Die Blauen haben Erfolg. Ohne die programmatische Schwindsucht der Roten wäre das nicht passiert.

„Tempora mutantur et nos mutamur in illis“ ist eine dieser schönen lateinischen Sentenzen, mit der man ohne großen Aufwand humanistische Bildung demonstrieren kann. Dem Satz haftet etwas Kalenderspruchhaftes an, unter anderem weil seine Botschaft in ihrer Beliebigkeit zeitlos ist: Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns mit.

Ein schönes Beispiel dafür ist die AfD, everyone’s favorite party. Dazu an dieser Stelle eine Einladung an den Leser: Wir nehmen uns einmal alle an den Händen und versuchen gemeinsam das Lachen zu unterdrücken, wenn wir uns erinnern, dass der AfD in grauer Vorzeit einst das Image einer „Professorenpartei“ anhaftete. Heute tritt die AfD nicht so professoral auf, hat dafür aber etwas, das sie unter Lucke nicht hatte: Erfolg.

Das wiederum hebt sie merklich von der Linken ab, für die 2016/17 bisher keine gute Wahlsaison war. Erst scheiterte im Juni die Bremain-Kampagne, dann fuhr im November Hillary Clinton ihre Kandidatur vor die Wand. In der zurückliegenden ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahl wurden nun die Sozialisten pulverisiert, und auch das kumulierte Ergebnis gemeinsam mit Mélenchon, dem Lafontaine für noch Ärmere, war mit etwa 25 Prozent im Grunde lächerlich. Von den Aussichten für Labour reden wir lieber nicht, und bei uns in Deutschland würde es im Herbst schon als großer Erfolg gewertet, wenn drei linke Parteien zusammen eine knappe Mehrheit der Bundestagssitze erringen könnten.

Über die Gründe für diese Entwicklung schlagen die Experten sich seit Langem. Ein Meta-Narrativ hat sich inzwischen weitgehend durchgesetzt: Es sind zwar nicht alle populistischen Wähler arm, aber die Angehörigen der unteren sozialen Schichten haben doch in zunehmendem Maße zu populistischen Wahlerfolgen beigetragen. Man könnte trefflich darüber dozieren, wie diese Wähler sich ins eigene Fleisch schneiden – Stichwort Medicaid – aber wir wissen ja inzwischen alle, dass es überhaupt nicht um Fakten geht, sondern um Gefühle, und zwar ganz spezifisch um Wut. Neu ist, dass diese Wut heute zu den Populisten abgeleitet wird statt wie traditionell üblich zur Linken. Das musste schon die Linkspartei schmerzlich erfahren, die sich vergangenes Jahr aufgrund der Wählerwanderung zur AfD bereits gezwungen sah, ihre Machtübernahme in Sachsen-Anhalt bis auf Weiteres zu verschieben.

Der heiße Scheiß einer identitären Linken

Die Gründe dafür liegen auch bei der Linken selbst. In Deutschland, einem Land also, das echten Mangel seit Generationen hinter sich gelassen hat, ist der von Entbehrungen geplagte Arbeiter als klassische linke Projektionsfläche schon vor Jahrzehnten ausgestorben. Spätestens mit dem Ende der Sowjetunion trat an die Stelle der proletarischen Utopie eine ökologisch-egalitäre, befeuert auch von der erfolgreichen Etablierung der Grünen. Da die Natur sich aber nicht bedanken kann und somit als Mündel gewisse Nachteile mitbringt, wurde man auf der Suche nach den neuen Benachteiligten dieser Welt schließlich bei der Minderheit als solcher fündig. Statt über in Korbflaschen gesteckte Kerzen am WG-Tisch abendelang Marx zu diskutieren, bog der neulinke Aktivismus lieber dezidiert antihegelianisch ab und wandte sich der individuellen Identität zu, die auf dem Schlachtfeld unserer Zeit ständig neu definiert und erkämpft werden muss. Die in diesem Kampf erworbenen Narben, die als „Diskriminierungserfahrungen“ bekannt wurden und deren Überlappung im Modewort Intersektionalität Debattenfähigkeit gewann, wurden schnell der heiße Scheiß einer neuen, identitären Linken.

Während diese kulturwissenschaftliche Linke oder „KWL“ ihr postmodernes Happening abhielt und eine Diskriminierungsquelle nach der anderen erfolgreich wegdefinierte, erlebte der notleidende Proletarier eine für alle überraschende Renaissance. Er trat nun in Form des arbeitslosen „Globalisierungsverlierers“ neu auf. Als solcher war er eigentlich kein schlechter Mensch, weder automatisch homophob noch ein Befürworter von Umweltverschmutzung, aber er interessierte sich eben auch nicht besonders für Windradsubventionen oder Intersektionalität. Ihn interessierte ein neuer Job. Hilfesuchend ging sein Blick zur Linken – doch die hatte keine Zeit. Sie war zu beschäftigt damit, eine Grundsatzentscheidung im Fall „Gendersternchen oder Binnen-I“ zu treffen. Nicht nur dem Arbeitslosen wurden solche Debatten schnell zu abstrakt. Auch anderen drängte sich, bei allem Commitment zur gesellschaftlichen Emanzipation, allmählich die Frage auf: Profitieren nicht auch LGBTs von einer funktionierenden Wirtschaft und gut bezahlten Arbeitsplätzen am Ende viel mehr als von endlosen Partikulardiskussionen?

Postmaterialismus im Überfluss

Eine Linke, die an der Urne und in der Gesellschaft insgesamt wieder reüssieren wollte, müsste sich somit von ihrer programmatischen Fixierung auf Ökologie und Intersektionalität lösen und auch jener großen Mehrheit wieder ein Angebot machen, die sich mit dem Kampf für Minderheitenrechte durchaus verbunden fühlt, selbst aber über nur eine, mit dem biologischen Geschlecht übereinstimmende Genderidentität verfügt und mehrheitlich heterosexuell, oftmals noch weiß und schlimmstenfalls männlich und religiös ist. Diese Gruppe zu bespielen, gilt in der Linken heute allerdings als profund uncool, da sie diversity-technisch im Minus ist und nicht zuletzt deshalb auch als potenziell reaktionär gilt. Daher schwelgt man lieber weiter im Postmateriellen. Darüber, dass das nur ein Fez ist, solange das Einkommen stimmt, schweigt man in der Linken höflich, und dass es Menschen gibt, denen schnödes materielles Fortkommen mehr am Herzen liegt als das hehre Ziel einer ökologisch nachhaltigen und gendergerechten Gesellschaft, ist für viele Linke so unvorstellbar wie unverzeihlich.

Dies zeigt sich auch in politischen Entscheidungen, wenn die Linke mal regiert. In Berlin, bekanntlich alles andere als Deutschlands Wirtschaftsdynamo, begann die rot-rot-grüne Rathauskoalition ihre Regierungszeit nicht etwa mit einer Initiative zur Digitalisierung oder zur Modernisierung maroder Infrastruktur, sondern mit der Einführung von Unisex-Toiletten in Ämtern. Das muss man nicht per se schlecht finden, aber in einer Stadt wie Berlin, in der es weißgott genug echte Probleme gibt, ging von diesem Schritt eine klare Signalwirkung aus. Ähnlich wie in Berlin scheint linke Politik Visionen heute oft nur noch in vollendetem Utopismus formulieren zu können: Um die Sicherheit am Leopoldplatz kümmern wir uns, wenn wir die Homophobie ausgemerzt haben. Mit der Hyperindividualisierung hat die identitäre Linke ironischerweise auch den Liberalismus historisch überholt, bis zu dem Punkt, da neben dem Individuum und seiner absolut gesetzten Selbstfestlegung nichts mehr bestehen darf. Dass damit das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wurde, ist offensichtlich.

Rituale und Visionen

Womit wir wieder bei der AfD wären. Nachdem die „Professorenpartei“ eine Alternative zu Bernd Luckes Fistelstimme gefunden hatte, ging es bekanntlich stramm nach rechts. Heute versteht die AfD sich weniger als Alternative zum Euro, sondern eher zum „links-rot-grün-verseuchten 68er-Deutschland“ (Co-Parteichef Jörg Meuthen). Was als wirtschaftspolitische Intellektuellenkritik begann, brachte eine Bewegung in Gang, die sich als viel grundsätzlicher versteht und ihr missliebige Zugeständnisse an den Zeitgeist kompromisslos rückabwickeln will. Es liegt eine gewisse Komik darin, dass die AfD damit das genaue Gegenteil ihrer ursprünglichen Intention erreicht hat: Kritik an wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Prioritätensetzungen der Linken geht sofort jede Legitimität verloren, wenn die Betroffenen sie einfach ad absurdum bis in die Gesichtszüge Björn Höckes verlängern. Sowohl das Projekt der ökologisch-identitären Linken als auch die Kritik daran sind damit praktisch erledigt. Beide Seiten drehen einander unermüdlich durch die Diskursmühle und schaukeln sich, wie zuletzt in Köln, als eingespielte Gegner zuverlässig und genüsslich gegenseitig hoch.
Wer dagegen Visionen jenseits von Utopien einer durchkollektivierten oder -atomisierten Gesellschaft sucht, der muss sich einer schmaler gewordenen politischen Mitte zuwenden, die genau zur Unzeit von Linken und Rechten mit ihren abwegigen Heile-Welt-Ideen geflutet wird. Eine konstruktive politische Arbeit, die zugleich auf gesellschaftlichen Zusammenhalt und individuelle Freiheit abzielt, wird in unserer Zeit nicht leichter – aber dafür umso wichtiger.