er habe sich das alles selbst zuzuschreiben, hieß es oft, ja, er habe die Reaktion der Islamisten provoziert. Ein Oxford-Professor konstatierte, dass alle, die Rushdie verteidigten, eine „neoliberale Auffassung von freier Meinungsäußerung“ besäßen. Fluggesellschaften wollten ihn nicht transportieren, Leute nicht im selben Restaurant mit ihm essen. Rushdie erlebte neben der Solidarität eine „dauernde Unterströmung von Missbilligung“: Das Opfer war der Schuldige.

Woher kennen wir das noch? Ach ja, von der Ukraine, von Israel – die Attackierten müssen sich rechtfertigen, dass sie so sind, wie sie sind: dass sie Freiheit und Leben der Unterjochung und Auslöschung vorziehen.

DEN WEG ZURÜCK INS LEBEN FINDEN

Rushdie brauchte Jahre, bis er den Schatten der Fatwa, die ihn gewissermaßen definiert hatte, abschütteln konnte. Er zog von London nach New York, entzog sich den Vorwürfen, seine Bewachung koste den britischen Steuerzahler zu viel, er sei privilegiert. Tatsächlich begann er ein „normales“ Leben zu führen, ging ohne Bodyguards auf Partys und Veranstaltungen, verliebte sich neu – es war, als gäbe es die Bedrohung nicht mehr. Seine größte Angst nach der Fatwa war: dass er als Künstler aus der Bahn geworfen würde und anfinge „verängstigte Bücher“ oder „Rachebücher“ zu schreiben. Denn beide wären das Ende seiner Individualität gewesen, seiner Unabhängigkeit, seiner künstlerischen Autonomie. Wie wir heute wissen – und das spricht sehr für den Autor –, haben sich diese Ängste nicht bewahrheitet.

Dann kam der 12. August. Rushdie überlebte nur knapp. Es war geradezu ein Wunder, dass er überlebte: von einem Islamisten zerfetzt mit einem Mordwerkzeug, dass man in Onlineshops kaufen kann und das meist sicherer tötet als Schusswaffen. Und weil er überlebte, musste er einen Weg zurück ins Leben finden.

Diesen Weg beschreibt das Buch „Knife“. Zunächst ist es ein Buch der Fragen, der Schmerzen und der Verzweiflung. Er fragte sich, als er sich selber wieder etwas fragen konnte, warum er nach dem ersten Kontakt nicht reagiert habe, und stellte fest: „Für die Opfer von Gewalt gerät das Verständnis von Realität ins Wanken.“ Menschen bewegten sich in ihrem Alltag gewissermaßen in einem stabilen Weltbild. Das ist von einem Moment auf den anderen zerstört, man gerät wahrlich außer sich, als würde man neben dem Geschehen stehen, auch das Gefühl für Zeit gehe verloren. Aber da war dann irgendwann auch noch, als Teil des Bewusstwerdens, was da geschehen war, ein Gedanke, ein starker Gedanke, ein Impuls: Lebe, lebe!

Rushdie erzählt von den immensen Mühen seiner Rekonvaleszenz, von der posttraumatischen Belastungsstörung und dem sich bald einschleichenden Hospitalismus, von der Scham bei manchen Behandlungen und dem simplen wie drängenden Wunsch, wieder im eigenen Bett schlafen zu können, umringt nur von Büchern. Er braucht Monate, benötigt Physio- wie Psychotherapeuten, die Unterstützung seiner Familie, erholt sich aber zusehends, wenn es auch iatrogene Verschlechterungen infolge ärztlicher Irrtümer gibt. Er macht seinen Ärzten keine Vorwürfe, revanchiert sich aber, indem er ihnen lustige Namen und Akronyme gibt. Das mag mancher für sonderbar halten. Und doch liegt darin das Geheimrezept Rushdies – es ist sein Humor. Bei allem Ernst, aller Erschütterung, allem Kampf ums Überleben verliert er nicht diesen Humor. Wie essentiell er ist, politisch wie literarisch, wird zwischen den Zeilen deutlich.

Und das wiederum mag für manche überraschend sein: In einem früheren Essay erinnerte sich Rushdie einmal an Heinrich Böll, der erklärt hatte, das Wort Humor komme von „Humiditas“, dem Lateinischen für „Feuchtigkeit“, und man müsse mit einem feuchten Auge schreiben, nicht mit einem sentimental nassen oder einem zynisch trockenen, sondern feuchten, also humorvoll. Rushdie hat das zu seiner literarischen Maxime gemacht. Und jetzt, in der größten existentiellen Not, hat er sich wieder daran erinnert. Trotz Bitterkeit und Bedrückung behält er sich ein Quantum dieses Humors, was ihn das Geschehene besser verarbeiten lässt. Nicht nur ihm selbst, sondern auch der Erzählung tut das gut. Aber der Humor ist ihm nicht nur eine wichtige ästhetische Bedingung. Der Streit um die „Satanischen Verse“ hatte ihm schon vor drei Jahrzehnten deutlich gemacht, dass es sich dabei um eine politische Auseinandersetzung zwischen Menschen ohne und Menschen mit Humor handelt.

DER KAMPF GEGEN DIE DÄMONEN

Ein Meisterstück in diesem Buch ist das fiktive Gespräch zwischen Rushdie und dem Attentäter. Es ist eine Imagination, das sich zur Inszenierung anbietet. Rushdie kennt die Gedankenwelt der Islamisten, kennt ihre argumentativen Winkelzüge, ihre Sackgassen, ihre Einflüsse, ihre Gefühle. Er stellt sich das Gespräch als ein Duell vor, als einen faustischen Zweikampf um die irre gegangene Seele des jungen Attentäters. Wenn es heikel wird, schweigt dieser. Letztlich kulminiert die Auseinandersetzung nach allen Mühen Rushdies, den Islamist aus seinem ideologischen Gefängnis zu befreien, in der Feststellung des Attentäters: „Sie kapieren es immer noch nicht. Allein Unterwerfung führt zur Freiheit. Das ist doch der verdammte Punkt.“ Resigniert muss Rushdie feststellen: „Genau da sind wir. An einem Ort, an dem der Lehrer nicht lehren und der Schüler nicht lernen kann.“

Trotz dieser Ernüchterung kommt schließlich die Genesung, als er merkt, dass er wieder ein Autor ist, der ein Buch zu schreiben habe: um das Attentat zu verarbeiten und damit den Weg frei zu machen für das Buch, das er vor dem Attentat geplant hatte.

Doch zunächst fährt er mit seiner Frau zum Ort des Attentates – und schließt Frieden mit dem Geschehenen. Herausgekommen ist am Ende ein Buch über den Kampf gegen die Dämonen aus dem Reiches des Todes, der Gewalt, des Fanatismus und des Horrors – und wie in einem gut erzählten Roman und wie es sich für einen Schriftsteller wie Rushdie gehört, besiegt er sie mit der Liebe, dem Humor und der Kunst. „Nach unserer Begegnung mit dem Hass“, schreibt er, „feiern wir das Überleben der Liebe.“ Ein kitschiger, aber wahrhaftiger Satz.

Und doch ist da noch etwas mehr, ein Postscriptum, eine Klarstellung. Auf der hinteren Buchklappe sehen wir ein Foto des Autors, die rechte, leere Augenhöhle verblendet, mit gesunder Gesichtsfarbe und leicht schmunzelnd, als wäre er sich bewusst, dass er für viele ein Symbol für die Meinungsfreiheit, ein Vorbild für künstlerischen Mut und ein Mahner vor den Gefahren des Islamismus ist. Und dass allen anderen gesagt werden muss: FUCK YOU! ICH LEBE! UND ICH WERDE WEITERHIN SCHREIBEN!

Salman Rushdie, Knife – Gedanken nach einem Mordversuch, Penguin Verlag