Die Zusammensetzung der Polit-Talkshows hat sich seit dem offenen Angriff auf die Ukraine schlagartig verändert. In den Debatten nach 2014 über die Rolle Russlands im Donbasskrieg standen viele Gästelisten einer konsequenteren Russlandpolitik noch im Weg. Das soll jetzt anders werden, doch vieles dreht sich weiter im Kreis.
Teil 4 des Tagebuchs von Marcus Welsch.

Bei manchen Themen empfiehlt es sich, sie echten Experten zu überlassen. So wird die Diskrepanz zwischen dem, was der Bundeswehr an Waffen zur Verfügung stand, was die Rüstungskonzerne anboten und was die Bundesregierung im Vergleich zu anderen Regierungen wann zu liefern gewillt war, die Historiker noch beschäftigen.

Schon jetzt aber hat die Diskussion darüber in den politischen Talkshows in Deutschland vor allem gezeigt, dass schnell angelesenes Halbwissen über Waffensysteme, die wie Details aus Brehms Tierleben aufgezählt werden, nicht zu mehr Klarheit führt. Puma, Leopard, Marder, am Schluss war es der Gepard: Die Namen waren bekannt, die Geberkonferenz der Verteidigungsminister in Ramstein überraschte trotzdem mit Fakten, die niemand auf dem Zettel hatte. Das ist vermutlich auch besser so.

Der Kreml will uns einschüchtern

Problematisch ist dagegen der Umstand, dass in der öffentlichen Debatte zunehmend Affekte bemüht werden, die alle Bemühungen, der Ukraine zu helfen, ad absurdum führen. Die Angst vor einem großen Krieg etwa dient vor allem dem Kreml, der damit die Unterstützung für Kiew torpedieren will. Dabei gilt eine Ausweitung des Kriegs beispielsweise auf die Staaten der EU unter Fachleuten eher als unwahrscheinlich. Die russischen Einheiten, die sonst das Baltikum bedrohen könnten, sind etwa längst im Donbass gebunden – nachdem sie zuvor auch in Butscha eine Rolle gespielt haben.

Der Krieg geht in seine zehnte Woche, und die anfängliche Schock- und Empörungswelle ist einer Dynamik der Bedenkenträger gewichen. Verstärkt wurde dies noch durch Bundeskanzler Scholz und seine unüberlegten Formulierungen: Erst befeuerte er in einem Interview mit dem SPIEGEL der Deutschen Lieblingsangst vor dem Atom-Tod, dann beschloss die Bundesregierung punktgenau, wovor Scholz eben noch gewarnt hatte, und lieferte schwere Waffen. Das Kommunikationsdesaster war perfekt.

Deutschland hinkt hinterher

Es ist ein altes Phänomen: Die anderen halten den Kopf hin, und wir Deutschen haben Angst. Dabei war German Angst – zum Glück – noch nie ein Exportschlager. Vielleicht auch ein Vorwand nicht handeln zu müssen? Man fragt sich im Ausland erneut, ob wir hier grundlegend überfordert sind oder uns einfach der Durchblick fehlt.

In den östlichen EU-Ländern behält man dagegen einen kühlen Kopf. Ein Strategiewechsel der NATO wurde hier längst eingefordert – von der gegenwärtige „Forward Presence“, die lediglich einen besseren „Stolperdraht“ darstellt, zu einer echten Verteidigungsstrategie an den östlichen Grenzen der EU bzw. der NATO. Man beachte, dass die estnische Ministerpräsidentin, die diese Umstellung kürzlich anmahnte, sich nicht gegen den Einfluss von Deutschland aussprach. Im Gegenteil: Sie verlangte eine klarere Führung Deutschlands in Europa. In der deutschen Debatte wird derlei nur sehr zögerlich diskutiert.

Dabei hat der Krieg längst eine sichtbare Wende bewirkt, die Zusammensetzung der politischen Talkshows hat sich seit dem 24. Februar schlagartig geändert. Seitdem sind Sicherheitsexperten gefragt, die sich seit Jahren mit Russland beschäftigen, die Ahnung statt nur einer Meinung haben und die eben nicht lediglich Kreml-Narrative wiedergeben. Inzwischen kommen vermehrt Stimmen zu Wort, die seit langem vor der aggressiven Außenpolitik Putins gewarnt haben. Bekanntestes Beispiel ist der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk: Er erhält plötzlich die große Aufmerksamkeit, die ihm während acht Jahren russischer Kriegsführung in der Ostukraine nicht zuteilgeworden war.

Gesichter, die niemand vermisst

Wie die Zeiten sich geändert haben, wird aber vor allem daran deutlich, wer nicht mehr eingeladen wird: Harald Kujat, Gabriele Krone-Schmalz oder besonders russlandfreundliche Vertreter der Linkspartei waren bis kurz vor Putins Überfall häufige Gäste in den TV-Runden. Jetzt möchte man auf ihr Urteilsvermögen offensichtlich lieber verzichten.

Dass das bis vor Kurzem noch anders war, verdeutlicht allerdings auch, wie sehr in Deutschland lange Zeit ein Klima der Ahnungslosigkeit und des Wegschauens gegenüber der offensichtlich aggressiven Politik Russland vorgeherrscht hat; die politischen Talkshows im öffentlich-rechtlichen Fernsehen hatten daran einen erheblichen Anteil. In der Zeit vor der Katastrophe 2022 haben sie gegenüber Putins Russland nie eine eindeutige Haltung entwickelt, das redaktionelle Vorgehen glich eher einem multiperspektivischen Durcheinander. Dabei wäre eine konsequentere Analyse vonnöten gewesen, auf deren Basis ein konsensuales Handeln hätte aufbauen können.

Stattdessen wurde systematisch Putinverstehern und -relativierern in den Talkshows ein Podium geboten. Ein falsch verstandenes Ideal des gefälligen Austausches von Standpunkten, der schnell zum beliebigen Pro-und-Kontra ohne jegliche Konsequenz verkam, trug bis zuletzt dazu bei, eine klarere Haltung gegenüber Russland zu verhindern.

Lobbyisten erklären die (russische) Welt

Das wird spätestens dann offensichtlich, wenn man sich die Mühe macht, öffentlich-rechtliche Talkshows zum Konflikt zwischen der Ukraine und Russland genauer auszuwerten. Vom Zeitpunkt der Besetzung der Krim im Frühjahr 2014 bis zum Abend unmittelbar vor dem Angriff am 24. Februar sendeten ARD, ZDF und Phoenix über 100 Talkshows und Gesprächsrunden zur Politik Russlands. Unter den über 200 Gästen, die an diesen Runden teilnahmen, konnte sich ausgerechnet der Gazprom- und Putin-Lobbyist Alexander Rahr über die meisten Einladungen freuen. Auch die weiteren Stammgäste leisteten keinen Beitrag zu echter Ausgewogenheit: Unter den Top 10 der am häufigsten vertretenen Studiogäste fallen mit Dietmar Bartsch, Hubert Seipel, Gabriele Krone-Schmalz, Dmitri Tultschinski und Harald Kujat eine Reihe Redner auf, die durch eine dezidiert verständnisvolle und nachsichtige Haltung zur russischen Politik hervorgetreten sind – um es diplomatisch auszudrücken. Man hatte nicht einmal ein Problem damit, den seinerzeitigen Chefredakteur von RT Deutsch, Ivan Rodionov (sein Motto: „Begegnen wir der Zeit, wie sie uns sucht“) über Jahre in den Talkrunden als Russland-Experten zu hofieren.

Dabei ist das Grundproblem seit langem bekannt: Viele der bekannteren Sendungen verfügen schlicht über keine nennenswerte außenpolitische Expertise, mit der Folge, dass man sich in der Einladungspolitik eher auf Instinkt denn auf die längst zur Verfügung stehenden unabhängigen Empfehlungen verlassen zu haben scheint. Die Analysen von Institutionen wie der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) oder dem European Council on Foreign Relations (ECFR), ebenso die zahlreichen Tagungen zur Ukraine und zum Konflikt mit Russland sowie schließlich auch die einschlägigen Bände der Zeitschrift „Osteuropa“ scheinen an den verantwortlichen Redaktionen spurlos vorübergegangen zu sein. Seit 2014 wurde aktiv Sachverstand ignoriert und stattdessen so mancher Zirkus organisiert, in dessen Manege die tollsten Verdrehungen den meisten Applaus erhielten. Erst jetzt, da das Kind in den Brunnen gefallen ist, sind die Vertreter der Fachinstitutionen plötzlich zu gefragten Gesprächspartnern geworden, die sich in der knappen Sendezeit nicht mehr mit Russlandverstehern und Lobbyisten herumschlagen müssen.

Protest schon 2015

Niemand kann so tun, als habe er nichts gewusst. Bereits im Februar 2015 richteten verschiedene Osteuropa-Experten einen gemeinsamen Brandbrief zur informationellen Schieflage an die Redaktion von „Anne Will“; zu einem Zeitpunkt, als die Verantwortung Russlands für die fortgesetzten Angriffe im Donbass längst offensichtlich war. Die Forderung, mehr echte Fachleute an den Diskussionen zu beteiligen, wies der damalige Chef vom Dienst bei „Anne Will“ jedoch zurück: Man sei bereits um Ausgeglichenheit bemüht.

Nicht allein die Fachexperten protestierten, auch die Printpresse übte Kritik an der Einladungspolitik der deutschen Talkshows zum euphemistisch so bezeichneten „Ukraine-Konflikt“. Bereits im März 2014 fragte der Tagesspiegel, warum in den Sendungen von Frank Plasberg keine Ukrainer eingeladen wurden, der bereits erwähnte Chef-Propagandist Rodionov aber sehr wohl. Dass die Redaktion es obendrein nicht einmal für nötig hielt, ihr Publikum darauf hinzuweisen, dass Rodionov eben kein normaler Journalist war, sondern in Diensten des russischen Staates stand, passte noch ins Bild.

Mit Böcken übers Gärtnern sprechen

Ergebnisse zeitigte diese Kritik jedoch nicht. Über Jahre wurde Rodionov immer wieder eingeladen und konnte u.a. bei Anne Will, Maischberger und Beckmann weiter vor einem Millionenpublikum Putins zynische Sicht der Dinge darlegen. In den Phoenix-Runden war Rodionov am meisten präsent, genauso wie der ebenfalls erwähnte Alexander Rahr. Rahr, der sich rühmte, im Waldai-Club regelmäßig mit Putin zu verkehren, war dabei mehr als ein einfacher Russland-Versteher, sondern setzte sich als Gazprom-Lobbyist aktiv gegen westliche Sanktionen ein. In den Gesprächsrunden streute er systematisch mit falschen Beschreibungen der Minsk-Verhandlungsrunden und absurden Unterstellungen gegenüber der NATO Sand ins Getriebe; die Moderation nahm es meistens hin. Eingeordnet wurden seine Verdrehungen so gut wie nie.

Besonders lohnend ist im Rückblick die Phoenix-Sendung am Tag direkt vor Kriegsbeginn. Hier wiederholte Rahr („Berater für EU-Angelegenheiten von Gazprom in Brüssel“) erneut seine Ansicht, dass die NATO-Osterweiterung die Mutter aller Probleme gewesen sei. Hingegen hätten alle seriösen Leute in Russland ihm gegenüber beteuert, es werde nie einen Angriff auf die Ukraine geben, und Bombardements seien unvorstellbar. Wenn überhaupt, ginge es um den Donbass. Einen Tag vor dem Überfall auf die Ukraine, während die Motoren der russischen Panzer im Grenzgebiet schon warmliefen, wurde hier dem hanebüchenen Politikverständnis eines Lobbyisten eine Bühne geboten, der vor laufender Kamera den Wunsch ehemaliger Sowjetstaaten nach Aufbau einer dauerhaften demokratischen Ordnung als „Ukraine-Hype“ abtat. Worin besteht der Sinn einer Weigerung, die AfD ins Studio zu holen, wenn ein solches Demokratieverständnis mit Blick auf Osteuropa dem doch in nichts nachsteht? Sieht so das kritische Selbstverständnis eines Senders mit öffentlichem Auftrag aus? Die Krönung der Absurdität bot schließlich Moderatorin Anke Plättner, die in ihrer Hilflosigkeit noch den Vorschlag an Rahr weiterreichte, womögliche solle doch die Bundesregierung Gerhard Schröder mit Verhandlungsmandat nach Moskau schicken. Von der Geschichte wurde dieser Gedanke bald überholt.

Redaktionen in Verweigerungshaltung

Es wäre durchaus kein journalistischer Fehler gewesen, auch die Thesen zu überprüfen, die Alexander Rahr im russischen Fernsehen vertrat; sie zu finden, ist nicht schwer. Dennoch herrscht auf deutscher Seite bis heute eine Verweigerungshaltung vor. Dass die Überraschung darüber, was Russland tatsächlich mit der Ukraine vorhatte, jetzt überhaupt so groß sein kann, lässt sich nur mit fehlender kultureller, sprachlicher und politischer Kompetenz sowie einem verselbstständigten Hang zur Relativierung erklären. Vernichtungsrhethorik gegenüber der Ukraine war im russischen Fernsehen schließlich über Jahre hinweg und zu den besten Sendezeiten präsent. Man darf in jedem Fall gespannt sein, welche Konsequenzen die Programmleitung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens langfristig aus diesem Versagen zieht. Was die Osteuropa-Expertise betrifft, ist der Nachholbedarf groß.

Immerhin, seit dem 24. Februar sieht man andere Gesichter. Nicht nur gemessen an Kujat, Rodionov und Co. sind die Darlegungen der SWP-Fachleute und von hervorragenden Journalistinnen wie der langjährigen Ukraine- und Russland-Korrespondentin Alice Bota eine Wohltat. Was Bota zu berichten hat, weist aber zugleich noch auf ein weiteres Problem hin: Sie berichtet auch, wie ihr über Jahre hinweg das Leben bei der kritischen Berichterstattung über Russland schwer gemacht wurde. Solche Drohungen und hybriden Angriffen auf Redakteure und Journalisten, die nicht nachgelassen haben, auf die verbrecherischen Manöver des Kreml hinzuweisen, wird man ebenfalls aufarbeiten müssen. Vieles, was im Printjournalismus bereits seit 2014 ausführlichst erklärt wurde, findet in einer breiteren Öffentlichkeit und gerade im Fernsehbereich erst jetzt überhaupt Beachtung. Es ist eine späte, aber bittere Genugtuung, dass die wichtigsten Streiter für ein kompetentes und vollständiges Russlandbild jetzt endlich ausführlicher zu Wort kommen.

Man darf gespannt sein, ob diese Entwicklung von Dauer ist.


Unser Gastkolumnist Marcus Welsch war in den letzten zehn Jahren Dutzende Male in Polen, der Ukraine und anderen Staaten Mittel- und Osteuropa unterwegs. Er ist als Dokumentarfilmregisseur oft mit dem ukrainischen Schriftsteller Serhij Zhadan durch den Osten seines Landes gefahren. Warum ihn jetzt das Reden in Deutschland über Krieg und Frieden um den Schlaf bringt, beschreibt er hier in einem mehrteiligen Tagebuch.

Hier geht es zu Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 5 und Teil 6 des Tagesbuches.