Ulf Poschardt hat gerade mit „Mündig“ eine Gesellschaftsanalyse aus der Ich-Perspektive vorgelegt. Durch diesen Individualismus-Ritt muss man einfach mal durch, findet unser Gastautor Nils Heisterhagen.

Ein Sozialdemokrat wird jetzt das Buch eines Liberalen rezensieren. Wer sich da wundert, warum man das tut, oder der dies nicht als adäquat empfindet, sollte erst recht dieses Buch lesen. Denn in diesem Buch geht es um Mündigkeit.

Halten Sie sich also bereit. Diese Rezension könnte Sie verunsichern, sie könnte Sie aus dem Tritt bringen. Sie könnte Ihnen Gewissheiten rauben. Wenn Sie davor Angst haben, dann lesen Sie jetzt nicht weiter. Aber wenn Sie sich verunsichern lassen wollen, lassen Sie uns gemeinsam auf die Reise zur Mündigkeit gehen.

Ein Buch über Mündigkeit, das versteht sich quasi von selbst, muss mit dem berühmten Immanuel-Kant-Zitat beginnen. So auch recht zu Anfang bei Ulf Poschardt. Er kommt immer wieder auf den Mann aus Königsberg zurück, der für viele der Vater des Liberalismus ist, weil er einst meinte, dass der Mensch ein krummes Holz sei, aus dem nichts ganz Gerades gezimmert werden könne. Mündigkeit, so Poschardt, könne daher immer nur ein Individuum sich selbst erobern. Mündigkeit kann einem nicht gegeben werden, nicht zugeteilt werden, man kann dazu nicht erzogen werden: „Mündig wird man in anderen und durch andere, aber nur ganz allein. Jeder muss sich selbst mündig machen.“ Oder wie er es an anderer Stelle forciert: „Mündigkeit ist also nichts für Feiglinge“.

Konsequent individualistisch

Mündig, so scheint es, kann also nur ein liberaler Held sein. So wirkt Poschardts Buch zuweilen. Liberalismus als Erlösung. Und gemeint ist ein Liberalismus des Ichs, nicht ein Liberalismus der Ordnung und der Regulierung, den etwa der Soziologe Andreas Reckwitz gerade mit seinem „einbettenden Liberalismus“ zu forcieren scheint. Ohne das Individuum kein Wir, ohne das Individuum keine Erneuerung. Ohne das Individuum ist alles Nichts. Das ist Poschardts Mündigkeit. Dieser Liberalismus ist eine gewisse Verführung. Aber Liberalismus oder Republikanismus muss am Ende eben auch immer Ordnungsinstanz sein. Nur so schafft er Hegemonie und kann sich den Populismen der Gegenwart erwehren.

Der Individualismus von Ulf Poschardt jedenfalls geht einem im Buch zuweilen manchmal auf die Nerven. Aber sein Individualismus ist kein selbstgerechter Individualismus. Das unterscheidet ihn von der neuen postmodernen Avantgarde. Poschardts Neoliberalismus (als Ausläufer seines Individualismus) ist für mich als linker Republikaner auch schwer zu ertragen. Vor allem wenn er Guido Westerwelle für seinen Sozialchauvinismus halb abfeiert oder vom „Verwöhnfell des Staates“ schwadroniert – ein Blick in Statistiken hätte ihm auch offenbart, dass der Neoliberalismus keine Erfindung ist, sondern manifeste Realität.

Sozial und mündig?

Ein Sozialstaat ist im Idealfall auch eben ein Instrument, welches Mündigkeit stärken kann und sie eben nicht verhindert. Sozialstaat stärkt Freiheit. Sozialliberale wissen das eigentlich. Unter Matthias Platzeck hat man in der SPD ja auch vom „vorsorgenden Sozialstaat“ gesprochen und Sigmar Gabriel fordert noch heute einen emanzipatorischen Sozialstaat. Also Mündigkeit und Sozialstaat, das geht schon zusammen. Diesen Gedanken lässt Poschardt aber kaum zu. Nur schüchtern blinzelt ein bisschen Sozialliberalismus bei ihm auf – im Kern scheint Poschardt aber doch eher neoliberal zu sein.

Gegen jeden Zeitgeist!

„Die Linke“ sowie die linken Intellektuellen kommen bei ihm auch eher nur als Nonkonformisten oder auf bürgerliche Anständigkeit pfeifende unangepasste Intellektuelle gut weg. Poschardt feiert linke Intellektuelle dann, wenn sie gegen den Zeitgeist bohren und wenn sie ihre Individualität ausleben, statt sich zum Sprachrohr der Zeitgeistwellen zu machen. Man kann sich Poschardt als begeisterten Fan von Jean-Paul Sartre vorstellen, wenn der mal wieder aus lauter Sonderbarkeit marxistische Flugblätter in Paris verteilte. Würde dieser Avantgardist des existenziellen Ich-Engagements noch leben, Poschardt würde in seiner Sonderbarkeit keine Naivität, sondern pure Freiheit erblicken.

Poschardt, für die bürgerliche „Welt“ als Chefredakteur im Einsatz, ist ein erstaunlicher Mann von innerer Freiheit. Für einen Bürgerlichen ist Poschardt wirklich ein krasser Typ. Frech, begeisternd, manchmal über die Stränge schlagend, tornadomäßig wild, aber auch halt irgendwie sympathisch in seinem Individualismus. Man nimmt dem Mann sein Plädoyer für mehr Individualismus ab, weil er auch einfach so ist. Er spielt es nicht, er täuscht nichts vor. Er war wohl noch nie groß anders. Selbst als er noch Chefredakteur des „SZ-Magazins“ war.

Ohne Rücksicht auf Sentimentalitäten

Im letzten Jahr erschien bei diesem SZ-Magazin ein Text über die alte Fernsehserie „Lucky Luke“.  In dem Text ging es darum, wie viel Sexismus und Rassismus in der Fernsehserie stecke. Gäbe es die „Goldene Himbeere“ (den Anti-Oscar und damit die Verleihung für die schlechtesten Filme und Schauspieler) auch für den Journalismus, der Text über „Lucky Luke“ wäre der Gewinner des Jahres 2019. Wäre Ulf Poschardt noch Chefredakteur des „SZ-Magazins“, dann hätte seine Individualität darin bestanden, der Journalistin, die den Text geschrieben hat, nicht nur zu sagen, dass dieser Text hier nicht gedruckt wird, sondern er hätte der Journalistin auch eine „Was soll der Scheiß“-Email geschrieben und ihr klargemacht, dass sie nie wieder für das SZ-Magazin schreiben darf, wenn sie noch mal so einen Quatsch anbietet. Und Poschardt würde genau das tun – ohne Rücksicht auf Sentimentalitäten. Für so eine Individualität darf man ihn eigentlich lieben. Klare Kante. Das fehlt ja dieser Tage auch.

Er kann auch eigentlich froh sein, dass er es von der „SZ“ zur „Welt“ geschafft hat. Denn in der neuen ökobürgerlichen Postille aus München wäre er so schnell ein Outlaw und Exkommunizierter wie man „Kein Tempolimit“ nur zu Ende sprechen kann. Die SZ ist längst auf dem Weg zur Parteizeitung der Grünen und Hausblatt für alle Schöngeister der Republik, die sich in regelmäßigen Abständen vom SZ-Feuilleton über die zärtlichsten Romane der Gegenwart und die neuesten Diskurse innerhalb der postkolonialen Kunstdebatte aufklären lassen wollen. Was einen aufregen könnte, liest man da schon lange nicht mehr. Ich habe es weitgehend aufgegeben, die Süddeutsche Zeitung zu lesen. Und als Linker müsste ich sie eigentlich lesen. Aber ich ertrage die Pädagogik der Zeitung nicht mehr. Ich will nicht erzogen werden. Ich will interessante Texte lesen. Ich will auch, dass mir jemand sagt, „was ist“. Was ich dann daraus mache, kann man mir ja als mündigem Bürger selbst überlassen – oder nicht?

Ulf Poschardts Individualismus ist für mich persönlich nichts. Und natürlich macht Poschardt viel Werbung für mehr Individualismus. Aber das heißt nicht, dass das, was er tut, nicht auch bereichernd für mich sein kann.

Wie Augstein und Strauß

Er kommt auch damit klar, dass ich ihn als Linker hier und da kräftig angreifen und am nächsten Tag trotzdem wieder sagen kann: In diesem und jenem Punkt stimme ich zu. So in etwa haben das schon Rudolf Augstein und Franz-Josef Strauß miteinander gehalten. Ich finde, so etwas ist eine gute Kultur. Wo man sich treffen kann, das ist etwa der Existenzialismus des Ernstes für die eigene Sache. Wenn selbstbewusste Individuen wissen, was sie wollen, und dafür argumentieren können, dann können sie sich auch sinnvoll reiben und ja, eben zu Kompromissen und sogar Konsens kommen. „Der zwanglose Zwang des besseren Arguments“ (Jürgen Habermas) – das ist etwas, wogegen sich selbstbewusste Individuen nicht stellen können, aber auch nicht stellen wollen. Das unterscheidet sie von den linken und linksliberalen Opportunisten und den rechtspopulistischen Ressentimentschürern. Die selbstbewussten Individuen sind in ihrer ganzen Existenzialität also sich immer bewusst, was sie tun und wofür sie sich letztlich ins Offene und ins Risiko wagen.

Das ist eine Stärke. Und die wohl stärkste Stelle von Ulf Poschardts Buch ist folglich auch genau die, an der er über die toten Fahrer der früheren Formel 1 erzählt, die existenzielles Risiko einzugehen bereit waren. Da drängt sich dem Leser auf, was Poschardt will. Er will den Helden, der jenseits aller Ordnung auftritt und verkündet: Souverän ist, wer die Ordnung zerschlägt. Bei seinem PS-Liberalismus kommt Poschardt auch langsam zum wahren Punkt all seiner Bestrebungen. Poschardt kann nämlich ohne seine Technik-Ästhetik und sein Verständnis davon, was man mit dieser Technik als selbstbewusstes Individuum alles machen kann, nicht denken. Einige fragen sich ja sicher auch schon länger, was das mit Poschardt und dem Porsche eigentlich auf sich hat. Worin besteht diese Liebesbeziehung?

Ein Ästhet des Industriezeitalters

Es ist eigentlich einfach. Porsche baute nicht ohne Grund mit dem „Porsche 356“ im jungen Nachkriegsdeutschland das schönste jemals gebaute Auto. Die Anmut dieser autohaften Existenz war ein Versprechen des Wirtschaftswunderlandes: Wir bringen Technik und Stil in eine neue Ära. Wir bauen etwas Neues auf, eine neue Moderne, und sie wird nie mehr so kalt sein wie die Paläste der Nazis, nie mehr so obszön wuchtig und standardisiert wie Hitlers machtpolitische Großbauten. Der „Porsche 356“ war ein Statement und selbst Ausdruck von einer neuen Kultur.

War der Käfer noch im Nazireich entworfen und von einem Biedermeier des Taylorismus geprägt, steht der Porsche 356 für eine neue Zeit. Eine Zeit, da standardisierte Industrieproduktion auch ein Licht in die Welt bringen soll. Dieses Licht besteht im Anblick dessen, was produziert wurde und bei dem das Nützliche und Funktionale nun nicht mehr alles waren. Mit dem Porsche 356 wurde vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte Freiheit gebaut. Das ist die Freiheit, die Ulf Poschardt im innersten Kern seiner Existenz nachstrebt: Freiheit als Ausdruck. Freiheit als Statement. Er ist ein Ästhet des Industriezeitalters. Wenn er nicht Chefredakteur der Welt wäre, müsste man ihm eine Professur für die „Ästhetik der Technik“ an der Universität der Künste in Berlin geben.

Er kann nicht anders

Technik berauscht ihn. Ästhetik leitet ihn. Freiheit treibt ihn. So wie er sich an einem Porsche berauschen kann, so kann er sich aber auch daran berauschen, diesen Porsche mit 250 Km/h über die Autobahn zu jagen.

Ulf Poschardt ist jemand voller Leidenschaft und voller Enthusiasmus. Ich muss seinen Individualismus nicht richtig finden. Aber ich darf anerkennen, dass jemand für seine Sache brennt. Ich darf ihm zusprechen, dass er offen, aufrichtig und riskant sein Gesicht zeigt. In Zeiten, wo man oft lieber maximal ängstlich so spricht, dass man eine Linie bei jemanden mit der Lupe suchen muss, da geht Poschardt mit vollem Risiko raus und sagt: Hier stehe ich und kann nicht anders. Dieses Existenzelle, dieses Aufrichtige, das gefällt mir. Man darf es auch ohne Zweifel „Mündigkeit“ nennen.

 

Ulf Poschardt: „Mündig“ (Klett Cotta, 20 Euro)

Nils Heisterhagen ist Sozialdemokrat und Publizist. Gerade erschien von ihm „Verantwortung“ im Dietz-Verlag.