Ernesto Cardenal, der am 1. März im Alter von 95 Jahren gestorben ist, galt in Deutschland bis zuletzt als moralisches Vorbild. Doch in Nicaragua führte sich der bekannte Befreiungstheologe auf wie ein Großgrundbesitzer der alten Schule, beobachtete unser Autor bereits im Jahr 2009.

Diesmal war das Echo in Europa gering geblieben. Obwohl sich die Feierlichkeiten zum 30. Geburtstag der sandinistischen Revolution in Nicaragua noch über das ganze Jahr hinziehen werden, scheint kaum noch jemand an dem einst zum leuchtenden Beispiel hochstilisierten Land in Zentralamerika interessiert zu sein. Begonnen hatte alles am 17. Juli 1979, dem Tag von Diktator Somozas Flucht aus der Hauptstadt Managua. Spenden- und Solidaritätskampagnen, idealistische Freiwilligenbrigaden, Anklage der US-finanzierten Contras oder auch Warnungen vor einem „neuen Kuba“ mitsamt ostdeutschen Stasiberatern – ist all dies womöglich von einer Art Zeittrichter verschluckt worden?

Ein Sprachtrichter allerdings (um im etwas verrutschten Bild zu bleiben, denn diese Geschichte handelt von Poesie und ihrem kriminellen Missbrauch) funktioniert noch immer, und er gehört Ernesto Cardenal. Expriester und Befreiungstheologe, Lyriker und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels. In den 80er-Jahren war Cardenal neben Commandante Daniel Ortega der wohl berühmteste Nicaraguaner. Dazu Dauergast auf Kirchentagen und Intellektuellenpodien.

Inzwischen ist er jedoch laut Selbstauskunft zu „einem der schärfsten Kritiker des korrupten Präsidenten“ geworden. Zumindest das hat man hierzulande wahrgenommen und gern aufgegriffen. Dabei hat man allerdings geflissentlich überhört, was Cardenal an Ortega, dem seit 2006 erneut herrschenden Sandinisten-Präsidenten, vor allem auszusetzen hatte: die Entfernung von den vermeintlichen Idealen Fidel Castros und Hugo Chavez‘.

Eine weiße Weste

Cardenals Ruf als unbefleckt globalisierungskritischer Revolutionär wird in Deutschland weiterhin verbreitet- von einem effektiv organisierten Freundeskreis: Bremens ehemaliger Bürgermeister Henning Scherf gehört ebenso dazu wie der Schauspieler Dietmar Schönherr, ganz zu schweigen von dem in Wuppertal ansässigen Peter Hammer Verlag. Dem Verlag ist dank Cardenals gesinnungsstarker Lyrikproduktion der überaus ertragreiche Sprung aus der Dritte-Welt-Nische gelungen.

In so manchen deutschen Haushalten wird es diese Bücher noch geben: Mit naiver Bauern- und Fischermalerei illustrierte Texte, in denen Ernesto Cardenal über „seine“ christlich-marxistische Inselutopie, über Kooperativen, Basisgemeinden und die „Heiligkeit der Revolution“ spricht.

Die Geschichte von Cardenal ist die Geschichte einer bis heute fortgesetzten Heuchelei und Ausbeutung. Man erfährt sie, wenn man sich auf dem Inselarchipel von Solentiname umschaut, gelegen am südlichen Ende des Nicaraguasees, nahe der Grenze zu Costa Rica.

Die Illustratoren der Texte, die Maler von Solentiname, gibt es noch immer. Sie erinnern sich daran, dass sie vor Jahrzehnten vom Priester-Dichter Cardenal einen ganz bestimmten Stil verordnet bekommen hatten – Kollektividyllen in satter Farbe. Doch weder der heute 70-jährige Don Rodolfo noch seine Kollegen sind mit ihren Bildern reich geworden, die Cardenal später in ihrem Namen einer ehrfürchtig-solidarischen Welt verkaufte. Auch José Arana Cordero sah für all die Tierskulpuren, die er auf Anweisung und unter Namen des geschäftstüchtigen Poeten zu fertigen hatte, lediglich ein besseres Handgeld. Für sie gilt womöglich, was Ernesto Cardenal in einem Gedicht die „Würde der leeren Regale“ genannt hatte: ein pseudochristliches Umdefinieren von Armut in inneren Reichtum.

Besser nur murmeln

Eines weiß man in den Hütten und in der kleinen Restaurantbar auf der Insel San Fernando ganz genau: Besser ist es, sich nicht mit dem Cardenal-Clan anzulegen, dem über die in Managua ansässige Stiftung APDS (Verein für die Entwicklung von Solentiname) ein Großteil der Ländereien gehört. All dies aber wird eher gemurmelt, schließlich möchte man nicht auf Grund von Denunziationen kurzzeitig im Festlandgefängnis von San Carlos verschwinden.

So ist es kürzlich erst dem jungen Bauern Adrian geschehen. In einem Schaukelstuhl auf seiner von Palmenbäumen gerahmten Veranda sitzend, sagt Adrian nun: „Ernesto Cardenal wollte Liebe und Gott bringen, aber er brachte Hass und den Teufel.“

Unvergessen ist auf der Insel auch das Schicksal von Manuel, der als eifriger Jünger einst an den kollektiven Bibelstunden von Cardenal teilgenommen hatte. 1990 jedoch verloren die Sandinisten die freien Wahlen, und unter den Funktionären begann das große Raffen von Landbesitz. Die Geschichte endete damals mit Manuels Vertreibung von der nahe gelegenen Insel Zapatillo, nachdem man ihm die kleine Hütte mitsamt seiner wenigen Habseligkeiten und seiner stets gehüteten Bibel einfach angezündet hatte – während der mit Vortragsreisen und dem Schreiben von Gedichten weiterhin viel beschäftigte Ernesto Cardenal schwieg und das Verbrechen somit deckte.

Marx und Lenin stauben ein

Wäre diese Geschichte lediglich eine Parabel von intellektueller Hybris, wir müssten uns am Ende des Bootsstegs auf der Insel Mancarron jetzt einfach rechts halten. Vorbei an der bunt bemalten, aber verwaisten Kirche. Dort sitzen nur noch ab und zu ein paar amerikanische Revolutionsnostalgiker, um unter Gitarrenbegleitung und mit Gringoakzent von „el pueblo“ und „la revolución“ zu singen und des abwesenden Padre Cardenal zu gedenken, der hier einst seine Gottesdienste zelebrierte. Wir würden im spinnwebenübersäten Raum der Biblioteca Ernesto Cardenal stehen, knarrende Vitrinentüren öffnen und sehen, was der Dichter da „seinen“ Bauern als Geschenk vermacht hatte. Die eigenen Bücher nämlich, in diversen Übersetzungen, darunter selbstverständlich Dutzende Werke aus dem Peter Hammer Verlag. Keiner der Bauern kann sie lesen. Immerhin gammeln die Bücher von Lenin, Marx und Kim Il-sung wenigstens in spanischer Übersetzung vor sich hin. Ein zynischer Trost.

Aber die Geschichte des Inselarchipels ist nicht nur Hybris, sie handelt von Verrat und Raub – vielleicht auch von Mord.

Auf der Gedenkplatte des Grabsteins von Alejandro Guevara auf der kleinen Insel Mancarron wird der Ruhm des einstigen Helden von San Carlos besungen. In dem Festlandort hatten im Morgengrauen des 13. Oktober 1977 der damals blutjunge Alejandro und seine Frau Nubia eine Handvoll Inselwiderständler angeführt, die eine Kaserne des Somoza-Regimes gestürmt und damit ein unverzichtbares Fanal für die landesweite Revolte gesetzt hatten. Danach flohen die beiden ins Exil nach Costa Rica, wo die zwei Idealisten in den sandinistischen Emigrantenzirkeln um Padre Cardenal geradezu hofiert wurden. Nach der Revolution von 1979 auf den Archipel von Solentiname zurückgekehrt, kümmerte sich Nubia um den Aufbau einer neuen Bauerngemeinschaft, während Alejandro Gouverneur für das Gebiet San Carlos wurde. Seine Amtszeit war geprägt von einer komplexen Mischung aus Machtmissbrauch einerseits und Alphabetisierungskampagnen und wirklicher Hilfe für die Armen andererseits.

Unchristliche Methoden

Weshalb aber schauen sich dann die Bewohner der Insel erst vorsichtig nach allen Seiten um, ehe sie den 24-jährigen Felipe begrüßen? Er ist doch der Sohn des Helden Alejandro und ein Neffe des später von Contras ermordeten Laureano, dessen Taten Ernesto Cardenal so gern bei Lesungen in Deutschland aus einem Langgedicht vorträgt. Weshalb also diese Furcht? Weil hier auf dem gesamten Archipel das sizilianische Gesetz der Omertà gilt – Stillschweigen, einer deckt den anderen. Alejandro Guevara war irgendwann beim mächtigen Cardenal-Clan in Ungnade gefallen und 1993 unter äußerst dubiosen Umständen bei einem angeblichen Autounfall ums Leben gekommen. Und seine Witwe Nubia heiratete ein paar Jahre später den Deutschen Immanuel Zerger. Der Sozialpädagoge aus dem Allgäu und christlich engagierte Nicaragua-Aktivist der ersten Stunde verströmte dem einflussreichen Clan zu wenig Stallgeruch und schien mit tatsächlich basisdemokratischen Vorschlägen dessen Herrschaft über die Insel zu bedrohen. Nubia und ihre ganze Familie wurde dann von Schlägerbanden und mit nächtlichen Schüssen aus dem kleinen Inselhotel, das sie sich aus eigener Kraft aufgebaut hatten, vertrieben.

Immanuel Zerger betreibt seit der Vertreibung aus Solentiname inzwischen ein mittelständisches Reiseunternehmen in Managua. Er neigt schon aufgrund seiner protestantischen Sozialisation nicht zum großen Rhetorikaufmarsch. Dennoch sagt er: „Der Mann, dem ich in Deutschland bei einem Kirchentag sogar einmal als Übersetzer diente, den ich für den integren Künder einer gerechten Sache gehalten hatte und für dessen Land ich und meine Freunde aus der christlichen Solidaritätsbewegung geschwitzt, gearbeitet und gespendet hatten – dieser ehemalige Pater entpuppte sich nun als schlimmster Latifundista. Er ließ Nubia und die Kinder sogar unter dem Gebrauch von Waffen und Drohungen aus ihrem eigenen Haus vertreiben. Und das nur, weil er den Immobilienbegehrlichkeiten des von ihm genährten Clans genügen wollte oder musste und sich um alte Loyalitäten aus dem Anti-Somoza-Kampf längst nicht mehr scherte. ‚Geh!‘, hatte er zum Abschied Nubia mit priesterlicher Pose zugerufen und sie somit von sich und den Seinen verstoßen. Diese Archaik muss man sich mal vorstellen!“

In den Folgejahren war Immanuel Zerger damit an die Öffentlichkeit gegangen – jedoch prompt von Cardenal verklagt worden, der sogar einen Haftbefehl gegen den unliebsamen Zeugen erwirkte. Gleichzeitig versuchte des Dichters deutscher Freundeskreis alles, um hiesige Zeitungsmeldungen über diesen Skandal unglaubwürdig zu machen. Inzwischen hat Zerger alle Prozesse gewonnen, was Ernesto Cardenal allerdings die Möglichkeit gibt, sich nun als verfolgter Ortega-Kritiker zu gerieren, obwohl diese Geschichte weder mit der Opposition noch mit der gegenwärtigen Regierung zu tun hat.

Oder vielleicht ja doch, denn das kleine Inselhotel wird weiter seinen rechtmäßigen Besitzern vorenthalten. Heldensohn und rechtmäßiger Erbe Felipe Guevara tut womöglich gut daran, am nach wie vor okkupierten Platz seiner Kindheit mit etwas schnellerem Schritt vorbeizulaufen. Was aber flüsterte ihm einer der Bauernmaler ins Ohr? „Du wirst sehen, irgendwann kommt ihr zurück, dann kommt die Gerechtigkeit.“ Es ist das alte Lied, deprimierend in seiner stets aufs Neue enttäuschten Hoffnung. Ernesto Cardenal aber, wie es im Genre heißt, Ernesto Cardenal ist ein ehrenwerter Mann.

Dieser Text erschien zuerst in der WELT.