Andrea Nahles ist keine Politikerin, die in den Annalen der SPD besondere Spuren hinterlassen wird. Aber sie trägt gewiss nicht die alleinige Schuld am Untergang ihrer Partei, der Deutschland viel zu verdanken hat. Ein Nachruf.

Vorgestern, also einen Tag, bevor Andrea Nahles der verdutzten Öffentlichkeit mitteilte, dass sie von allen politischen Ämtern zurücktreten werde, sprach ihr Parteikollege Andreas Geisel, Innensenator von Berlin, auf einer Protestveranstaltung gegen den antisemitischen Al-Quds-Marsch auf dem Kurfürstendamm. Geisel war nicht der einzige Redner auf dieser Veranstaltung – aber er war der einzige, der nicht zu verstehen war. Obwohl ihm die Menge immer wieder zurief, dass er lauter reden möge oder das Mikrofon neu ausrichten, war er nicht in der Lage, das Problem zu beseitigen, um gehört werden zu können. Der Innensenator machte einfach weiter, wie er begonnen hatte: taub für die Zurufe, sein Manuskript vorlesend, dessen Inhalt nur die Journalisten direkt vor der Bühne wahrnehmen konnten. Es schien, als besäße der SPD-Politiker nicht die einfachsten handwerklichen politischen Fähigkeiten, um die Menschen, die seine Worte hören wollten, zu erreichen. Als Philipp Scheidemann vor hundert Jahren an einem Fenster des Reichstages erschien und die Republik ausrief, war die Menge unten auf dem Platz größer, und er hatte kein Mikrofon – und doch konnten die Menschen ihn verstehen.

DIE PARTEI MIT DEN ZWEI HERZEN

Seit es die SPD gibt, schlagen zwei Herzen in ihrer Brust: eins für die Wohlfahrt ihrer Klientel, den Arbeiter; eins für die Stabilität des deutschen Staates. Darin lag eine Aufgabe und Verantwortung, die eine schwächere Partei schon früher zerbrochen hätte. Die SPD und die sozialdemokratische „Internationale“ haben sich jedoch sehr lange gehalten. So lange, dass das 20. Jahrhundert als das „sozialdemokratische“ bezeichnet werden kann: Die Arbeiter haben ohne aufreibende Klassenkämpfe ihren gehörigen Anteil am Kuchen bekommen, und die Wohlstandsdemokratien des Westens waren damit so erfolgreich, dass ihnen die konservativen Parteien in vielen Ländern programmatisch weitgehend folgten. Der Aufbruch der Jugend in den sechziger Jahren und die damit einhergehende Liberalisierung der Gesellschaft hob in Person von Willy Brandt den ersten Sozialdemokraten nach dem Krieg ins Kanzleramt. Doch schon 1983, nach dem Scheitern Helmut Schmidts, liefen rund eine Million Arbeiter ins Lager der CDU über – es sollte nicht der einzige und letzte Exodus sein. Im gleichen Jahr zogen die Grünen in den Bundestag ein und nahmen der Partei Stimmen bei der ökologiebewegten Jugend weg.

Die SPD ist mittlerweile in alle Richtungen ausgeblutet: Neben den schon genannten Parteien hat sie jene Wählerinnen und Wähler an die Linke verloren, denen die Sozialdemokraten zu sozialdemokratisch sind; an die AfD jene Arbeiter, Angestellte und Dienstleister, die sich von Globalisierung, Gender-Ideen und Flüchtlingen bedroht fühlen; und an die Nichtwähler jene, denen neoliberale Wahnsinnsideen wie Cross-Border-Leasing und die Aufgabe des sozialen Wohnungsbaus wie Teufelszeug erschienen. Da konnte nicht mehr viel bleiben: Der deutsche Arbeiter, von dem immer noch bei Parteitagen und in Interviews als das sozialdemokratische Maß aller Dinge die Rede ist, ist schon lange mit seinem Mittelklassewagen und seinem Reihenhaus echter materieller Sorgen enthoben. Und zum Dienstleister in der Paketzustellung, in Call-Centern und kleinen Startups hat die SPD schlichtweg den Kontakt verloren (und die meisten anderen Parteien ebenso).

Trotzdem gab es bei allen soziokulturellen Veränderungen auch in den vergangenen Jahrzehnten für die SPD Erfolge zu verzeichnen: in Kommunen, Städten, Bundesländern. Wenn die Programmatik weitgehend gleich war und auch die politische Ausgangslage, dann kann dieser Erfolg ja eigentlich nur an der jeweiligen Schwäche der Gegner oder der Attraktivität der eigenen Kandidatinnen und Kandidaten liegen.

DAS SCHERBENGERICHT

Womit wir wieder in Berlin wären und auf Bundesebene. Seit Sigmar Gabriel – warum eigentlich noch mal? – von seinem Amt als Bundesvorsitzender der SPD zurückgetreten ist, hat es in kurzer Zeit drei Vorsitzende gegeben: Schulz, Scholz, Nahles. Den Ersten hat man überschätzt, dem Zweiten will man nicht wirklich trauen, der Dritten glaubte man „als erste Frau an der Spitze der Partei“ den Gefallen tun zu können, weil sonst nämlich keiner den Arm hob und die Lage eh so beschissen ist. Aber es kann bekanntlich immer noch schlimmer kommen. Es gab viele wohlmeinende Stimmen, die die SPD warnten, Andrea Nahles könnte die Qualifikation für die anstehende Herkulesaufgabe, die Partei zu retten, fehlen. Schon früh merkte man, dass sie recht hatten. Aber nun bezahlen diejenigen, die Nahles eben noch ins Amt hoben, es ihr mit einem solch perfiden Scherbengericht, dass die Gescholtene ihre Siebensachen packt und das Weite sucht. Die Öffentlichkeit besieht das Geschehen und kann sich nur angewidert abwenden.

Welcher Masochist will solch ein Amt noch bekleiden? Welche Wählerinnen und Wähler wollen solch eine Partei noch wählen?

Es ist von Erneuerung allerorten die Rede – am lautesten in der Partei selbst. Aber von wo soll diese Erneuerung kommen? Mit wem? Und mit welchen Mitteln?

Die SPD ist am Ende. Wenn kein Wunder geschieht.