Gunnar Hinck erforscht in seinem Buch „Wir waren wie Maschinen“ den Linksradikalismus der 70er Jahre. Seine Analyse ist erfrischend unvoreingenommen und schonungslos. Schaudernd erkundet er die Wahnwelten einer Sektenbewegung.

Seit 1977 gibt es in der deutschen Publizistik eine besondere Tradition, einen Ritus, der sich alle zehn Jahre wiederholt. Man gedenkt dem 2. Juni 1967 und seinen Folgen. Die Protagonisten von einst sind Pensionäre oder tot, die Mystifizierung abgeschlossen.

Anfangs wurden bei diesen Jubiläen fast ausschließlich Loblieder gesungen. Mittlerweile hat sich auch der Gegenmythos etabliert: Die Studentenrebellion als Wurzel allen Übels. Und gelegentlich kann man sogar differenzierte, kritische und selbstkritische Betrachtungen lesen.

Die damaligen Proteste der akademischen Jugend hätten – so das immer noch vorherrschende Narrativ – die muffige Adenauerpublik durchlüftet, die Naziväter zur Rede gestellt und den Weg in das liberale, tolerante und weltoffene Deutschland eröffnet, in dem wir heute glücklicherweise leben.

Sittenwächter? Beatles, Miniröcke, Rolling Stones und Bluejeans!

Gleich am Anfang seines Buches (das bereits 2012 erschienen ist und ich leider erst jetzt durch eine Rezension entdeckte) räumt Gunnar Hinck mit dieser Legende auf. 1967 hatten alte Nazis, katholische Sittenwächter und verkniffene Hausmeister ihre Vormachtstellung im geistigen Klima Westdeutschlands bereits eingebüßt. Allerorten sprießte Reformfreude, Aufklärung und Experimentierlust.

Juristen wie Fritz Bauer hatten das Schweigen über die Verbrechen der Nazizeit gebrochen und jungen Journalisten zerrten die Untaten ans Licht. Eine SPD, die damals noch für Fortschritt stand, war Teil einer großen Koalition und startklar, um schon bald den Kanzler zu stellen.

Die sauertöpfische Sexualfeindlichkeit kirchlicher Würdenträger wurde zunehmend als lächerlich wahrgenommen. Beatles, Miniröcke, Rolling Stones und Bluejeans prägten die Jugendkultur. Und die gar nicht so seltenen Liberalen unter den Älteren hörten Jazz, interessierten sich für moderne Kunst und respektloses, linkes Kabarett.

Stimmt schon, die Achtundsechziger setzten noch einen drauf, indem sie mit revolutionärem Eifer alle erstarrten Strukturen in Frage stellten. Sie waren jedoch eher Beschleuniger als Vorkämpfer. Mit dem antiautoritären Aufbegehren der Jahre 67/68 befasst sich Hinck jedoch nur kurz. Darüber gibt es massenweise Bücher, Filme und vor allem zahllose Zeitungsartikel. Viele davon leider mit einem Ich-war-dabei-Veteranenstolz durchtränkt.

Wie konnte aus mehr Freiheit geistiger Frost werden?

Dass in einer gesellschaftlichen Umbruchsphase die studentische Jugend mehr Freiheit einfordert und die Autoritäten provoziert, bedarf keiner Erklärung. Das ist normal und gut so. Sonderbar ist dagegen, wie es weiterging. Dazu gibt es wenig Literatur, und dort setzt Hincks historische Investigation an. Warum, fragt er sich, wurde aus einem antiautoritären Frühling innerhalb kürzester Zeit ein geistiger Frost, der bis in die 80er Jahre andauerte? Seltsamerweise erfasste diese dogmatisch verbissene, totalitäre Bewegung mehr Jugendliche als die vorausgehende antiautoritäre und eher lustbetonte Revolte.

Denn während in den Jahren 67/68 aus heutiger Sicht erstaunlich wenige Studenten an den Aktionen von SDS und APO teilnahmen (denkt man an die enorme Resonanz in den Medien und die aufgeschreckten Politiker von damals), schlossen sich in den 70er Jahren Hunderttausende Jugendliche linksradikalen Gruppen an, und dies nicht nur in den Universitätsstädten, sondern bis in die tiefste Provinz, nahezu überall in Westdeutschland. Historiker schätzen die Zahl der 67/68 von der Studentenrevolte erfassten auf zirka 20.000, hauptsächlich in Berlin, Frankfurt, München, Hamburg und Heidelberg (der SDS hatte 2.500 Mitglieder). Die Zahl der Jugendlichen, die in den 70er Jahren in linken Sekten oder deren Umfeld aktiv waren, wird auf 200.000 bis 250.000 beziffert. Das ist heute so ziemlich vergessen.

Hinck ist nicht der erste, der dieses soziale Phänomen untersucht. Gerd Koenen, Wolfgang Kraushaar und ein paar andere haben exzellente Bücher darüber geschrieben. Doch Hinck ist der erste, der diese Zeit ungetrübt durch eigene Erinnerungen ganz von außen betrachtet. Als 1974 Geborener kann er die Irrungen von damals so distanziert untersuchen wie ein Biologe die Fauna eines Tümpels.

Trau keinem Ex-K-Gruppen-Mitglied

Beim Lesen von Büchern über historische Epochen frage ich mich oft, wie viel von der Zeit des Autors darin steckt. Man kennt das ja aus Filmen. Egal ob sie im Mittelalter, der Römerzeit oder im Wilden Westen spielen: Stets sieht man ihnen an, in welchem Jahrzehnt sie gedreht wurden. Die alten Römer von 1960 sehen ganz anders aus als die von 2000. Wer weiß schon, was die alten Römer im Innersten bewegte. Als ich „Wir waren wie Maschinen“ las, staunte ich, wie genau ein Autor einen Zeitgeist erfassen und beschreiben kann, den er nie selbst erlebt hat.

Ich gehöre zum Rattenschwanz von 68, zu den Schülern, die den Studenten noch im Kindesalter begeistert hinterhergerannt sind. Den Linksradikalismus der 70er-Jahre habe ich dann als Schüler und später als Student ausgekostet. Aus dieser Zeit nahm ich eine Lebensregel mit: Traue keinem, der mal in einer K-Gruppe war. Das hat sich nicht immer, aber sehr häufig bewährt, als ich später in den Chefetagen von Firmen, Zeitungen, Sendern, Instituten und Parteien auf ehemalige K-Gruppen-Funktionäre stieß.

Von allen Politsekten der 70er Jahre befasst sich Hicks am intensivsten mit den K-Gruppen und speziell mit der sozialen Deformation ihrer Mitglieder. Historischer Einschub: Als K-Gruppen bezeichnet man die stalinistischen Kaderorganisationen, die sich an China orientierten (die DKP trug zwar auch ein „K“ im Namen, gehörte als Moskau-treuer Zweig des Stalinismus aber nicht dazu). In diesen Organisationen herrschte Gruppendruck à la Scientology und ideologischer Dogmatismus wie bei den Salafisten. Dennoch wirkten sie auf Hundertausende Jugendliche anziehend. Hinck fragt, warum im damaligen eher hedonistischen Sex-Drugs-Rock’n’Roll-Umfeld der Mehrheitsjugendkultur Zigtausende ausgerechnet dem Stalinismus verfielen, dessen Massenmorde und sonstigen Verbrechen jedem bekannt sein konnten.

Die Psychoanalyse als Erklärung?

Er spielt verschiedene Erklärungsansätze durch und präferiert am Ende einen psychoanalytischen. Die linken Sektierer seien „gebrochene Bürgerkinder“ gewesen, die nicht unter zu autoritären, sondern unter abwesenden oder schwachen Vätern litten. Anhand zahlreicher Biographien zeigt er auf, dass etliche der führenden Köpfe aus Familien stammten, die durch den Krieg, Vertreibung oder Flucht aus der DDR auseinandergerissen und neu zusammengesetzt worden waren.

Dabei kann ich dem Autor nicht folgen, denn für meinen Geschmack überschätzt er die segensreiche Wirkung „intakter Familien“. Schon mehrere Umzüge im Kindesalter genügen ihm als Indiz, um Zerrüttung zu diagnostizieren. Meiner Erinnerung nach stammten die Jugendlichen im linksradikalen Milieu aus allen Varianten von Familien, von desolat bis bieder.

Mir hat eine Diagnose von Ernst Bloch besser gefallen, den Hincks zitiert: „Mitten in der Konsumgesellschaft, mitten in der Wohlstandsgesellschaft brechen Revolutionen aus, weil die Langeweile, genau wie die Not, in sich einen Anstoß enthält, mit ihr zu brechen. Ein sinkendes Leben tritt ein, ein verfettetes Leben: Routine, Establishment, Verfestigung, die auch noch Stabilität ist – all das kann einen Anstoß geben.“ Dafür spricht, dass den Ende der 40er- und in den 50er Jahren Geborenen nach dem Abitur ein ordentlich bezahlter, fester Mittelschichtsjob so gut wie sicher war. Sie waren Aufsteiger, nicht Abgehängte.

Kein Bruch mit den Vätern, aber überall Nazis

Völlig richtig beschreibt Hinck hingegen, dass ein offener Konflikt mit Nazivätern eher selten vorkam. In den meisten Familien wurde nie über konkrete Taten der Eltern im NS-Staat und im Weltkrieg gesprochen. Geleichzeitig wurde die Bezeichnung „Nazi“ ausgiebig als Schimpfwort verwendet für alles und jeden. Die Amerikaner in Vietnam waren „Nazis“, Strauß war ein „Nazi“, jeder Straßenbahnkontrolleur war ein „Nazi“. Obendrein hatten sich die jungen Antifaschisten die gleichen Feinde ausgesucht, wie ihre Eltern: Amerika und Israel (und im Falle der chinatreuen K-Gruppen auch die Sowjetunion). Von einem Bruch mit den Vätern, eines der beliebtesten Achtundsechziger-Narrative (bis hin zur pathetischen Formel von der „demokratische Neugründung der Bundesrepublik“) konnte in den allermeisten Fällen kaum die Rede sein.

Wenn Hincks die emotional vergiftete Sektenwelt der K-Gruppen und der DKP seziert, fühle ich mich wohlig bestätigt. Hab’ ich’s doch schon damals gewusst und bin nicht auf die reingefallen. Im Gegenteil, meine teils undogmatischen, teils trotzkistischen Genossen und ich betrachteten sie als Gegner, die alle humanen und freiheitlichen Ideale der Linken verraten hatten. Wesentlich unwohler wurde mir jedoch beim Lesen der Passagen, in denen Hinck sich meinesgleichen von damals vornahm, die Undogmatischen, Spontis und Anarchos. Denn da neige ich selbst zur veteranenhaften Verklärung. Schließlich waren wir Anti-Stalinisten, lehnten die DDR ab, hielten nichts von Mao, hatten viel Sinn für Spaß und Ironie und ließen den Lebensgenuss nie zu kurz kommen. So erinnere ich die Zeiten gern. Leider waren sie nicht ganz so.

Gewaltkult und Spontifürsten

Es herrschte ein Gewaltkult, der einen in der Rückschau erschaudern lässt. Die Grenzen zu den Terroristen von RAF, Bewegung 2. Juni und Revolutionäre Zellen waren fließend, die Solidarität mit den „Genossen in der Illegalität“ mindestens bis Mitte der 70er Jahre unerschütterlich. Und von wegen antiautoritär: Die K-Grüppler hatten straffe Hierarchien, wir hatten die „Spontifürsten“, die durch ihr rücksichtloses, machohaftes Auftreten bestimmten, wo’s langging. Eine typisches Gewächs dieser Mischung aus Politrockertum und Mafiapatenattitüde ist der spätere Außenminister Joschka Fischer.

Völlig verdrängt und vergessen ist die Rolle einer anderen Frankfurter Größe aus dem Transitraum zwischen Barrikadenkämpfern und Killern: Karl Dietrich Wolff. Aus den beiden engsten Mitarbeitern und Freunden des Ex-SDS-Vorsitzenden wurden Mörder: Wilfried Böse und Johannes Weinrich. Zur Erinnerung: Böse war es, der bei einer Flugzeugentführung in Entebbe die jüdischen Passagiere „selektierte“. Wolff schaffte es, dass seine Rolle dabei nie genauer beleuchtet wurde. Er ist ein angesehener Frankfurter Bürger, Bundesverdienstkreuzträger und gilt als Literatur-Connaisseur und Feingeist. Es ist verdienstvoll, dass Hinck auch diese Geschichte ausgegraben hat, neben vielen anderen Lebensläufen militanter Antidemokraten, die in den 80er Jahren dann geschmeidig ins Establishment wechselten.


Gunnar Hinck
Wir waren wie Maschinen. Die bundesdeutsche Linke der siebziger Jahre.
Rotbuch 2012
464 Seiten
15,99 Euro