Tolldreiste Täuschungen
Der Antisemitismus treibt nicht erst seit dem 7. Oktober sein Unwesen. Er hat schon in den Jahren zuvor strategisch geschickt seine Positionen bezogen. Und wird immer mehr zu einer Bedrohung.
Die extreme Rechte kann sich gerade glücklich schätzen. Sie braucht sich in ihrer ältesten aller menschenverachtenden völkischen Obsessionen, dem Antisemitismus, gerade gar nicht ins Zeug legen. Sie frisst Kreide – mehr als die Felsen von Dover und Rügen hergeben –, schweigt (mit Ausnahme einiger AfDler) und überlässt den Rest der Hassarbeit der extremen Linken, die durch die Straßen, Medien und Universitäten zieht, um Israel und die Juden zu delegitimieren und zu dämonisieren.
Natürlich gibt es immer noch die Oldschool-Antisemiten in den Untiefen des Netzes mit ihren Weltverschwörungswahngebilden und den Lügengeschichten rund um Rothschild, Soros, Selenskyj, Hollywood, 11. September, den Weisen von Zion und was für ruchlose Absurditäten nicht noch alles. Aber so, wie im Jahr 1990 plötzlich alle Marxisten vom Erdboden verschwunden waren, so findet sich heute auch kein offen bekennender Antisemit mehr. Der Antisemitismus scheint ein Objekt ohne Subjekt zu sein. Gleichzeitig steigt die Zahl der antisemitischen Gewalt- und Straftaten, und da wir annehmen können, dass diese nicht von Außerirdischen begangen werden, muss jemand hienieden für diese auch verantwortlich sein.
Wenn diese Verantwortlichen so schwer zu finden sind, dann liegt das an einer Politik der Camouflage. Sie arbeitet mit ein paar tolldreisten Täuschungsmanövern. So wird gerne behauptet, dass es den Antisemitismus und seine Taten eigentlich gar nicht gebe, und wenn seine Feindseligkeit und sein Hass so offensichtlich sind, dass er nicht geleugnet werden kann, dann leugnet man trotzdem oder behauptet, es sei alles ein großes Missverständnis oder es waren vielleicht doch Außerirdische. Ein weiteres Mittel ist die Attributierung, mit dem man den Antisemitismus vorgeblich differenzierend erklärt, aber eigentlich relativiert. Da gibt es dann die Unterscheidung in einen „ontologischen“ und einen „kontextuellen“ Antisemitismus. Den ontologischen schreibt man allein den Rechtsextremen zu, den kontextuellen den Linken, die das Leid der palästinensischen Bevölkerung nicht ertragen. Warum diese das Leid der entführten, gequälten, vergewaltigten und ermordeten Israelis und Migranten vom 7. Oktober 2023 eskamotieren, ignorieren oder gar gutheißen und das Massaker einen Widerstandsakt nennen, bleibt das Geheimnis der „Kontextuellen“. Vielleicht liegt das Geheimnis in dem ontologischen Irrtum, dass fanatische Mörderbanden einen guten Grund haben müssen, ihr Hassobjekt, wie angekündigt, auszulöschen. Es soll des weiteren auch noch einen „akzeptierenden“, „sozialen“, residuellen, primären, sekundären, tertiären Antisemitismus geben. Vielleicht gibt es auch noch einen Barbecue-Antisemitismus, der sich in cocktailinduzierten Judenwitzen beim Grillen von veganen Burgern äußert. Ob linksgedreht oder rechtsgedreht, ob in Braun oder Regenbogenfarben – es gilt immer noch, was Hannah Arendt in ihrem Buch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ schrieb: „Der Antisemitismus ist genau das, was er zu sein vorgibt: eine tödliche Gefahr für Juden und nichts sonst.“
STRATEGISCHE SPIELFELDER
Und noch etwas sollte man nicht vergessen: Der Antisemitismus hat nicht erst am 7. Oktober begonnen. Seit etlichen Jahren schon macht er sich wieder ungeniert breit, kehrt aus seinen Ruheräumen zurück, natürlich ohne sich auf die Brust zu schlagen und zu rufen: Ich hasse die Juden! Die meisten Antisemiten sind viel subtiler. Sie besetzen und besitzen Diskursarenen und öffentliche Räume, und sie bestellen strategisch ihre Spielfelder. Es sind vor allem die folgenden: der Postkolonialismus, die Boykottinitiative BDS mit ihrer sympathisierenden Kunst- und Wissenschaftsszene, die Initiative Weltoffenheit GG 5.3, die Jerusalemer Erklärung und der Kampf um die deutsche Erinnerungspolitik (wenngleich nicht alle Akteure in diesen Feldern Antisemiten sind). Wie ist das im Einzelnen vor sich gegangen?
Der Postkolonialismus hat über Jahre den Boden bereitet mit der begrifflichen Auflösung des Antisemitismus in Rassismus, seiner dämonisierenden Definition Israels als einem weißen, rassistischen Siedler- und Apartheidstaat und der ebenso irrwitzigen wie relativierenden Ableitung des Holocaust aus dem Kolonialismus.
Der BDS hat zunächst in der Kunstszene und in der Folge auch in akademischen Kreisen permanent Druck ausgeübt und eine Art linkes Sektenmilieu geschaffen, in dem es zum guten Ton gehört, sich für einen Boykott von israelischen Künstlern und Universitäten einzusetzen. Wenn auch der künstlerische Bann auf Israel die meisten Menschen gar nicht tangiert (nur das Ansehen der eigenen Kunst leidet letztlich), so ist doch der fortan fehlende wissenschaftliche Austausch zwischen israelischen und westlichen Bildungseinrichtungen nicht nur für einen so potenten Wissenschaftsstandort wie Israel von Nachteil, sondern auch für die Forschung und Lehre an den Universitäten im Westen. Die Wissenschaft nimmt Schaden, die Gesellschaften nehmen Schaden – und unsere Feinde profitieren. Darum gibt es kaum etwas Dümmeres, als auf wissenschaftlichen Austausch zu verzichten. Wer so etwas propagiert, schadet den eigenen Institutionen. Trotzdem wächst die Zahl der Universitäten, die Partnerschaften mit israelischen Hochschulen aufkündigen oder inbrünstig schwören, niemals eine solche eingehen zu wollen.
Die sogenannte Initiative Weltoffenheit GG 5.3, die hier für viele einschlägige „Offene Briefe“ und „Statements“ stehen kann, hat nach dem Beschluss des Deutschen Bundestages, keine Veranstaltungen oder Initiativen zur Unterstützung des BDS mit öffentlichen Mitteln zu finanzieren, versucht, dies als ein Problem der Meinungsfreiheit darzustellen, bei dem „wichtige Stimmen beiseite gedrängt“ werden. Wieso eine antisemitische und antizionistische Bewegung wie die BDS-Kampagne, die nach der ersten Intifada in Palästina entstand, eine „wichtige Stimme“ ist, die mit öffentlichen Mitteln direkt oder indirekt gefördert werden soll, das bleibt weiterhin ein ganz, ganz großes Geheimnis der Unterzeichner aus Kultur und Wissenschaft.
Ein besonderes Augenmerk verdient der Kampf gegen die weltweit anerkannte Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance. Diese stellt u.a. fest: „Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden. Antisemitismus umfasst oft die Anschuldigung, die Juden betrieben eine gegen die Menschheit gerichtete Verschwörung und seien dafür verantwortlich, dass ‚die Dinge nicht richtig laufen’. Der Antisemitismus manifestiert sich in Wort, Schrift und Bild sowie in anderen Handlungsformen, er benutzt unheilvolle Stereotype und unterstellt negative Charakterzüge.“ Obwohl hier klargemacht wird, dass Kritik an Israel nicht per se antisemitisch sei, wird der Kampf gegen diese Definition von der sogenannten Jerusalemer Erklärung vorangetrieben und intensiviert. Warum? Diese Frage beantwortet die Jerusalemer Erklärung in ihren Leitlinien unter Punkt C selbst. Dort wird deutlich, dass man die uneingeschränkte und unwidersprochene Freiheit wünscht, den Staat Israel dämonisieren und delegitimieren zu dürfen und selbst die schmutzigsten Attacken reinzuwaschen als nachvollziehbar und plausibel: wie zum Beispiel die Rückkehr aller Palästinenser nach Israel, obwohl das die Juden zu einer Minderheit im eigenen Staat machen würde; die „Kritik an den Gründungsprinzipien“, obwohl das bedeutet, den Staat Israel per se infrage zu stellen; antijüdische Verschwörungstheorien wie „die Rolle, die Israel in der Region spielt, und jede andere Art und Weise, in der es als Staat Vorgänge in der Welt beeinflusst“ (sic) zu normalisieren usw. Das alles geschieht auf eine verschwiemelte, manchmal undeutliche, oft trickreich täuschende Art, bei der die wahren Absichten erst auf den zweiten Blick erkennbar werden. Letztlich will die Jerusalemer Erklärung vor allem linke, propalästinensische, postkolonialistische und von der BDS-Bewegung vertretene Forderungen und Positionen noch einmal repetieren, verstärken und als Common Sense etablieren. Und es geht um die Akzeptanz für die Verbreitung antisemitischer und antizionistischer Codes, die von Islamisten wie der Hamas und ihren Sympathisanten benutzt („From the river to the sea“) oder weit links wie rechts als eine Art globalistische Weltverschwörung verbreitet werden. Die Jerusalemer Erklärung ist ein einziger großer Persilschein für alle, die den Staat Israel von der Landkarte wischen wollen. Dieses Vorhaben kann man antisemitisch nennen, sicherlich antizionistisch, selbstverständlich gerissen, möglicherweise alles zusammen, aber ganz bestimmt gemeingefährlich – weil es den Antisemitismus stärkt, ihm Oberwasser gibt, ihn freikauft von seiner Verpflichtung zu menschlichem Anstand. Und weil es alle Antisemiten ermutigt, ihren Fliegenleim in den öffentlichen Diskursen immer dicker widerspruchsfrei und ungestraft auszulegen und Lügen über Israel und die Juden weiterhin zu verbreiten, selbst wenn die Gewalt gegen Juden außer Kontrolle gerät.
Und dann wäre da noch ein letztes Kampfgebiet: die deutsche Erinnerungskultur. Ein eher unauffälliges, scheinbar akademisches Feld aus dem Randgebiet der Politik. Warum ist es dann so wichtig für Antisemiten? Weil hier der Holocaust aus dem Zentrum unseres Erinnerns expediert werden kann und mit ihm die Verpflichtung für ein „Nie wieder!“. Weil hier, wie bislang geplant, der Kanon staatlichen Erinnerns erweitert werden und zum Beispiel solche Nebenthemen wie die „Geschichte der Einwanderungsgesellschaft“ oder, wie von einschlägigen Aktivisten gefordert, zum Beispiel die Nakba, also die Flucht und die Vertreibung der palästinensischen Araber nach dem Beginn des Krieges der Araber gegen Israel 1948, die gleiche Bedeutung haben sollen wie der Holocaust, also der systematische millionenfache Mord an den Juden. Dabei wissen wir doch schon seit Aristoteles, dass es falsch ist, Ungleiches gleich zu behandeln. Trotzdem nehmen die Forderungen zu, den Holocaust auf eine Stufe mit anderen Erinnerungskulturen zu stellen und seine Bedeutung damit zu reduzieren. Das heißt dann im aktuellen propalästinensischen Jargon: Deutschland auf die richtige Seite der Geschichte ziehen! Aber es gibt kein Richtiges in diesem Falschen.
DER LETZTE STROHHALM
Nicht zufällig findet man bei so manchen Aktivitäten von BDS, „Weltoffenheit“, Jerusalemer Erklärung, multikultureller Erinnerungspolitik und offenen Briefen von Hochschullehrern, die Zerstörungen und antisemitische Attacken als „legitime Kritik“ verteidigen, personelle Überschneidungen. Die Impulse und Aktionen auf den beschriebenen Kampfstätten bündeln sich zu einer gezielten Kampagne gegen Israel, jüdisches Leben und ein ziviles gesellschaftliches Miteinander. Was man offensichtlich in Gang setzen will, ist eine historische Dynamik, dessen Ende wir nicht kennen, aber mutmaßen können.
Der Antisemitismus ist für die radikale Linke der letzte Strohhalm vor dem Untergang, der Bedeutungslosigkeit, aber ein Strohhalm stark wie ein Schwert, mit dem man die Reste der kulturellen Hegemonie verteidigen will. Man missbraucht Israel und die Juden als die praktisch Schuldigen für alle Fälle: Israel als der Hort des weißen Kolonialismus und Rassismus und schuld an der Krise im Nahen Osten – nein, nicht die Palästinenser, nicht Iran, nicht Syrien, nicht die Hamas, nicht die Hisbollah, nicht Katar sind es, sondern die Israelis. Aber was den Antisemitismus der Linken gerade gefährlich macht, dass ist seine Bereitschaft, im Kampf gegen Israel und die Juden mit dem Islamismus zu kollaborieren. Auf Demonstrationen kann man das immer wieder erleben. Die Behauptung, ja, falsche Verheißung der Islamisten und anderer Rechtsextremisten, es trügen die Juden die Schuld an der Misere im Nahen Osten, und wenn sie weg wären, dann gäbe es Frieden und Freiheit und Wohlstand, aber zunächst müsse man ihnen Frieden, Freiheit und Wohlstand nehmen, bedeutet in Quintessenz: den Juden das Leben zu nehmen. In den letzten Monaten konnte man verfolgen, dass sich hinter dem diesbezüglichen Aktivismus Hass und Gewalt zwar meist noch zügeln lassen – aber danach drängen, auch hier ausgelebt zu werden.