In der Corona-Krise werden zahlreiche Grundrechte eingeschränkt – weil es nicht anders geht. Eine Replik auf Johannes C. Bockenheimer

Keine Frage, es sind schwierige Zeiten: Für die Gesellschaft insgesamt, für das Individuum, und auch und besonders für den politischen Liberalismus. Der ist fraglos unter Beschuss, wenn auch nicht ganz in der Art, wie der geschätzte Kollege Bockenheimer dies in seinem Text Ein mieser Tag für die Freiheit dargestellt hat. Es waren in Wirklichkeit nicht die gestern in Bayern verhängten Ausgangsbeschränkungen, die den Autor dieser Zeilen dazu gebracht haben, sein freiheitliches Gesellschaftsideal zu hinterfragen. Um das liberale Menschenbild zu erschüttern, brauchte es leider nur die Menschen selbst.

Denn Liberalismus meint nichts anderes, als auf das Verantwortungsbewusstsein des Menschen, seine Vernunft und seine Einsicht zu vertrauen und Gesellschaft und Staat auf diesem Grundvertrauen fußen zu lassen. Freie Hand für freie Bürger, amirite?

Lasterweise Särge

Aber gelb ist alle Theorie, die letzten Tage und Wochen haben Demut gelehrt. Während in Italien Militärlaster die Särge von Covid-Toten aus überfüllten Leichenschauhäusern abtransportierten, pflegten die Deutschen ungerührt ihre perverse Variante des Frühlings-Dolce-Vita. Sie fläzten sich zu Hunderten an die Isar, grillten frohgemut an, feierten „Coronapartys“ (schon jetzt ein heißer Kandidat für das Unwort des Jahres) und löffelten genüsslich ihre Eisbecher, weil ihnen das gerade so frommte und sie es erkennbar nicht vermochten, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Kurzum, in einer einschneidenden Krisensituation, deren Überwindung vom Einzelnen ein bescheidenes Minimum an Einsatz und Beschränkung erfordert hätte, erbrachten sie: exakt nichts. Markus Söder hatte recht, als er von einem Charaktertest sprach.

Sicherlich ist gesellschaftlicher Hedonismus kein Freibrief für staatliche Willkür. Und natürlich sind es auch nicht „die Deutschen“, die einander bei Arbeit, Sport und Spiel weiter unbeirrt in die Atemwege husten, sondern es ist eine unbelehrbare, aber im wahrsten Sinne des Wortes sichtbare Minderheit.

Schutz für die Mehrheit

Aus dem klassisch demokratischen Mindset des Schutzes von Minderheiten aber darauf zu schließen, dass einer Einschränkung von deren Rechten jetzt zuerst eine lange und ergebnisoffene Debatte vorauszugehen habe, verkennt die Situation, in der wir uns befinden. Es geht nicht um Stiefkindadoption, Spitzensteuersätze oder Umweltauflagen, es geht mithin nicht um den demokratischen Interessenausgleich konkurrierender gesellschaftlicher Gruppen. Es geht um Leib und Leben der Gesellschaft als Ganzes, und die vernünftige Mehrheit muss diesmal vor der unvernünftigen Minderheit geschützt werden. Den Charaktertest bestehen wir alle, oder wir fallen durch.

Natürlich kann man keinem Liberalen gesteigerte Wachsamkeit gegenüber dem Staat zum Vorwurf machen. Galoppierender Paternalismus ist schließlich kein neues Phänomen, und allzu oft schon wurde er mit angeblichen Gefahren für die „gesamte Gesellschaft“ begründet. Wir haben gesehen, wie versucht wurde, die Grauzone des demokratischen Kompromisses zugunsten einer klaren Schwarz-Weiß-Trennung aufzulösen, und wir sind zurecht misstrauisch.

Verbote sind kein Selbstzweck

Aber dieses Denken stößt dort an seine Grenzen, wo wir es tatsächlich mit einer objektiven Gefahr für die gesamte Gesellschaft zu tun haben. Mit kritischen Nachfragen und Ordnungsrufen ist es in echten Krisenzeiten nicht getan. Der Soziologe Armin Nassehi sprach kürzlich in einem Radiointerview von Resten des autoritären Charakters, der in einigen Landsleuten durchbreche:

„Also man unterlässt die Dinge, die man unterlassen soll, tatsächlich nur, wenn sie wirklich explizit verboten werden.“

Und so werden sie verboten.

Der Moment für den politischen Diskurs und für die Analyse der getroffenen Maßnahmen wird zweifellos kommen – spätestens, wenn die Beschränkungen wieder gelockert werden.

Aber dieser Moment ist nicht jetzt. Jetzt ist es Aufgabe der Politik, die Gesundheit der Bürger mit allen erforderlichen Mitteln zu schützen, egal wie drastisch die auch sein mögen. Gut möglich, dass das südkoreanische Modell bei uns genauso hätte funktionieren können und dass es generell noch bessere Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus gibt. Wer kann das schon mit Sicherheit sagen? Klar ist aber: Die müßige Diskussion darüber kostet wertvolle Zeit – Zeit, die uns den Schreckensbildern aus Italien näherbringt.

Verkehrte Welt in der Politik

Wie gesagt: Es ist eine eigenartige Epoche, in der wir leben. Wir werden Zeuge, wie Saskia Esken ihr Herz für die freiheitliche Gesellschaft entdeckt, während der von Ulf Poschardt so betitelte „angstfreie Hooligan“ Benedikt Brechtken von den Julis auf Twitter zurecht nach dem Staat ruft.

Verwirrung kann darin aber nur erkennen, wer das Ziel aus dem Blick verliert. Brechtken sagt nicht, dass der Markt allein nicht reicht, weil er nicht mehr an das Vernünftige im Menschen oder die ordnende Wirkung der vielen verbundenen Eigennutze glaubt. Ganz sicher sagt er es nicht, weil er plötzlich überzeugt wäre, dass der Staat im Zweifel alles besser kann als das Individuum.

Aber er weiß: Auch wenn ohne liberale Gesellschaft kein Staat zu machen ist, braucht auch die liberale Gesellschaft einen Staat. Sie braucht eine Ordnungsmacht, der man im Frieden auf die Finger schaut und die in Not- und Krisenzeiten dennoch zielstrebig reagieren kann. Zur staatsbürgerlichen Verantwortung zählt es auch, zwischen beiden unterscheiden zu können.